Die Leiche trägt Versace

Grenze Das Kunstmuseum Bern konfrontiert mit einer breit angelegten "Autopsie unseres Umgangs mit den Toten"

An der Kasse warnt ein Flyer vor dem Ausstellungsbesuch: Einige Werke könnten extrem sensible Personen erschrecken. Offenbar hatten auch die üblichen Großsponsoren Bedenken gegenüber dem Thema, die Beschäftigung mit dem Tod schien ihnen für den gewünschten Imagetransfer ungeeignet. Zweifel sind also angebracht gegenüber der These der Ausstellungsmacher, wonach der Tod in den letzten Jahrzehnten eine neue Sichtbarkeit errungen habe. Trotz einiger Symposien und Publikationen, wer sich im Alltag, in den Medien oder in den Künsten umschaut, vermag kaum ein neues Interesse am Tod zu entdecken - sofern man darunter nicht nur die Leidenschaft für Krimis versteht. Vielmehr scheinen eine ganze Reihe von Erkenntnissen, wie sie Phillippe Ariès in seiner Geschichte des Todes im Abendland (1975) ausgeführt hatte, nach wie vor Gültigkeit zu besitzen.

Laut dem französischen Historiker sind der Tod und das Sterben seit dem Mittelalter graduell aus dem Alltagsleben und der Öffentlichkeit verschwunden. Aufklärung und Säkularisierung trugen seiner Meinung nach dazu bei, dass der Tod in der Moderne individualisiert, privatisiert und schließlich medikalisiert wurde. Als Folge dieser Entwicklung sind nicht nur die entsprechenden Rituale - man denke etwa an feierliche Prozessionen - aus der Öffentlichkeit verschwunden, auch die Art des Sterbens hat sich gewandelt. Fast 80 Prozent aller Menschen in den westlichen Gesellschaften sterben heute, häufig allein, in Spitälern und Pflegeheimen, wie eine neuere Untersuchung zeigt. Entsprechend unsicher, wenn nicht traumatisch, ist unser Umgang mit dem Tod geworden.

Eines der berührendsten Werke in der Ausstellung Six Feet Under (der Titel ist einer US-amerikanischen Fernsehserie entlehnt) ist die monumentale Vergrößerung einer Fotografie des 1994 an Aids verstorbenen Künstlers Felix Partz von A A Bronson, Begründer der kanadischen Künstlergruppe General Idea. Das Foto zeigt Partz, in ein festliches Hemd gekleidet, mit bunt gemusterten Wolldecken fürsorglich zugedeckt, auf dem Totenbett, sein magerer Körper, sein eingefallenes, bärtiges Gesicht mit offenen Augen und Mund, sind bereits erstarrt. Auf einem kleinen Tisch links im Bild sehen wir eine Medikamentenschachtel, auf dem Bett liegt eine Fernbedienung, daneben eine Tasche - vielleicht von einem Abschied nehmenden Freund. Nichts an dieser Fotografie ist inszeniert, sie ist reines Abbild, "die erschütternde Emphase des Noemas (Es-ist-so-gewesen)", wie Roland Barthes in Die helle Kammer das Geheimnis der Fotografie zu umschreiben suchte.

Bronson ist der einzige Überlebende des Kollektivs, neben Partz ist 1994 ein weiteres Mitglied an Aids verstorben. Seit Mitte der achtziger Jahre, als die Krankheit vor allem in New Yorker Künstlerkreisen zum Thema wurde, hat sich General Idea intensiv mit der Aids-Problematik auseinander gesetzt. Zweifellos war es die Krankheit Aids, die - zuerst in Schwulenkreisen, später bei weiteren urbanen Schichten - zu einem bewussteren und individuelleren Umgang mit dem Tod geführt hat. Neue Sterbe- und Bestattungsrituale - beispielsweise das Gemeinschafts- oder Baumgrab - sind daraus entstanden, und auch die wachsende Zahl von Sterbehospizen kann als eine direkte Folge der Aidskrise bezeichnet werden. Neben der beinahe unerträglichen Präsenz des toten Partz in diesem Bild ist es die Suche nach einer stimmigen Form des Abschiednehmens, die in Bronsons Arbeit berührt.

Nicht alle Werke der Abteilung "Hommagen: Geliebte und verehrte Tote" gehen dermaßen unter die Haut. Zwar vermittelt insbesondere Die tote Valentine Godé-Darel (1915) von Ferdinand Hodler tiefe Trauer, doch das Medium der Malerei verschafft eine ungleich größere Distanz zum Abgebildeten, weil sie stärker als die Fotografie eine ästhetische Betrachtungsweise, eine Konzentration auf Komposition, Farbgebung und malerische Technik, favorisiert. Hingegen erlauben es die historischen Beispiele in der Ausstellung - etwa der Berner Allerseelenaltar (1506) oder eine Kopie von Holbeins Christus im Grab von Friedrich Walthard - eine Erfahrung sichtbar zu machen: die unwiderrufliche Entfremdung, die der Leichnam verkörpert.

