Die Kabel des Religiösen

Ausstellung Die erste große Werkschau in Deutschland überhaupt: Thomas Struth kehrt mit Bildern aus dem luhmannesken Themenpark nach Düsseldorf zurück

Manche Fotografien von Thomas Struth möchte man lieber nicht tiefer interpretieren. Sein Familienporträt The Schirmer Family etwa gruppiert drei Söhne um die im Sessel sitzende Mutter. Die bescheiden blickende Frau trägt fast kokett einen blauen Schal um den Hals, die drei erwachsenen Männer haben sich dieser Farbvorgabe angepasst. Wenn man weiß, dass Struth nur auf den frontalen Blick in die Kamera besteht, Raum, Haltung und Kleidung aber den Abgelichteten überlässt, frösteln den Betrachter die möglichen Deutungen – bis er merkt, dass er in eine dialogische Konfrontation mit den abgebildeten Personen schon geraten ist.

Die Werkschau in der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW zeigt, dass das Credo des Regisseurs Howard Hawks – Kamera auf Augenhöhe – auch für die Aufnahmen von Thomas Struth gelten könnte. Es findet sich kein extremer Blickwindel in den Fotos des in Geldern geborenen Fotografen, sondern durchweg die planimetrische Entwicklung des Gegenstands. Soll man das eine demokratische Blickform nennen?

Struths Fotos denken den Wahrnehmungsakt selbst mit, am deutlichsten in seinen Aufnahmen von Betrachtern vor berühmten Kunstwerken im Museum. Da stehen sie andächtig vor Géricaults Floß der Medusa, Kinder reißen Augen und Mund auf; in den Raffael-Räumen im Vatikanischen Museum herrscht Gedränge wie auf dem Bahnhof. Und wenn bei Vermeers Lautenspielerin in der National Gallery mal kein Besucher zu sehen ist, entdeckt der Betrachter sich selbst als Spiegelbild im Glas des Rahmens. Dass Struths großdimensionierte Fotos selbst als Kunstwerke im Museum hängen, macht den hermeneutischen Zirkelschluss perfekt.

Gurskys Dimensionen

Es ist die erste große Werkschau des 56-jährigen Fotografen überhaupt in Deutschland. In Düsseldorf, wo Struth bei Gerhard Richter Malerei und bei Bernd und Hilla Becher Fotografie studiert hat, wird sie zu einer Art Rückkehr – erstmals wird ein Konvolut von Aufnahmen Düsseldorfer Straßen gezeigt. Schwarzweiß, zentralperspektivisch, menschenleer, erkennt man schnell den Einfluss der Bechers.

Die von Annette Kruszynski kuratierte Schau versammelt Beispiele aus allen Motivreihen; man wähnt sich in einem luhmannesken Themenpark. Struth rückt die Subsysteme der Gesellschaft ins Bild, ob in den Museum Photographs die Kunst, in den Urwaldbildern Paradise die Natur, in den Familienbildern die Gesellschaft oder in neuen Arbeiten die Wissenschaft – immer unter der Prämisse des Sehakts zwischen Unterwerfung, Analyse und Glauben. Die Aufnahme eines wissenschaftlichen Fusionsreaktors Tokamak Asdek Upgrade Periphery inszeniert im detailreichen Kabel- und Röhrengewirr eine fast religiöse Undurchdringlichkeit.

Irritierend dagegen die Aufnahme einer südkoreanischen Schiffswerft, die sich als gigantische rote Arbeitsplattform am Kai erhebt und den Mann im Vordergrund zum Nichts schrumpfen lässt. Mit 2,79 mal 3,49 Meter gehört der Abzug zu den größten, die Struth bisher realisiert hat. Der Monumentalismus erinnert an Arbeiten Andreas Gurskys und scheint die Idee von Kunst als Wahrnehmungsrelation der Museum Photographs zurückzunehmen. In Düsseldorf ist eben auch ein Klassiker zu besichtigen.

Thomas Struth. Fotografien 19782010 Kunstsammlung NRW, Düsseldorf. Bis 19. Juni, der Katalog kostet 29,80 Euro

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