Die Länge und Schärfe der Messer

Selbstverteidigung oder Krieg? Erst einmal muss der ewige Teufelskreis gegenseitiger Vergeltungsschläge durchbrochen werden

Bomben fallen auf unschuldige Zivilisten im Libanon, in Gaza und in Nordisrael. Warum? Man muss sich der Geschichte versichern, um zu verstehen, was geschieht. Zu verstehen heißt allerdings nicht, zu verurteilen oder zu verzeihen, es geht vielmehr darum zu verhindern, dass immer wieder von Neuem geschieht, was wir im Augenblick erleben.

Palästina ist das Opfer jenes Siedler-Kolonialismus, den England schon in den nordamerikanischen Kolonien praktiziert und stets als ein Recht hochgehalten hat - mit der Balfour-Deklaration von 1917 wurde es auch britischen Zionisten zugestanden. Kolonialminister Lord Balfour versicherte seinerzeit Lord Rothschild, dem Vorsitzenden der jüdischer Gemeinden in England, die Regierung des Vereinigten Königsreiches erkenne Palästina als Heimstatt des jüdischen Volkes an.

Jemand soll einmal nach 1945 einem Deutschen vorgeschlagen haben, da Deutschland für den Holocaust verantwortlich sei, sollte eigentlich ein jüdischer Staat in Deutschland aufgebaut werden - als eine Art von Teilentschädigung. Baden-Württemberg hätte die richtige Größe. Der Deutsche protestierte heftig: "Das ist unmöglich! Wohin sollen die Leute, die dort wohnen?" Wer kann nachempfinden, wie die Palästinenser sich fühlten beziehungsweise bis heute fühlen, die bis 1947/48 dort lebten, wo heute das Territorium Israels liegt?

Darf die Hisbollah Libanon verteidigen?

Gewiss kommt da vieles hinzu - die biblische Geschichte, die Heiligen Orte des Judentums, die reale Existenz Israels als Staat seit fast 60 Jahren. Das alles verlangt nach einer Lösung, die es beiden - Israelis und Palästinensern - erlaubt, friedlich im ehemaligen Palästina zusammenzuleben.

Israel hat sich zwar Mitte 2005 aus dem Gaza-Streifen zurückgezogen, hält aber weiterhin die Westbank und Ost-Jerusalem besetzt. Insofern würde - im Sinne der UN-Charta - Palästina das Recht auf Selbstverteidigung zustehen, um sich von einer Besatzung zu befreien, die Ergebnis der Nahostkriege von 1947/48 und 1967 sowie der Politik Israels ist. Schließlich verlangt die UN-Resolution 242 eindeutig den Abzug aller israelischen Kräfte aus den 1967 besetzten Territorien. Nur ist das Problem dabei, dass Palästina als Staat bisher nicht existiert. Es gibt zwar ein Recht auf Selbstverteidigung - doch wem steht es in diesem Fall zu? Den Palästinensern in einem Nicht-Staat? Sie leben als Flüchtlinge verstreut in der Diaspora.

Steht das Recht der arabisch-muslimischen Welt zu? Der Begriff bezieht sich auf viele, untereinander stark verbundene Nationalitäten, die zumeist durch Grenzen voneinander getrennt sind, die einst von westlichen Kolonialmächten ganz nach dem Cäsar-Prinzip gezogen wurden: "divide et impera!" Steht die Selbstverteidigung dem Libanon zu? Wenn ja, dann auch der militärisch am besten ausgerüsteten Formation dieses Landes, der Hisbollah-Bewegung? Oder darf Syrien dieses Recht beanspruchen, weil Israel mit den Golan-Höhen einen Teil seines Hoheitsgebietes besetzt hält?

Oder haben wir es mit einer permanenten Konfliktsituation im Nahen Osten zu tun, bei der Israel seit seiner Gründung im Mai 1948 gegen die arabischen Staaten und inzwischen generell gegen die Muslime Krieg führt? Wenn das so ist, muss man wissen - ein Krieg besteht aus Angriff und Verteidigung. Verteidigung kann in Form eines Vergeltungsschlages stattfinden, der den Aggressor auf seinem Territorium angreift (angreifende Verteidigung), oder als Zurücktreiben eines Aggressors hinter seine Grenzen, ohne diese zu überschreiten (verteidigende Verteidigung). Im modernen Krieg wurde außerdem der Einsatz von Raketen und Bomben aus der Luft üblich - für die postmoderne Kriegsführung das Töten von Zivilisten durch Staatsterror oder nichtstaatlichen Terrorismus.

Dabei ist nicht allein entscheidend, wer angegriffen - wer sich schuldig gemacht hat oder was als "Selbstverteidigung" gelten kann, denn die Konfliktparteien werden sich stets mit allen verfügbaren Mitteln zu verteidigen suchen. Das Problem ist vielmehr der Teufelskreis von wiederholten gegenseitigen Vergeltungsschlägen. Nur wenn der durchbrochen ist, wird es möglich sein, auf den Boden des ungelösten politischen Konflikts zwischen Juden und Arabern zurückzukehren. Aber diesen neuralgischen Punkt wird man nicht erreichen, wenn es "nur" um eine Waffenruhe, eine Deeskalation bei der Wahl der Angriffsziele und des Ausmaßes der Zerstörung geht.

Albert Einstein hat einmal Verhandlungen zur Rüstungsbegrenzung in der Liga der Nationen mit der Debatte eines Stadtrats verglichen, mit der nach einer Reihe von Messerstechereien über die Länge und Schärfe der Messer entschieden wird, die Männer in dieser Stadt bei sich tragen dürfen, wenn sie ausgehen.

Warum keine Gemeinschaft wie die EWG?

Wodurch wurden die langen Kriegszyklen zwischen Deutschland und Frankreich oder zwischen den Mitgliedern des Nordischen Rates beendet? Es waren jeweils gemeinsame zukunftorientierte Vorhaben, von denen sich alle einen Nutzen versprachen und die geeignet waren, die Vorstellungskraft und die Hoffnungen der Beteiligten anzusprechen. Weshalb könnte ein Ausweg für Israelis und Araber nicht in einer "Gemeinschaft des Nahen Ostens" bestehen, in Anlehnung - warum nicht? - an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von 1958, allerdings bei voller Anerkennung eines palästinensischen Staates.

Anfang 1945 befand sich Deutschland noch im Krieg mit 25 Ländern, die es besetzt hatte und denen mit Vernichtung gedroht wurde. Nach dem 8. Mai 1945 waren Versöhnung, Entschuldigung und die Kompensierung der Kriegsschuld der Schlüssel zum Frieden. Deutschland wurde zu einer Säule beim Aufbau der Europäischen Gemeinschaft, ohne dabei eine dominante Rolle zu beanspruchen. Es wäre im Interesse Israels und seiner arabischen Nachbarn gleichermaßen, von dieser Erfolgsgeschichte zu lernen. Alle, die guten Willens sind, sollten daher in dieser jetzigen Krise zusammenkommen, um nach einem gemeinsamen Modell für einen friedlichen Nahen- und Mittleren Osten zu suchen.

(*) Johan Galtung ist norwegischer Friedensforscher und Begründer des Netzwerkes TRANSCEND / Dietrich Fischer ist Direktor des Europäischen Universitätszentrums für Friedensforschung und Ko-Direktor von TRANSCEND.


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