Mangelnde Strategiefähigkeit hatte André Brie seiner Partei kurz vor deren Berliner Parteitag Mitte Januar vorgeworfen, mit dem die Debatte über ein neues Parteiprogramm eröffnet wurde. Diese Diskussion dürfte nun die Frage beantworten lassen, ob und inwieweit die PDS zu strategischem Denken fähig ist und ihr unverkennbares Profil zu entwickeln versteht. Der Freitag wird diesem Diskurs in seiner Startphase während der kommenden Wochen ein Forum bieten, wie das bereits für die Strukturreform-Debatte der Bündnisgrünen Ende 1998 der Fall war. Wir eröffnen mit Überlegungen von André Brie und Dieter Klein - erste Reaktionen darauf sind für die Ausgabe vom 19. Februar vorgesehen. Unsere LeserInnen sind herzlich eingeladen, sic
Die Tabus abschaffen
PROGRAMMDEBATTE Die PDS muß auf Menschen zugehen, die nicht mehr als eine vorsichtige Verbesserung der gegenwärtigen Verhältnisse wollen
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herzlich eingeladen, sich an diesem Streit über linke Reformalternativen zu beteiligen.(Red.)An der Schwelle zum 20. Jahrhundert sah die ehemals revolutionäre Sozialdemokratie den Sozialismus heraufziehen. An der Wende zum 21. Jahrhundert sucht die PDS links von der SPD als Teil der europäischen Linken nach demokratisch-sozialistischen Antworten auf die einschneidenden Umbrüche seit Mitte der siebziger Jahre. Die SPD trachtet als Neue Mitte, politische Durchsetzungsfähigkeit durch Verankerung in einer Gesellschaftsmehrheit und im Konsens mit den Unternehmerverbänden zu gewinnen, nach unserer Auffassung jedoch um den Preis des Verzichts auf einen Politikwechsel, der eine Lösung der innergesellschaftlichen und globalen Großprobleme näher rücken würde. Nicht darin besteht das Problem, daß ein sozialdemokratischer Weg kleine Schritte groß schreibt, sondern darin, daß diese Schritte in die Dominanz des Profits, in anhaltende Deregulierungstendenzen und anachronistische Wachstumskonzepte eingefangen bleiben.Die Überwindung der Profitdominanz in Wirtschaft und Gesellschaft ist für linke Reformalternativen kein Selbstzweck, sondern eine zentrale Bedingung für den erforderlichen sozial-ökonomischen Umbau. Die Scheu von SPD und Bündnisgrünen, die Frage nach einer Einschränkung der Profitdominanz zu stellen, erweist sich unserer Meinung nach bereits jetzt als Ursache dafür, daß ihre »ökologische Steuerreform« nicht nur sozial im höchstem Maße ungerecht, sondern auch nicht ökologisch ausfällt. Im Parteiprogramm der PDS von 1993 sind Fragen der Unterordnung unternehmerischer Gewinninteressen unter soziale und ökologische Maßstäbe und konkrete Konsequenzen für einen Wandel der Eigentumsverfügungs- und Machtstrukturen jedoch nicht in aktueller, moderner und politikfähiger Weise bestimmt worden und ist darüber hinaus ausdrücklich der Dissens in der PDS benannt worden. Die Erkennbarkeit der PDS ist damit an einer für ihr demokratisch-sozialistisches Profil entscheidenden Stelle unbeantwortet.Gefährdete Chancen - Druck von links Die neue programmatische Debatte der PDS zielt auf ein Eingreifen in ein Spannungsfeld voller Dramatik. Tiefe Umbrüche in den Beschäftigungsverhältnissen, in der Beziehung zwischen Mensch und Natur und in den sozialen und kulturellen Strukturen, die Europäische Währungsunion und nicht zuletzt die globalen Finanzmärkte verändern die politischen Handlungsbedingungen auf einschneidende Weise und gefährden die demokratische Verfaßtheit der Gesellschaft. Neoliberale Politik hat den fortschreitenden Globalisierungsprozeß zum Mythos und angeblich unausweichlichen Handlungszwang stilisiert und eine fortschreitende soziale Polarisierung in der Gesellschaft bewirkt. Nun aber haben die Wählerinnen und Wähler nach zwei Jahrzehnten Erfahrung mit der Politik der Konservativen in 13 EU-Staaten sozialdemokratisch geführten oder geprägten