Die Selbstmorde des Patrick O'Brian

NORDIRLAND Für viele IRA-Mitglieder wird der Bürgerkrieg kaum jemals vorbei sein

Es ist still geworden um den Friedensprozess in Nordirland, nachdem eine gemeinsame Regierung aus Protestanten und Katholiken in Belfast zum wiederholten Male nicht zustande kam. Wohl hat Tony Blair in der Vorwoche mit Peter Mandelson einen neuen Nordirlandminister ernannt, aber an der gegenseitigen Blockade von Unionisten und Republikanern wegen der IRA-Entwaffnung dürfte das zunächst wenig ändern. Allerdings rechnet vorerst niemand ernsthaft mit einem Wiederaufflackern des Bürgerkrieges. Um so mehr scheint die Zeit reif, nach dem Schicksal jener zu fragen, die diesen Krieg noch bis vor kurzem geführt haben.

Ein viertel Jahrhundert lang gelang es Großbritannien trotz eines gewaltigen militärischen Aufwandes nicht, die IRA zu zerstören. Die Irisch-Republikanische Armee, das waren bis zum Karfreitagsabkommen von 1998 nicht selten auch die endlosen Prozessionen mit schwarzverhängten Särgen (mehr als 400 IRA-Mitglieder wurden getötet) - und das waren die hunderttausend verlorener Gefängnisjahre nordirischer Söhne und Töchter, denn fast jedes der IRA-Mitglieder wurde irgendwann einmal verhaftet und saß für eine bestimmte Zeit im Gefängnis. Aber da waren auch die Grausamkeiten, die an den eigenen Leuten verübt wurden. Die IRA pflegt bis heute einen fast religiös anmutenden Patriotismus, der es gebietet, den Kampf erst dann zu beenden, wenn das Ziel einer eigenständigen und einheitlichen Republik Irland erreicht ist. In einer Welt der verlorenen Ideologien scheint dieser Patriotismus eine der letzten politischen Leidenschaften Europas zu sein.

All dies glaubte ich begriffen zu haben, als ich mich in Belfast mit Patrick O`Brian traf, der 1978 zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe für den Mord an zwei britischen Soldaten und einem protestantischen Paramilitär sowie für mehrere Bombenanschläge auf Polizeistationen verurteilt worden war. Drei Monate nach dem ersten IRA-Waffenstillstand - verkündet am 31. August 1994 - erfuhr Patrick von seiner Begnadigung und wurde bald darauf vorzeitig aus der Haft entlassen. In den folgenden Jahren, als sich für die meisten Nordiren - egal zu welcher Gemeinschaft sie gehörten - das Leben spürbar normalisierte, verübte er drei Selbstmordversuche.

Als wir uns das erste Mal sehen, lädt mich Patrick in einen überwiegend von Republikanern besuchten Pub in der Nähe der Shankill Road ein, um mich seinem älteren Bruder vorzustellen. Der begrüßt mich feindselig. "Schade, dass die Amerikaner die Atombombe damals nicht über Deutschland abgeworfen haben." Patrick entschuldigt sich und erklärt mir, die Gleichgültigkeit der Deutschen gegenüber Nordirland habe seinen Bruder schon immer gestört, deshalb sei er so aggressiv. Er habe 1971 mit ansehen müssen, wie der unionistische Mob das Haus der Eltern anzündete, die damals noch in einem überwiegend von Protestanten bewohnten Viertel Belfasts lebten. Dieselben Nachbarn, die noch Tage zuvor Lebensmittel von den Eltern geborgt hatten, standen dabei und sahen zu, ohne auch nur das Geringste zu unternehmen.

Kurz darauf wurde der Bruder Mitglied der IRA. Patrick: "Mir war zwar überhaupt nicht klar, warum die IRA im Stadtzentrum von Belfast Bomben zündete, Polizisten und britische Soldaten tötete, aber es schien mir damals weniger wichtig, das zu verstehen. Wichtig blieb allein, dass die IRA für unsere Interessen kämpfte und dass mein Bruder dabei war."

Patrick wuchs in einem Milieu auf, das von Fanatismus und Bigotterie ebenso geprägt war wie von bierseligem Patriotismus und sektiererischen Morden. Sein Vater war immer wieder arbeitslos oder er saß im Gefängnis, weil er als überzeugter Republikaner galt. Suchten die älteren Geschwistern einen Job, gab es stets die gleiche Prozedur. Der in der Regel protestantische Arbeitgeber erkundigte sich nach der Schule, die sie absolviert hatten. War klar, dass es sich um eine katholische Einrichtung handelte, hieß es nur noch: "Melde dich nicht mehr bei uns - wir melden uns bei dir." Es gab nie einen Rückruf.

Viele Republikaner empfanden das Jahr 1969, als es in mehreren Städten Nordirlands zu blutigen Straßenkämpfen zwischen der katholischen Bürgerrechtsbewegung und rechtsextremen protestantischen Gruppen kam, wie eine Auferstehung. Seinerzeit war oft der Satz zu hören: "Der Große erscheint nur groß, weil wir auf unseren Knien liegen."

