Die Vergesslichkeit des Visionärs

Türkei Davutoğlu wagte es, mit den Flügeln zu schlagen, ohne Erdoğan um Erlaubnis zu bitten. Nun musste er zurücktreten
Ausgabe 19/2016
Ob man mit Davutoğlu-Schals noch Geld machen kann?
Ob man mit Davutoğlu-Schals noch Geld machen kann?

Bild: Ozan Kose/AFP/Getty Images

Was passiert eigentlich in einem Land, in dem ein Premier mit den Worten „Es ist zwar nicht meine Präferenz, aber es entstand eine Zwangslage“ zurücktritt? Immerhin wurde dessen Regierung erst vor einem halben Jahr mit einem Stimmenanteil von 49,5 Prozent gewählt. Ich ahne Ihre Antwort: Das bringt Schwung in die Politik! Schließlich kann die Mehrheitspartei im Parlament einen neuen Kandidaten für das Amt nominieren. Allerdings handelt es sich um die Türkei. Deshalb ist Ihre Antwort falsch.

In diesem Land herrscht Tayyip Erdoğan als Führer der seit 2002 allein regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) konkurrenzlos. Schon 2001, vor dem Machtantritt, hatte Erdoğan formuliert: „Die Demokratie ist eine Straßenbahn. Wir steigen aus, wenn wir die Endstation erreicht haben.“ Nach dem Wahlsieg vom 1. November 2015 war er wohl überzeugt, dass es Zeit sei, die Bahn zu verlassen. Ein Präsident, der den Staat repräsentiert, hält ein aus Premier und Ministern bestehendes Kabinett eher für einen Hemmschuh als für eine Hilfe. Erdoğan möchte schließlich ein Präsident sein, der mehr Befugnisse beanspruchen kann als Barack Obama, obgleich der Gesetzesvorlagen des Kongresses per Veto blockieren darf. Denn der Präsidialstaat türkischer Prägung verkörpert ein „neues Regime“, auf das Erdoğan energisch zusteuert, indem er sich lästiger Fesseln der Gewaltenteilung entledigt. Man nennt das in der Regel Autokratie. Wem das als Definition nicht reicht, der muss sich vertrösten lassen. Noch ist es schlicht unmöglich, die Frage zu beantworten, wohin die Reise geht, ohne gleich auf asiatischen Despotismus zu verweisen.

Erdoğan strebt nach einem Sultanat, das nicht so genannt wird. Die einst von der Republik Kemal Atatürks verfügte Abschaffung des Kalifats hat in seinen Augen zu einem großen Verlust geführt, den es zu überwinden gilt. Nur so lässt sich sein Wunsch erfüllen, ein religiöser und politischer Führer der islamischen Welt zu sein. Wer nach der Kompetenz, der theologischen und ideologischen Basis, fragt und daran erinnert, dass der türkische Staatschef nur über das Diplom einer Handelshochschule verfügt, lebt auf Abruf. Ahmet Davutoğlu musste genau das erfahren. Er kompensierte die Mängel Erdoğans, war zunächst sein Berater, dann sein Außenminister und zuletzt sein Ministerpräsident. Er ist Professor für Politikwissenschaft und Autor des Buches Strategische Tiefe, das die Wiedergeburt des Osmanischen Reichs, das einst die islamische Welt führte, als Werk des Türkentums propagiert. Davutoğlu scheint leidenschaftlich daran zu glauben, dass dies möglich sei.

Ein strategischer Visionär wie er machte nicht nur Anstalten, Chefideologe der AKP zu sein – er war es. Also standen sich der machtversessene, charismatische, aber unbelesene Erdoğan und der weise Großwesir Davutoğlu gegenüber. Letzterer versuchte unablässig, mit den Flügeln zu schlagen. Sei es durch den Flüchtlingsdeal mit der EU oder eine Innenpolitik, die einer Lösung der kurdischen Frage die Türen nicht vollends verrammelt. Auch wollte er, dass Provinzgliederungen der AKP über ihre Führungen selbst entscheiden. Er wagte dies alles, ohne Erdoğan um Erlaubnis zu bitten. So tollkühn kann ein türkischer Premier nur sein, wenn ihm entfallen ist, wo er seinen Regierungsgeschäften nachgeht. Die Endlichkeit seines Tuns war eine Frage der Zeit.

Aydın Engin ist Theaterautor und Journalist. Er lebt in Istanbul

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