GÜNTER GAUS: Wenn man sich heute den Umgang des Westens mit dem von Grund auf veränderten Russland und Osteuropa ansieht, was ließe sich da aus der entscheidend von Ihnen geprägten Vertragspolitik der siebziger Jahre lernen?
EGON BAHR: Es gibt zwei Dinge, die für mich die wichtigsten sind. Erstens - das Prinzip des Gewaltverzichts bei der Veränderung bestehender Grenzen - ein Schlüsselpunkt, der übrigens auch für Jugoslawien und den ganzen Balkan notwendig ist, will man dort eine Stabilitätszone schaffen ...
Haben wir diese Prinzip nicht schon verletzt?
Jawohl, wir haben es verletzt. Und wenn wir über Stabilität nur unter dem Aspekt von wirtschaftlichen Investments reden, wird daraus nie etwas werden. Wir müssen zurück zum Prinzip des Gewaltverzichts und der Anerkennung bestehender Grenzen, egal wer sie gezogen hat. Und wir müssen das ergänzen durch die Rechte der Minderheiten auf jeder Seite jeder Grenze. Der zweite Punkt: Die Deutschen müssen sich selbst bewegen und ihre Interessen definieren.
Die Interessen der nun staatlich vereinigten Deutschen ...
So ist es, der nun vereinigten Deutschen. Wir haben bei allen Veränderungen etwas Unverändertes, nämlich die Geographie. Jawohl - Amerika ist die Supermacht geworden, aber Russland ist groß geblieben. Beide Mächte sind die einzigen, die sich mit Atomwaffen tödlich verletzen können. Das heißt, unter diesem nuklearen Schirm kann das Interesse Amerikas nicht gleichbedeutend mit dem deutschen Interesse sein. In der Zeit der Vertragspolitik der siebziger Jahre haben die Amerikaner gesagt, wenn die Deutschen versuchen wollen mit Gewaltverzicht etwas zu machen, schaden kann es ja nicht, wir sind immer noch mit unseren Bizeps da.
Das gilt nach wie vor.
Ja, aber wenn ich heute den Amerikanern sagen würde, akzeptiert doch einen Vertrag über Gewaltverzicht, dann sagt mir Madame Albright, wozu hat man die beste Armee der Welt, wenn man sie nicht benutzen darf.
Was haben wir nach 1990 im Umgang mit den USA falsch gemacht, dass es soweit gekommen ist? Zugespitzt, ist das vereinigte Deutschland gegenüber Washington in eine Rolle geraten wie die DDR gegenüber Moskau - nur mit anderen Umgangsformen?
Erstens mit einem anderen Lebensstandard, zweitens mit anderen Umgangsformen, drittens - was den Mut angeht gegenüber dem Freund - mit dem gleichen Problem.
Fehlt uns der Mut, den Honecker gegenüber Moskau 1983 in der Raketenfrage hatte?
Ja, der war größer als der, den Kohl hatte gegenüber Washington.
Was wurde da vertrags- und außenpolitisch falsch gemacht bei der Aufhebung der Teilung Europas?
Nein, ich glaube, dass außenpolitisch bei der deutschen Einheit alles richtig gemacht wurde ...
Sicher. Um sie herbeizuführen - aber nachdem sie herbeigeführt und der Warschauer Pakt aufgelöst war, gab es da eine deutsche Selbstzufriedenheit über die Einheit und danach einen deutschen Dünkel, ohne Konsequenzen für das Verhältnis zwischen Deutschland und Europa zu ziehen?
Wir haben es versäumt, unsere Interessen zu definieren, und stattdessen erlebt, dass Herr Rühe gesagt hat, man solle die NATO erweitern, was die Amerikaner zuerst überhaupt nicht wollten. Sie haben stattdessen die "Partnerschaft für den Frieden" vorgeschlagen, bis sie dann zu dem Ergebnis kamen, es sei für sie vielleicht vorteilhaft, die NATO nach Osten auszudehnen.
Ein falsche Entscheidung ...
Natürlich, weil noch immer nicht definiert ist, bis wohin die NATO eigentlich erweitert werden soll ...
