Sehr geehrter Herr Dr. Benn! Nach monatelangen Vorbereitungen übergeben wir der Öffentlichkeit das erste Heft einer neuen Zeitschrift Sinn und Form, von der wir der Meinung sind, daß sie die große deutsche repräsentative Literaturzeitschrift sein wird.«
Mit diesen Worten eröffnete der Dichter Peter Huchel am 20. Dezember 1948 einen Brief an seinen berühmten Kollegen Gottfried Benn. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Briefes stehen beide Autoren, die sich während der Jahre der Hitler-Diktatur in die innere Emigration zurückgezogen hatten, vor einem Neuanfang. Im Osten Deutschlands hatten die Kulturpolitiker der sowjetisch besetzten Zone in dem melancholischen Naturlyriker Huchel den idealen Mann ausgemacht, der als Chefredakteur ein neues Literatur-Periodikum mit gesamtdeutschem Anspruch und internationaler Ausstrahlung konzipieren sollte. Im Westen wurde Gottfried Benn, der bis dahin als politisch kompromittierter Parteigänger der Nazis galt, von jahrelangem Schreibverbot und politischer Verfemung befreit und kehrte mit seinem Gedichtband »Statische Gedichte« triumphal in die literarische Öffentlichkeit zurück.
Auf das erste Heft von Sinn und Form, das ihm Huchel im Dezember 1948 »zur Kenntnisnahme« vorlegte, reagierte Benn äußerst skeptisch und bedachte in seinen erst jetzt veröffentlichten Notizen die Autoren des Heftes mit boshaften Kommentaren. Fünfzig Jahre nach diesem flüchtigen Kontakt zwischen Huchel und Benn zeigt es sich jedoch, wie berechtigt die Hoffnungen auf die »große deutsche repräsentative Literaturzeitschrift« gewesen sind. Das ursprüngliche Konzept des treu ergebenen Parteidichters und späteren DDR-Kulturministers Johannes R. Becher, der mit Sinn und Form eine literarische Visitenkarte des neu entstehenden Staates schaffen wollte, zugleich aber ein Selbstverständigungsorgan für die sozialistische Intelligenz, wurde vom designierten Chefredakteur sehr eigenwillig interpretiert. Schon die ersten Hefte, die zunächst im Potsdamer Verlag Rütten Loening, später unter der Ägide der Ostberliner Akademie der Künste erschienen, setzten eindeutige Signale. Gegen die wachsenden Widerstände der DDR-Kulturbürokratie formte Peter Huchel Sinn und Form zu einem weltoffenen, undogmatischen Literatur-Journal, in dem sich Dichter und Intellektuelle verschiedenster Herkunft und konträrer Weltanschauung begegnen konnten. Bereits im vierten Heft von Sinn und Form tauchten Essays von Theodor Adorno, Max Horkheimer und Walter Benjamin auf; Denkfiguren einer negativen Dialektik, auf die kommunistische Parteidogmatiker seit je allergisch reagierten. So dauerte es auch nicht lange, bis erster Unmut aufkam: Kurt Hager, der oberste Kulturpolizist der Partei, beschwerte sich, Huchels Redaktionsstil gleiche dem Gebaren eines englischen Lords, was Huchel nur zu einer lakonischen Replik veranlaßte: »Sehen Sie, Herr Hager, in einem Manuskript hätte ich Ihnen das Adjektiv »englisch« sogleich gestrichen.«
Im Jubiläumsheft von Sinn und Form (Nr. 1/1999) erinnerte der derzeitige Chefredakteur Sebastian Kleinschmidt an die Anfänge der Zeitschrift, an die stets prekäre Lage Huchels, der in seinem Bemühen um ästhetische Autonomie immer heftiger angefeindet wurde und schließlich 1962 unter dem organisierten Druck der Kulturbürokratie die Chefredaktion niederlegen mußte. Nach seinem Rücktritt wurde Huchel in seinem Haus in Wilhelmshorst bei Potsdam vollkommen isoliert, man konfiszierte seine Post, bespitzelte seine Gäste und verwahrte den Dichter in einem nie erklärten, gleichwohl jahrelang exekutierten Hausarrest.