Für den Kunsthistoriker Hans Belting sind der Tod und die damit verbundene Verlusterfahrung sogar der ursprüngliche Impuls zum Bildermachen. "Der Schrecken des Todes liegt darin", so Belting, "dass sich vor aller Augen und mit einem Schlage in ein stummes Bild verwandelt, was gerade noch ein sprechender, atmender Körper war." Während sich das erste Kapitel der Ausstellung mit Fragen der Darstellung, der Repräsentation des Todes und der Toten beschäftigt, die Leiche also recht eigentlich ans Tageslicht zerrt, konzentriert sich der zweite Zugang gerade auf die Abwesenheit des toten Körpers, ja, auf die Rituale und Objekte, die er hervorgebracht hat. Prototypisch für Letzteres sind die kunstvoll gestalteten, figürlichen Särge von Paa Joe und Ata Okoo aus Ghana, die oft auf die Berufe der Verstorbenen verweisen und die gesamte Eingangshalle der Ausstellung einnehmen. Im Vergleich zur europäischen Kultur hat die Bestattung in Ghana einen unglaublich hohen Stellenwert. In ihrem Katalogbeitrag erzählt die Ethnologin Regula Tschumi von den wochen-, manchmal monatelangen Vorbereitungen einer Beerdigung, während die oder der Tote im Leichenhaus tiefgekühlt lagert.

Grund für die aufwendigen und vor allem auch teuren Bestattungsrituale, für die sich viele Familien hoch verschulden, ist der Glaube an die Macht der Ahnen über die Hinterbliebenen und deren Reinkarnation innerhalb der Familie. Nicht zuletzt erhöht eine große Totenfeier ihr soziales Prestige. Auch bei der mexikanischen Künstlerin Teresa Margolles ist der Tod nur indirekt präsent, und doch gehören ihre Arbeiten zu den eindringlichsten der ganzen Ausstellung. Wer sich dem Raum mit ihren "Encobijados" (2006) nähert, riecht die muffig stinkenden Wolldecken schon von weitem. In diese schmutzigen, teilweise mit Klebebändern geflickten Decken, die in einer Reihe der Wand entlang über Stangen hängen, waren Opfer von Gewaltverbrechen eingewickelt. Vitirinen begleiten diese Installation, die Körpersäfte und Gase enthalten, die bei der Obduktion aus dem toten Körper entweichen.

Nicht der Tod selbst, sondern die Trauer steht im Mittelpunkt des Videos A journey to Mum´s Grave (1998-2000) von Sue Fox. Darin filmt die englische Künstlerin sich selbst auf dem Weg zum Friedhof, wo ihre kürzlich verstorbene Mutter begraben liegt. Ihr hemmungsloses Weinen und Schluchzen sind kaum zu ertragen, und in einer Art Abwehrreflex ist man auf Anhieb geneigt, diese Arbeit als exhibitionistisch abzuqualifizieren. Doch liegt ihre Qualität wohl gerade darin, dass sie den Finger auf die unsichtbare Grenze legt, wo öffentlich gezeigte Trauer die Grenze der Zumutbarkeit, zumindest in der westlichen Gesellschaft, überschreitet.

Leicht unterkühlt nähern sich die im Kapitel "Tod und Lifestyle" versammelten Werke dem Thema an. Der dekorativen Auskleidung dieses Raumes nahm sich der Genfer John Armleder an, der die Wände mit abstrahierten Totenköpfen auf goldenem Grund überzogen hat. Dass Tötenköpfe wie jedes andere Emblem modetauglich sind: um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, brauchen wir die Kunst eigentlich nicht. Scheinbar doppelbödig geben sich die schönen Leichen, die der japanische Fotograf Izima Kaoru mit japanischen Models in Szene setzt. Irritierend - und ganz amüsant - ist bei diesen dramatisch komponierten Bildern höchstens, dass dem farblichen Zusammenklang von Interieur und Kleidung höchste Prioriät zukommt, worauf auch Titel wie "Koike Eiko wears Gianni Verscace" verweisen. Diese ins Zynische tendierende Variante der Auseinandersetzung mit dem Tod bleibt in der Ausstellung jedoch die Ausnahme. Zwar ist auch Gianni Mottis Entierro No. 1, in der der Künstler 1989 in der spanischen Stadt Vigo seine eigene Beerdigung inszenierte, nicht über alle Zweifel erhaben. Damals ließ sich Motti in einer gefilmten Performance während der Prozession zum Sankt-Marta-Fest in einem offenen Sarg durch die Straßen tragen. Als er schließlich beim Friedhof die Flucht ergriff, reagierten die Massen empört über diesen blasphemischen Schabernack.

Die große Mehrzahl der über 80 künstlerischen Positionen nähert sich dem Thema Tod mit großer Ernsthaftigkeit an. Ein schönes Beispiel für den subtilen Zugang sind die Arbeiten der thailandischen Künstlerin Araya Rasdjarmrearnsook, deren gesamtes künstlerischen Schaffen um das Thema Tod kreist. Die Videoprojektion Death Seminar II (2005) zeigt die Künstlerin im Leichenhaus inmitten von sechs auf Bahren ausgestreckten, mit weißem Tuch bedeckten toten Körpern knien. Liebevoll wendet sie sich einem Leichnam, fragt ihn sanft nach seiner Befindlichkeit, nach seinen Wünschen und Bedürfnissen, und geht dann zum nächsten weiter, um diese stille Zwiesprache mit den Toten weiterzuführen. Araya Rasdjarmrearnsook glaubt an die Kraft der Kunst, mit den Seelen der Toten zu kommunizieren und die Toten bei ihrem Übergang zu begleiten. Ein solch liebevoller Umgang mit den Verstorbenen mag den westlichen Menschen befremden, aber auch zutiefst zu berühren, verweist er doch auf die Unfähigkeit unserer eigenen Kultur, dem Tod und den Toten (und damit vielleicht auch dem Leben und den Lebenden) angemessen zu begegnen.

Six Feet Under. Autopsie unseres Umgangs mit Toten. Kunstmuseum Bern. Noch bis zum 21. Januar. Katalog 58 CHF


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