In dieser Zeit wird Patrick - noch als Kind - Zeuge, wie ein britischer Soldat von Mitgliedern der IRA aus einem Hinterhalt heraus erschossen wird - er sieht mit eigenen Augen den Todeskampf des Schwerverletzten. "Wir waren damals über jeden Briten froh, der getötet wurde. Es erschien uns wie eine Art Punktesammeln. Schmerz oder Trauer für die andere Seite, das gab es nicht. Wir lebten in einer Zeit der Razzien und Straßensperren. Wenn ich frühmorgens das Haus verließ, orientierte ich mich sofort nach allen Seiten, um zu wissen, ob mir jemand folgte oder einer von den Zivilpolizisten versuchte, mich zu fotografieren. Kam es zu einer Polizeikontrolle - und das war oft -, wurde man so behandelt, als hätten sie endlich einen lange gesuchten Verbrecher gefasst. Und das nur, weil du aus einem katholischen Viertel kamst. Kein Tag verging ohne Schreckensbotschaft über Verhaftungen innerhalb der Familien von Freunden oder Bekannten; es gab Verletzungen, Misshandlungen, Mordanschläge ... Entweder du wirst unter solchen Bedingungen verrückt oder du gehst zur IRA."

Und Patrick ging, gerade 18 geworden. "Als sie mir eine Waffe gaben, wusste ich, jetzt bist du drin. Waffen waren etwas so Wertvolles, dass nur der sie bekam, der als absolut vertrauenswürdig galt. Nicht umsonst hieß es bei jeder Aktion - Menschenleben auf der eigenen Seite und Waffen seien nicht zu gefährden." - Ein Jahr später wird er verhaftet. - "Das erste, was ich im Zuchthaus lernte, war Irisch. Es war die einfachste und sicherste Möglichkeit, sich untereinander zu verständigen, weil das Wachpersonal nur Englisch konnte." Patrick nimmt am "blanket-strike" teil, der damals von den IRA-Mitgliedern begonnen wurde, um als politischer Gefangener anerkannt zu werden.

Die Häftlinge fordern, ihre eigenen Sachen anziehen zu dürfen. Sie wollen sich untereinander regelmäßig treffen und eine ständige Besuchserlaubnis für Verwandte und Freunde. Als die Zuchthausleitung ablehnt, weigern sich die Streikenden, weiterhin Häftlingskleidung zu tragen und wickeln sich in Wolldecken aus ihren Zellen. Den Wärtern ist nun jedes Mittel recht, um den Aufruhr so schnell wie möglich zu beenden. Unter diesen Umständen wird für die Häftlinge jeder Gang zur Toilette oder in den Speisesaal zum Martyrium. "Es schmerzt und demütigt besonders, wenn du nackt bist, und ein Soldat tritt dich mit seinen Lederstiefeln zusammen, und du bist völlig wehrlos." Die Gefangenen beschließen, die Zellen nicht mehr zu verlassen. Ihre Exkremente schmieren sie an die Wände, Lebensmittelreste verschimmeln in den Ecken. In kürzester Zeit wimmelt es überall von Maden. "Ich hab manchmal unwillkürlich vor Ekel aufgeschrien, wenn ich meinen Körper zufällig mit den Fingern berührte. Er erschien mir ein Teil des Ungeziefers rings um uns herum."

Um den Forderungen der IRA Nachdruck zu verleihen, tritt der Häftling Bobby Sand 1981 in einen Hungerstreik. Ihm folgen weitere 43 Gefangene. Patrick darf nach der Entscheidung seiner Kameraden nicht teilnehmen, weil er einen Leberschaden hat. Es soll verhindert werden, dass Gefängniswärter oder Journalisten später die Krankheit eines Gefangenen als Todesursache angeben können. "Damals wäre ich gern während des Hungerstreiks gestorben. An eine Begnadigung war nicht zu denken. Und selbst wenn, die Möglichkeit, danach in den Reihen der IRA ums Leben zu kommen, war sehr viel größer, als alt zu werden."

Da keine Aussicht besteht, dass die britische Regierung einlenkt, und die katholische Kirche dafür plädiert, den Hungerstreik zu unterbrechen, entscheidet die IRA schließlich im Dezember 1981, nachdem Bobby Sand gestorben ist, die Aktion zu beenden. Erst danach verbessern sich langsam die Verhältnisse, die Gefangenen dürfen nun doch eigene Sachen tragen, plötzlich sind Bildungsmöglichkeiten vorhanden, Patrick kann sein Abitur nachholen. "Im Knast habe ich begriffen, dass es nicht nur darum geht, die Briten zu schlagen, sondern dass wir nur ein kleiner Teil eines viel größeren Problems sind, das sich in Umweltzerstörung, Armut der Dritten Welt oder Unterdrückung der Frauen äußert."

Bei meiner nächsten Verabredung mit Patrick teilt mir seine Mutter mit, ihr Sohn liege wegen eines Selbstmordversuchs im Hospital. Ich bin völlig überrascht, auf dem Weg ins Krankenhaus sehe ich ihn immer wieder vor mir, ausgefüllt mit seinen Ideen zur Jugendarbeit im Viertel und seinem Traum von einem eigenständigen Irland, in dem alle Bevölkerungsgruppen ein faires System zu schätzen wissen, und keiner mehr aus Existenzangst das Land verlassen muss.