Regierungen eine - vielleicht nur schemenhafte - Chance des Bruchs mit dieser von Großbanken und Konzernen bestimmten Entwicklungslogik eröffnet. Aber die Gefahr besteht, daß diese Konstellation der möglichen Öffnung für einen anderen Verlauf der Geschichte - dieser wahrscheinlich historisch kurze Moment - verspielt wird. Daß Soziales und Demokratie ins Abseits geraten. Kanzleramtsminister Bodo Hombach preist Tony Blairs New Labour als Vorbild und schreibt von Gerhard Schröders Nachwort abgesegnet in seinem Buch Aufbruch: »Von der SPD werden nach dem Wahlsieg Strukturveränderungen verlangt, ... die Labour weitestgehend erspart blieben, weil die härtesten Schritte von den Konservativen bereits durchgeführt waren.«Die zentrale Frage In das Zentrum programmatischer Diskussion der PDS sollte die Frage treten, ob es einen anderen als diesen sozialdemokratischen Entwicklungspfad gibt. Welche Alternativen der Linken könnten nennenswert dazu beitragen, die Sozialdemokratie aus dem Sog des Neoliberalismus herauszulösen und sie neuerlich gerade im Moment ihrer Selbstdefinition als Neue Mitte »jenseits von links und rechts« (Giddens) nach links zu ziehen? Konsequenter Realismus und Ehrlichkeit hinsichtlich der Schwierigkeiten, der Möglichkeiten und ihrer Grenzen sind für Antworten unerläßlich. Antworten, die Erfordernisse innovativer und wettbewerbsfähiger Wirtschaftsentwicklung mißachten, sind untauglich und würden im übrigen auch in der Bevölkerung keine Unterstützung finden. Daß Wettbewerbs- und Weltmarktfähigkeit einen neuen Inhalt bekommen und der Weltmarktdruck durch intensive Regionalisierungsprozesse und gestärkte Binnenmarktorientierung eingedämmt werden muß, gehört zu den entscheidenden Bedingungen einer erforderlichen Alternative.Die Kernfrage für die Linke lautet: Welche anderen Zugänge zur Lösung der gesellschaftlichen Großprobleme als der Versuch, ihnen durch vorwiegend weltmarkt- und konsumorientiertes - jedoch von Beschäftigung abgekoppeltes und umweltzerstörendes - Wachstum beizukommen, könnten entwickelt werden?Vielfach lautet auch in der PDS die Antwort, daß es solche Zugänge doch bereits gebe. Das Arsenal von Ansätzen ist groß. Ihre Mißachtung in der künftigen programmatischen Diskussion wäre Selbstentwertung. Im geltenden Parteiprogramm sind sie jedoch wie in einem Warenhauskatalog beziehungslos aufgezählt und nicht wirklich mit der Komplexität eines gesamtgesellschaftlichen Wandels von Sozialbeziehungen, Ökologie, Wirtschaft, Kultur, Bildung, demokratischer Partizipation und internationaler Beziehungen verknüpft. Das war zum damaligen Zeitpunkt - nur drei Jahre nach dem Ende der SED - kaum anders möglich.Die PDS besitzt realistische wirtschafts-, beschäftigungs- und sozialpolitische Entwürfe, von denen einige von einem lila Faden durchwirkt sind. Sie verfügt mit dem Rostocker Manifest über ein (ostdeutsches) Regionalisierungskonzept von allgemeinerer Bedeutung für die Entwicklung europäischer Krisenregionen. Doch nichts wäre für die programmatische Debatte selbstbetrügerischer als die Annahme, mit dem gegenwärtigen Programm der PDS und ihren durchaus tauglichen Politikansätzen auf wichtigen Feldern gesellschaftlicher Entwicklung über jene Handlungsorientierung zu verfügen, die der Linken bereits überlegene Strategiefähigkeit, Lösungskapazitäten und ausreichende Anziehungskraft in der alltäglichen Politik verleiht. Oft ist die Kluft zwischen der Tagespolitik vor Ort, in der sich die PDS insbesondere auf ostdeutscher kommunaler Ebene Ansehen erworben hat, und linken Visionen allzu groß. Die Brücken zwischen dem Heute und dem wünschenswerten Morgen fehlen häufig. Sie zu konstruieren, ist ein Grundanliegen der Arbeit an linken Reformalternativen.Alternativer Entwicklungspfad Die Linke hat einen Entwicklungspfad herauszufinden, der in den Realitäten der