Um dem lästigen ästhetischen Widerstand ein für alle Mal vorzubeugen, berief man den beinharten SED-Parteisoldaten und Dogmatiker Wilhelm Girnus zum Nachfolger von Huchel. Stephen Parker rekonstruiert im Jubiläumsheft die achtzehnjährige Regentschaft von Girnus, der entgegen seiner lautstark bekundeten Linientreue die Zeitschrift nicht auf den Pfad des »sozialistischen Realismus« zurückführte, sondern immer wieder Texte in die Zeitschrift einschleuste, die SED-Parteitage Alarm schlagen ließ. Unter Girnus erschien in Sinn und Form zum Beispiel Volker Brauns Unvollendete Geschichte, die die absoluten Tabus von Republikflucht und Stasi thematisierte - ein Skandal, der Sinn und Form und Girnus beinahe die Existenz kostete.
»Die Geschichte der Zeitschrift«, so resümiert Kleinschmidt in dem eigens zum Jubiläum erstellten Auswahlband Stimme und Spiegel, der Texte von insgesamt 56 autoren versammelt, sei auch »eine Chronik von Bewußtseinslagen«. War es schon Huchels Bestreben, die unterschiedlichen Denkströmungen seiner Epoche miteinander zu konfrontieren, so verfolgt auch sein vierter Nachfolger Kleinschmidt das Ziel, die Geistesgeschichte der Gegenwart auszuloten. Dominierten in den Anfangsjahren von Sinn und Form noch die Denker des Marxismus, so hat sich die Zeitschrift nach der Wende radikal geöffnet und druckt nun mit auffälliger Vorliebe die Protagonisten eines philosophischen wie auch poetischen Konservativismus. Wo früher Bertolt Brecht, Georg Lukacs, Ernst Bloch und Hans Mayer zu den federführenden Autoren gehörten, findet man heute Essays des Heidegger-Schülers Hans-Georg Gadamer, Manifeste der Daseinsverzweiflung aus der Feder des Existenzphilosophen E.M. Cioran oder auch Tagebuchaufzeichnungen von Ernst Jünger, die 1993 einige altlinke Freunde von Sinn und Form gewaltig in Rage brachten. Die starke Dominanz von Beiträgen aus den Jahren 1993 bis 1998 im Auswahlband erscheint fast als demonstrative Absetzungsbewegung von der Welt- und Geschichtsbetrachtung der frühen Sinn und Form-Jahre.
Im Jubiläumsheft übernehmen den Part der geschichtsphilosophischen Reflexion vor allem Lyriker: Volker Braun, der poetische Korrespondenzen zwischen Modezar Karl Lagerfeld und blutigen Diadochenkämpfen im römischen Kaiserreich herstellt, kehrt ebenso wie Durs Grünbein zurück in die römische Antike; Heinz Czechowski besingt in seiner schwer melancholischen Sauerländischen Elegie nicht nur den eigenen physischen wie psychischen Ruin, sondern auch den Untergang seiner alten DDR-Welt.
In seinem Versuch über die »Kulturzeitschrift als Idee«, einer Positionsbestimmung aus dem Jahr 1989, unternimmt es Kleinschmidt in sehr gravitätischem Ton, »die philosophische Berechtigung der Sinnfrage« zu verteidigen. Die Emphase, mit der hier die Metaphysik gegen den angeblich neu anbrandenden »Nihilismus« ins Feld geführt wird, erinnert an die heroischen Zeiten der Philosophie: »Offenbar ist das nihilistische Moment des menschlichen Geistes im Aufwind, während die ätherischen Substanzen, woraus sich aller Sinn nährt, nämlich Religiosität und Poesie, schwinden.« Das klingt sehr feierlich und sehr entrückt - als könne man die geistige Situation der Zeit mit den alten Denkfiguren von Hermeneutik und Existenzphilosophie auf den Begriff bringen. Daß unterdessen der von Kleinschmidt avisierte »abgeschlossene Deutungszusammenhang der Welt« längst zersplitteert und bis in kleinste Sinn-Partikel fragmentiert ist - das will man in Sinn und Form kaum wahrhaben. Lieber schlägt man sich mit philosophischen Oppositionen von vorgestern herum, als könne man »den Ernst und das geistig Vornehme«, mit dem ein Huchel die Zeitschrift führte, ungebrochen wiederbeleben. Andererseits ist das altmodische Beharren auf Ideen-Geschichten auch eine Tugend: Es gibt dem Denken im Zeitalter postmoderner Verflüchtigungen wieder Festigkeit und Kontur.
Sebastian Kleinschmidt (Hrsg.): Stimme und Spiegel. Fünf Jahrzehnte Sinn und Form. Eine Auswahl. Aufbau Verlag, Berlin 1998, 640 Seiten, 78,- DM
Sinn und Form, Heft 1/1999, Aufbau Verlag, 200 Seiten, 12,50 DM
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.