Am schlimmsten findet Anette Schöps die Heuchelei. „Man benutzt uns im Moment als Kanonenfutter!“, sagt die Inhaberin des ambulanten Pflegedienstes „Altenpflege mit Herz“ in Bottrop-Kirchhellen. Vor ein paar Monaten seien Leute wie sie noch die „Arschabwischer“ der Nation gewesen. Doch kaum ist Corona vor der eigenen Haustür angekommen, hagelt es Applaus für die Beschäftigten im Gesundheitssystem, also auch für ihre Zunft: die Pfleger. „Jetzt sind wir plötzlich die Helden des Alltags.“ Das Gespräch mit der 53-Jährigen findet digital statt, klar, Schöps und ihre Kolleginnen gehen ein und aus bei alten und kranken Menschen, die am meisten durch das Virus bedroht werden. Weil sie sich und die Pflegebedürftigen dabei nicht angemessen schützen können, erhebt die Chefin seit einiger Zeit auch öffentlich schwere Vorwürfe gegen die „Herrschaften in Berlin“.
Anerkennung, das Wort verwendet die Bottroperin oft – also ernst gemeinte Anerkennung und nicht deren wohlfeile Akklamation. Es fehle vor allem an zwei Dingen: Erstens einem Bewusstsein dafür, dass nicht jeder ihren Job machen könne. Immerhin ist sie seit 35 Jahren examinierte Krankenschwester, hat in der Kardiologie und Intensivmedizin gearbeitet, bis sie sich 2003 für die ambulante Pflege entschied: Der Dienstplan im Krankenhaus war einfach nicht mit dem Leben als junge Mutter zu vereinbaren. Nebenberuflich bildete sie sich zur Wundexpertin und Demenzfachkraft weiter, vor fünf Jahren setzte sie noch einen Lehrgang im Bereich der palliativen Therapie obendrauf. Sie kennt sich aus mit dem Tod, weiß, wie tragisch viele Menschen zugrunde gehen: auch in normalen Zeiten. Nur auf dem Konto, und das ist Schöps’ zweiter Punkt, mache sich das nicht bemerkbar.
Michael Isfort vom Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen sagt, die ambulante Betreuung in Deutschland sei „chronisch unterfinanziert“. Er meint damit das, was Schöps Tag für Tag erlebt: Eine Ganzwaschung – Pflegedeutsch für das Reinigen des gesamten Körpers eines Patienten – bekommt sie von der Krankenkasse gerade einmal mit 20 Euro vergütet. Die „Hausbesuchspauschale beträgt 1,65 Euro. Mit dem Betrag wird nicht nur die Anfahrt abgegolten, sondern auch die Dokumentationszeit. Mit anderen Worten: Für die gesamte Schreibtischarbeit – pro Patient und Monat drei bis vier Stunden – erhält Schöps keine Bezahlung.
Aber dann kam Corona und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sprach sich bei Bild Live dafür aus, jenen, „die jetzt Großartiges leisten“, eine einmalige Bonuszahlung zu gewähren. Von 1.500 Euro ist die Rede. Der Haken: Keiner weiß, wer das bezahlen soll. Zwar einigten sich die Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) und die Gewerkschaft Verdi bereits auf diesen Betrag. Aber was ist mit Betrieben, die nicht tarifgebunden sind? Die „Altenpflege mit Herz“ zum Beispiel ist lediglich „tarifangeglichen“.
Im Jahr 2008 erwarb Schöps den ambulanten Pflegedienst. Mittlerweile beschäftigt sie dort 45 Mitarbeiter, darunter knapp 30 Pfleger. Auch der Bundesverband Ambulante Dienste und Stationäre Einrichtungen (bad), bei dem sie Mitglied ist, konnte ihr nicht sagen, wer für die Gratifikation verantwortlich sein soll. Kein Wunder: Selbst im Bundesgesundheitsministerium hat man darauf keine Antwort, wie eine Nachfrage des Freitag ergab. „Wenn ich das bezahlen soll, müsste ich einen Kredit aufnehmen“, sagt Schöps.