Gegenwart verläuft und doch für soziale und ökologische Nachhaltigkeit zu öffnen ist.Zwei große Felder wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung könnten perspektivisch zentrale Bedeutung für eine neue Entwicklungslogik gewinnen. Sie beginnen schon bei der Verteidigung von Kindergärten, Jugendtreffs und Krankenhäusern gegen Schließungen oder bei lokalen kleinen Umweltprojekten. Aber sie reichen entschieden weiter.Erstens: Ökologischer Umbau der Gesellschaft in Produktion und produktionsbezogenen Dienstleistungen. Er könnte dann wettbewerbsfähig vonstatten gehen, wenn es gelänge, bestehende Stärken der Industrie und moderne Technologien miteinander und zugleich mit starker Ausprägung regionalwirtschaftlicher Kreisläufe zu verbinden, auf die Entwicklung von Umwelttechnologien zu konzentrieren und den Gesamtprozeß auf soziale Weise an demokratischen und ökologischen Maßstäben zu orientieren. Die Beschäftigungschancen eines ökologischen Umbaus der Gesellschaft sind beachtlich, sollten aber nicht euphorisch eingeschätzt werden.Zweitens: Humanorientierte Dienstleistungen in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Erziehung, Pflege, soziale und psychologische Betreuung, Lebenshilfe, Unterstützung von Selbsthilfeprojekten und alternativen Lebensformen, zwischenmenschliche Kommunikation, Breitensport und Kultur. In diesen Dienstleistungsbereichen läßt sich die Produktivität nicht beliebig steigern. Dort wird (gesellschaftliche) Arbeit dringend benötigt. Sie würde Lebensqualitäten in einer neuen, umweltgerechten Lebensweise bereitstellen.Ein volles Ausschöpfen dieser beiden Felder und ihres Beschäftigungspotentials heißt nicht Abkehr von weltwirtschaftlicher Arbeitsteilung, sondern könnte für die Produktion und die produktionsnahen Dienstleistungen in anderen Branchen das Dilemma lockern, daß jeder Produktivitätsfortschritt mit ansteigender Arbeitslosigkeit die sozialen Probleme nährt, könnte dort also allmählich die Konkurrenzzwänge sozial entlasten.Ungelöste Probleme Die für eine programmatische Diskussion dringliche Frage nach einem neuen Entwicklungspfad führt zwangsläufig zu einem ganzen Bündel ungelöster Probleme der Gesellschaft:Eine ökologische Zeitenwende, die die erdumspannende Zerstörung der Umwelt dauerhaft überwindet, wird nur durch tiefgreifenden sozialen Wandel in Nord und Süd erreichbar sein. Die PDS als Ganzes, die ihren Wählerinnen und Wählern in der Regel als Partei sozialer Gerechtigkeit gilt, muß ihr Profil für diesen sozialökonomischen Umbau der Bundesrepublik in Solidarität mit den armen Ländern der Erde erst herausfinden. Sie hat das Verhältnis von nachhaltiger Entwicklung und demokratischem Sozialismus als Perspektiven des 21. Jahrhunderts in Programmatik und Alltagspolitik unverwechselbar zu bestimmen. In ihrem gültigen Programm konnte dies nicht geleistet werden. Anderen Parteien gilt dies nicht einmal als eine Aufgabe.Ein sozial-ökologischer Umbau kollidiert mit den Machtstrukturen der Gesellschaft. Fragen nach dem Wandel von Eigentums-, Verfügungs- und Machtverhältnissen geraten mit neuem Gewicht wiederum auf die Tagesordnung. Jedoch nicht als ideologische Axiome, sondern in ganz konkreten Zusammenhängen. Wie kann beispielsweise der internationale Widerstand gegen ein Multilaterales Abkommen über Investitionen in einen Druck auf die Bundesregierung umgesetzt werden, gemeinsam mit anderen sozialdemokratisch geführten Regierungen für internationale Devisenumsatz- und Kapitaltransfersteuern zu wirken, um so die Verfügung der Banken und Fonds über ihr Kapital und damit die Gefahren weltweiter Devisenspekulation einzuschränken? Diesseits früherer Vorstellungen von einem großen Akt der Enteignung des Kapitals sind solche Fragen in den Kämpfen um die Lösung dringlicher konkreter Probleme zu beantworten.Wir setzen