Als ich Patrick nach denen gefragt hatte, die von ihm getötet wurden, wirkte sein Gesicht so undurchdringlich, dass ich glaubte, es muss für ihn unerträglich sein, daran erinnert zu werden, er muss diese Wahrheit verdrängen, sooft es nur geht. Dann aber begann er, mit einem verlegenen Lächeln zu erklären, dass er vor Jahren ein Schuldbekenntnis nur unterschrieben habe, um seine Familie zu schützen. Später habe er das Geständnis widerrufen, aber er könne sich zu alldem, was tatsächlich gesehen sei, nicht äußern. Ich formulierte meine Fragen daraufhin allgemeiner. Was denkt er über das Töten für ein politisches Ziel? Wieder das gleiche Lächeln, bis er mir eine Antwort gab, die einem schlechten Geschichtsbuch entnommen schien: Um jedes Opfer dieser unruhigen Jahre täte es ihm persönlich leid, das aber würde den Kampf nicht in Frage stellen. - Nach diesem Satz sahen wir uns an und wussten beide, dass es Spielregeln gab für derartige Gespräche, an die man sich zu halten hatte. Und dass nur Patrick es sein konnte, der diese Regeln bestimmte. Wobei er wohl glaubte, sie zu beherrschen.

Im Krankenhaus sitzen wir uns lange schweigend gegenüber. Und dann, mit den Worten: "Ich bin schwul, und für die, die es von Sinn Fein (*) wissen, ist das okay", beginnt er, mir die Geschichte seiner Todessehnsucht zu erzählen. - "Ich habe immer dazugehören wollen. Als 1969 der Aufstand begann, war mein Freund ein Protestant. Unsere Beziehung zerbrach nicht, weil wir uns dem Hass der anderen ergaben, sondern weil wir mit der Isolation, unter der wir zu leiden hatten, nicht klar kamen. Brachte ich ihn mit zu meinen katholischen Freunden, wurden wir gemieden, und umgekehrt war es genauso. Ein paar Jahre später, als meine Freunde nervös wurden, wenn sie ein Mädchen nur von weitem sahen, wurde ich nervös, wenn ich mit ihnen unter der Dusche stand. Um anerkannt zu werden, habe ich meine Männlichkeit durch verrückteste Mutproben unter Beweis gestellt. Damals habe ich auch angefangen, der IRA zu helfen und gehörte wie gesagt bald dazu. Eines Tages jedoch führten mich zwei Vorgesetzte in ein abgelegenes Haus, vergewaltigten und schlugen mich. Das wiederholte sich mehrere Wochen lang. Ich habe mit niemandem darüber gesprochen, da ich wusste, keiner würde mir glauben. In meinem Viertel galten für die Mehrzahl der Bewohner IRA-Mitglieder durchweg als Helden oder Märtyrer. Außerdem fühlte ich mich schuldig und zu recht bestraft. Nicht weil ich homosexuell war, sondern weil ich mich nicht gegen die Gewalt wehrte, die mir angetan wurde, von den eigenen Leuten. Bis heute weiß ich nicht, warum sie glaubten, das tun zu müssen."

Als das vorbei ist, hat Patrick nur noch ein Ziel: er will eine Waffe und dann loslegen. Während der ersten nächtlichen Aktion der IRA, an der er teilnimmt, muss er einen gefangenen Protestanten bewachen, der am nächsten Morgen erschossen werden soll. "Ein hübscher, freundlicher Bursche in meinem Alter. Sein einziges Vergehen bestand darin, dass der Bruder zum paramilitärischen Untergrund der Protestanten gehörte und einen unserer Leute erschossen hatte. Gern hätte ich den Jungen fliehen lassen. Aber ich hatte eine Riesenangst vor meinen eigenen - wie ich glaubte - falschen Empfindungen. Ich habe ihn nicht umgebracht, mir aber nie verzeihen können, dass ich ihm nicht half. Danach hielten mich viele für einen Helden, weil ich so ungerührt wie ein Kind mit der Waffe umging. Ich hatte überhaupt kein Gefühl mehr für Gefahren und empfand nichts, wenn ich Blut sah. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie mich schnappten."

Hatte er sich vorstellen können, dass sein Leben auf so entsetzliche Weise aus den Fugen geraten könnte? Sein Heldenimage, seine Selbstachtung, sein Lebensmut, alles war in Frage gestellt durch einen politischen Mord, den Patrick nicht verübt hatte, an dem er aber nicht unschuldig war.

"Im Gefängnis hatte ich dann Zeit zum Nachdenken, fand auch Freunde, die mir geholfen haben. Aber jedes Jahr, am Todestag dieses jungen Burschen, ist es aus. Die Psychologen meinen, mir mein Problem erklären zu können. Das Schlimme ist, dass ich es nur allzu gut kenne und weiß, dass es für mich keine Hilfe gibt."

(*) politischer Arm der IRA

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