Trotz solcher Ungewissheiten war kein Gesundheitsminister je so beliebt wie derzeit Jens Spahn, berichtet das Deutsche Ärzteblatt. Ende März besuchte der CDU-Mann medienwirksam das Uniklinikum in Düsseldorf, gar nicht weit von Bottrop entfernt, und sprach davon, das „Gesundheitswesen vorzubereiten“. Dieses „Retter in der Not“-Gehabe geht Schöps auf die Nerven. Schon zwei Wochen bevor der Minister nach Nordrhein-Westfalen kam, hatte sie in den sozialen Netzwerken vor einer „extremen Unterversorgung mit den essenziellsten Schutz-Materialien“ gewarnt – und viel Zuspruch erhalten. Doch geändert hat sich an ihrer Lage bis heute nichts.
Zwar verfügt die „Altenpflege mit Herz“ wegen des zum Dauerproblem gewordenen Krankenhauskeims MRSA immer über einen gewissen Mundschutzvorrat. Doch ein normaler Mundschutz ist nicht nur nutzlos gegen Sars-CoV-2, er muss obendrein alle 20 Minuten gewechselt werden. „Da brauch ich neun Stück pro Patient“, sagt Schöps. Die speziellen FFP2-Masken, die für den direkten Kontakt mit Covid-19-Patienten empfohlen werden, hat sie nicht ausreichend auf Lager. Pflegeforscher Michael Isfort erklärt den Mangel bei ambulanten Diensten damit, dass derzeit die großen Kliniken bei der Verteilung priorisiert würden. Nur seien es kleinere Betriebe wie der von Anette Schöps, die dafür sorgten, dass viele Alte gar nicht erst ins Krankenhaus eingeliefert werden müssten. Er fordert deshalb: „High-Care statt High-Tech!“
Von besonderer Wertschätzung in der Krise kann Schöps nicht viel erkennen. Nicht nur wegen der Unterversorgung mit Schutzmitteln. Oder der Anfeindungen, wenn man sich mit Dienstkleidung in die Öffentlichkeit wagt: „Dass man solche wie dich hier noch reinlässt!“, habe man einem ihrer Pfleger im Supermarkt entgegengeschleudert. Auch über das Robert-Koch-Institut ärgert sie sich. Anfang April lockerte die Bundesbehörde ihre Empfehlungen für Pflegende, die bei Personalmangel nur noch sieben statt 14 Tage in häusliche Quarantäne gehen müssten, wenn sie ungeschützten Kontakt zu einem Corona-Kranken hatten. Prioritärer Testzugang? Fehlanzeige. Wenn abends draußen applaudiert wird, schließt Schöps ihre Terrassentür.
Kommentare 5
Wenn Sie dieser Tage in die Zeitungen schauen, werden Sie feststellen, dass die politische Diskussion um die Verteilung der 1,2 Billionen-Hilfen, die Deutschland im Kampf gegen die Coronaviruskrise mobilisiert hat, nach altbekanntem Ritual abläuft.
Politik und Wirtschaft unterstützen verbal/scheinheilig den abendlichen „Applaus auf dem Balkon“ für miesbezahltes, aber systemisch wichtiges Personal, kriegt aber den 1.500-EURO-Bonus, der diesem Personenkreis einmalig ausgezahlt werden sollte, nicht geregelt, weil sie die Finanzierung wieder einmal listig auf die Krankenkassen abwälzen wollen. – Das kennen wir auch von der Finanzierung des 2-Billionen-Wirtschaftsförderungsprogramms „Deutsche Einheit“, bei dem das Sozialversicherungssystem der BRD bluten musste, während die Unternehmen kassierten.
Gleichermaßen beschämend die Diskussion um das temporäre Kurzarbeitergeld, um das wieder gefeilscht wird. Während die Arbeitgeber selbstverständlich ihre diesbezüglichen Einzahlung zu 100 Prozent erstattet bekommen, wollen sie ihren betroffenen Arbeitnehmern nach wie vor nur 60/67 Prozent der diesbezüglichen Lohnersatzleistung zugestehen und laufen gegen die von der Regierung vorgesehenen Erhöhung auf stufenweise bis zu 80/87 Prozent Sturm.
Und während die System-Journaille die anstehende Rentenerhöhung regierungsdienlich promotet, mahnt sie vorsorglich an: „Die Corona-Krise hat also aktuell noch keine Auswirkungen auf die Renten, wohl aber auf die Entwicklung ab dem nächsten Jahr“ (Quelle: Tobias Peter in den Ruhr Nachrichten Castrop-Rauxel vom 23.04.2020).