darauf, die Verfügungsmacht von Kapitaleigentümern über ihr Eigentum zu beschränken, um diese Verfügung sozialen und ökologischen Entscheidungsmaßstäben unterzuordnen. Soziale und ökologische Nachhaltigkeit erfordert statt Privatisierung einen Pluralismus unterschiedlicher Eigentumsformen und deren Gleichberechtigung.Die starke Entwicklung humanorientierter Dienstleistungen im Rahmen einer neuen Entwicklungslogik ist nur denkbar, wenn viele Arbeitsplätze öffentlich gefördert werden. Es geht um einen Dritten Sektor zwischen Privatwirtschaft und öffentlicher Hand, in dem die Akteure immerhin im Wettbewerb um die Erwirtschaftung eines Teils ihrer Kosten und bestmögliche Leistungen als Bedingung öffentlicher Förderung stehen.Ostdeutsche Konfliktlagen Welche Stellung könnte dieser Sektor künftig in linken Reformalternativen gewinnen? Wie sollten die fließenden Übergänge zu öffentlicher Beschäftigung aussehen? Ein Dritter Sektor jenseits kapitalistischer Rentabilitätszwänge wäre das genaue Gegenteil von sowohl konservativen als auch sozialdemokratischen Ansätzen, besonders die weniger qualifizierte Arbeit durch die Absenkung von Löhnen und Lohnnebenkosten für die Unternehmen profitabel zu machen. Ist es wirklich realistisch, dagegen auf eine stärkere Umverteilung von gesellschaftlichem Reichtum, Finanzen und Ressourcen zu setzen oder wird dies schon an der verbreiteten Überzeugung scheitern, die hinnehmbare Grenze von Abgaben sei längst überschritten?Die für uns vorstellbare Reformalternative ist nur denkbar im Prozeß der Demokratisierung der Demokratie, als übergreifender zivilgesellschaftlicher Wandel von Staat und Gesellschaft. Sie ist nur gestaltbar, wenn ihr innerer Zusammenhang zur Geltung gebracht werden kann und wenn es gelingt, auf mindestens vier große Querschnittsprobleme, die ein linkes Reformprojekt in sich aufnehmen muß, in allen Politikfeldern Antworten zu finden: die Gleichstellung der Geschlechter, solidarische, friedenssichernde Antworten auf die gegenwärtige Gestalt der Globalisierung, Orientierung von Forschung, Wissenschaft, Technologie und Bildung auf zukunftsfähige Entwicklungen und ein spezifischer Umgang damit, daß alle Problemlagen der ganzen Bundesrepublik in Ostdeutschland stets besondere Gestalt haben.Linke Reformalternativen setzen den selbstkritischen Umgang mit der Geschichte der Linken voraus - zumal in einer Partei, deren Vorgängerin ein staatssozialistisches Machtmonopol ausübte. Ein linkes Reformprojekt ist nur in vollständiger Abgrenzung von staatssozialistischen Machtstrukturen, von der darin wurzelnden Mißachtung individueller Persönlichkeitsrechte bis zu schweren Verbrechen an Millionen Menschen in bestimmten Phasen staatssozialistischer Entwicklung, von der Verweigerung rechtsstaatlicher Entwicklungen und von der Unterdrückung des Pluralismus im politischen und geistigen Leben zu gewinnen. Abkehr von jeder Verklärung der DDR-Verhältnisse ist ebenso notwendig wie ein Ende jeder Verteufelung des Lebens von Millionen, deren sozialistische Ideale an den Grundstrukturen des Staatssozialismus zerbrachen und doch zu bewahrenswerten sozialen und kulturellen Leistungen führten.Sich in programmatischen Debatten und in der alltäglichen Lebenswelt allen diesen und vielen weiteren Fragen zu stellen, wird der PDS nicht leichtfallen. Sie darf keine Tabus gelten lassen, hat also entschieden Toleranz zu pflegen und öffentlich zu praktizieren. Sie kann nur als antikapitalistische, demokratisch-sozialistische Partei eine produktive Funktion im Parteiensystem der Bundesrepublik und dem Europas wahrnehmen. Aber ihre Mitglieder müssen entschieden auf Menschen zugehen, die nicht mehr als vorsichtige Verbesserungen der gegenwärtigen Verhältnisse wollen, von denen jedoch gleichwohl zu lernen ist.
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