Die Frage ist doch: Haben wir in Europa ein Gefühl dafür, die Gegnerschaft zum Osten durch Partnerschaft zu ersetzen? Wenn ja, dann darf man nicht drücken und drohen, was jetzt auf beiden Seiten geschieht. Ich bin wirklich beunruhigt, dass wir am Vorabend einer neuen konfrontativen Politik stehen - mit einer neuen Rüstungsspirale.
Zur Vertragspolitik, wie sie Willy Brandt eingeleitet hat, gehörte die Fähigkeit, ein Überlegenheitsgefühl der Deutschen gegenüber dem Osten abzubauen. Aber wie lassen sich die mit diesem Gefühl verbundenen Fehler nicht wiederholen? Wenn ich sehe, was wir beim Kosovo-Konflikt politisch und publizistisch für Frontstellungen bezogen haben, und genau wussten, wer der Böse und wer der Gute ist - brauchen wir da nicht eine Neuauflage der Ostpolitik, wie sie von Brandt ausging?
Wir haben ja mit dem nicht erklärten Krieg gegen Jugoslawien gezeigt, dass wir vor Rückfällen nicht gefeit sind. Andererseits muss ich sehen, dass die deutsche Regierung die einzige in der NATO gewesen ist, die entgegen der beschlossenen Strategie des Bündnisses - Bomben bis zur bedingungslosen Kapitulation Belgrads - gewagt hat, einen eigenen Fünf-Punkte-Plan zu entwickeln, um die Russen wieder ins Boot zu bringen und die Akzeptanz der Chinesen zu erwirken. Das hat den Schritt vom Wege, ohne Mandat der UNO zu intervenieren, nicht rückgängig gemacht, aber doch in Maßen relativiert.
Das heißt, in diesem Fünf-Punkte-Plan kam das Völkerrecht wieder vor ...
Ja, Gewaltverzicht und diplomatische Bemühungen zur Beendigung dieses Krieges hätte es ohne die deutsche Regierung nicht gegeben. Ich hoffe, dass sie daraus gelernt hat und mutig bleibt.
Das Völkerrecht wurde sehr oft zur Hure der Machtpolitik gemacht. Eine linguistische Hilfswissenschaft, das heißt, wenn sechs Begriffe verbraucht sind und dir fällt noch ein siebter ein, und alle einigen sich darauf, dann hat man einen neuen Völkerrechtsbegriff. Mit anderen Worten, das Völkerrecht ist eine sehr schwimmende Größe, dennoch ist es die einzige Möglichkeit, zwischen Staaten ein Verhältnis zu begründen, das nicht auf blanker Gewalt beruht. Stehen wir in der Gefahr, diesen Vorzug zu verspielen wegen des so kleidsamen Postulats: Menschenrecht bricht Völkerrecht? Sind wir nicht dabei, in eine Art zwischenstaatliche Anarchie zu fallen?
Selbstverständlich sind wir in dieser Gefahr. Wir drohen, in das Chaos der gerechten Krieges zurückzufallen, wenn wir die Menschenrechte über alles stellen - auch über die Rechte der Staaten und über den Frieden. Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts, hat Willy Brandt einmal gesagt. Für Amerika scheint noch nicht geklärt zu sein, ob es sich einer Weltordnung anschließen will - wobei Ordnung bedeutet, dass es die Regeln der Ordnung akzeptiert - oder sich freie Hand lassen will, um zu tun, was es in seinem Interesse für richtig hält. Das richtet sich aber gegen das Interesse Europas und unseres eigenen Landes und bedeutet auch, dass man Amerika gegenüber nein sagen muss.
Das ist das Ende der NATO.
Das Ende des Vasallentums. Die NATO als Instrument würde ich nicht angreifen. Die NATO gestattet uns zu sagen, ob wir an einer Aktionen teilnehmen. Und die deutsche Regierung sollte sagen, dass wir uns unter keinen Umständen an irgendeiner Intervention ohne Mandat der UNO oder ohne Auftrag der OSZE beteiligen.
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