@Flegel: Kurzarbeitergeld
Nun ist es wohl beschlossen: 3 Monate für Kinderlose 40% Nettogehaltseinbuße, danach drei Monate noch 30%, schließlich bis zu sechs weiteren Monaten noch 20%. Berechnet man gleitende Durchschnitte, findet man über vier Monate einen Durchschnittsverlust von 37,5%, schließlich über zwölf Monate einen von 27,5%.
Was soll das Zahlenwerk? Nun: die runderneuerte SPD hat es nach zähen Verhandlungen geschafft, die durchschnittliche Belastung von 40% auf - falls wir noch ein halbes Jahr "coronieren" - 35% zu senken. Ist das die Partei, die sich überlegt hatte, die Koalition zu verlassen?
Mehr Kurzarbeitergeld ist ein populäres Thema, bei dem die SPD ruhig auf Konfrontation hätte gehen können. Dass sie das immer noch nicht fertig bringt, ist erstaunlich und zeigt, dass sie mit den 15-18% in den Umfragen sehr gut leben kann.
Dem neuen Führungsduo hätte ich offen gesagt mehr zugetraut. Man vernimmt ausschließlich etwas von den Altbekannten (Scholz, Heil), während die Spitze der Partei quasi nicht wahrnehmbar ist. So wird das nichts mit dem neuen Profil.
Nun, spätestens seit 1998 als ein gewisser Gerhard Schröder von der "SPD" zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt wurde, sollte jedem echten Sozialdemokraten klar sein:
Wer hat die Arbeitnehmer, Rentner, Asylbewerber, Arbeitslosen und Obdachlosen verraten? - Es waren die scheinheiligen Sozialdemokraten. Und daran hat sich bis heute nichts geändert.
Diese SPD vertritt mehrheitlich nicht die Interessen des kleinen Mannes und der kleinen Frau, diese SPD vertritt mehrheitlich vor allem die Interessen des ganz großen Geldes, der Großbanken, Großaktionäre, Großkonzerne und Hyperreichen.
Mit einer kleinen Ausnahme und das wäre dieser geradezu lausige gesetzliche Mindestlohn, den es ohne die SPD nicht geben würde, weil die Pastorentochter aus der ehemaligen DDR alias "Mutti" Merkel bekanntermaßen jahrelang gegen einen gesetzlichen Mindestlohn war.
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Merksatz 27 aus dem großen Handbuch für neoliberale Politik:
Appelliere an das Nationalgefühl und spiele die Deutschland-Card.
Deutschland geht es gut. - Alternative für Deutschland. - Deutschland schafft sich ab. - Deutschland ist Weltmeister. - Deutschland sucht den Superstar. - Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben. - Erfolgreich für Deutschland. - Es geht um Deutschland. - Standort Deutschland - Deutschland ist Papst. - Kanzler für Deutschland. - Sicherheit für Deutschland. - Aus Liebe zu Deutschland. - Du bist Deutschland. - Mut zu Deutschland.
Der Appell an das Nationalgefühl zielt vor allem auf die menschlichen Emotionen. Verstand und Vernunft werden abgeschaltet. Man schafft ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und Einigkeit, indem man die eigene Nation überhöht und über andere Nationen stellt.
Der Appell an das Nationalgefühl ist ein hervorragendes Mittel, um von gesellschaftlichen Problemen und sozialen Missständen, die das eigene Land spalten, abzulenken.
"Jetzt fragt sie sich, wer denn die Bonuszahlung für Beschäftigte bezahlen soll!"
Der Staat. Er muss das Geld nur rausgeben, auch bekannt unter dem Begriff "investieren". Die Schulden kann er dann auf einen Zettel schreiben und der EZB geben, damit die den in den Schuldenschrank legen. Von mir aus kann auch irgendjemand den Zettel gegenzeichnen und so tun als wären es Staatsanleihen, es bleiben die gleichen Schulden, die gleiche Bevölkerung und der gleiche Zeitraum des Zurückzahlens: die Zukunft.
Mit dem Unterschied´, daß in Variante 1 der Staat seine Souveränität behält, während er in Variante 2 sich selber an Privatkapitalinteressen verhökert und damit erpressbar wird, z.B. mit Sätzen wie "Wer soll das bezahlen?"
Schulden sind der make-believe-motor der Kapitalismusreligion.