In diesen Tagen hat das Fritz-Bauer-Institut die Verschriftlichung des Tonbandmittschnitts des Frankfurter Auschwitz-Prozesses von 1963 bis 1965 beendet und auf einer Daten-DVD veröffentlicht. Die "Strafsache 4 Ks 2/63 gegen Mulka u.a." war der bis dahin umfangreichste Schwurgerichtsprozess der Bundesrepublik. Ein Journalist, Thomas Gnielka, hatte 1959 das Verfahren ins Rollen gebracht, als er dem Hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer Dokumente mit den Namen von 37 SS-Männern übergab, die nach Aussage eines Überlebenden Häftlinge "auf der Flucht" erschossen hatten. Bauer, ein heimgekehrter jüdischer Emigrant, hatte nun den notwendigen Anlass, ein großes, die Verbrechen von Auschwitz aufklärendes Verfahren einzuleiten, für das sich die Geric
richte der Bundesrepublik bislang stets als nicht zuständig erklärt hatten.Die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Frankfurt am Main trug eine 700-seitige Klageschrift gegen 22 Angeklagte zusammen, die man ausfindig machen konnte: von einem Adjutanten des Lagerkommandanten bis zu einem Kapo der Strafkompanie. Das Verfahren wurde im Dezember 1963 im Römer, dem Frankfurter Rathaus eröffnet und nach einigen Monaten in einen eigens errichteten, noch größeren Saal verlegt. Im Dezember 1964 reiste das Gericht zum Ortstermin, der sogenannten Augenscheinseinnahme, nach Auschwitz, eine in Zeiten des Kalten Krieges höchst heikle Unternehmung.183 Tage wurde verhandelt, 360 Zeugen wurden gehört, davon 181 Überlebende, 48 SS-Leute aus Auschwitz, 35 weitere SS-Leute und 55 übrige Zeugen. Im August 1965 wurden die Urteile gesprochen: sechs mal lebenslänglich für erwiesene Morde, elf Zuchthausstrafen für Beihilfe zum Mord, drei Freisprüche. Weil, so das Gericht, das deutsche Strafrecht den Tatbestand des organisierten Massenmords nicht gelten lasse, musste jeder einzelne Mord bewiesen werden; ansonsten blieb nur die Verurteilung wegen Beihilfe.Der Prozess fand unter großer Beteiligung der Öffentlichkeit statt; die nationale und internationale Presse entsandten Korrespondenten und druckten regelmäßig Berichte. Auf der Zuschauertribüne saßen neben Rentnern und Schülern auch Philosophen und Schriftsteller, häufig aufgefordert vom Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld. Günter Anders, Hannah Arendt, Peter Edel, Günter Grass, Karl Jaspers, Marie Luise Kaschnitz, Martin Walser, Peter Weiss und andere verarbeiteten oft noch während des laufenden Prozesses ihre Erfahrungen literarisch und publizistisch.Der Prozess ist seit langem gut dokumentiert: Die gesammelten Berichte des FAZ-Gerichtsreporters Bernd Naumann erschienen schon 1965 als Taschenbuch, kurz darauf eine zweibändige Publikation des Internationalen Auschwitz-Komitees. Eine entscheidende Quelle war in Vergessenheit geraten: der 430-stündige Ton-Mitschnitt von großen Teilen der Verhandlung, angefertigt "zur Stützung des Gedächtnisses des Gerichts", der nach Abschluss des Verfahrens eigentlich gelöscht werden sollte, aber auf Intervention von Überlebenden erhalten blieb. Das Frankfurter Fritz-Bauer-Institut hat die Bänder nun sorgfältig transkribiert und, ergänzt durch umfangreiche Materialien, im Medium DVD herausgegeben. In herkömmlichen Medien wäre diese Menge an Details in 60 Druckbänden und 350 Hör-CDs begraben worden.Die Transkription, ergänzt durch die Mitschrift des beisitzenden Richters, ist auf 32.000 Seiten der Kern der DVD. Diese Textmenge mag strukturell ebenso unfassbar erscheinen wie die Verbrechen von Auschwitz, aber ihre Veröffentlichung erlaubt jetzt die wohl einzig sinnvolle Haltung von uns Nachgeborenen: das Interesse am Detail. Mit Hilfe der Suchsoftware der Digitalen Bibliothek, die sonst Klassische Literatur, Lexika oder Wörterbücher erschließt, lassen sich im uferlosen Archipel Auschwitz überraschende Einzelheiten ansteuern. Begriffe aus dem Alltag werden zu Schlagwörtern des Grauens: Über das Stichwort "Theater" etwa gelangt man zum Aufbewahrungsort für das Zyklon B: das zweckentfremdete Theatergebäude des Lagers. "Fußball" führt zum SS-Rottenführer Baretzki, der an der Rampe ein Neugeborenes wie einen Ball hin- und herkickte. "Winter" verweist auf die Aussage des Zeugen Jehuda Bacon, der als Vierzehnjähriger Asche aus den Krematorien auf die vereisten Wege in Birkenau streuen musste.Mit der Suchmaschine lässt sich auch nachvollziehen, wie Peter Weiss sein szenisches Oratorium Die Ermittlung komponiert hat. Aber mit ausgewähltem Tonmaterial von über 100 Stunden Länge wird die DVD selbst zum dokumentarischen Hörspiel: Die bewegende Erzählung des Zeugen Otto Wolken vom Anführer einer Kindergruppe, der auf dem Weg ins Gas den SS-Bewachern prophezeite, sie würden so krepieren, wie man die Kinder krepieren lasse. Die pathetisch-wortkargen Schlussbemerkungen der Angeklagten, mit der sie bis zuletzt auf ihrer Opferrolle beharren. Die tränenerstickte Stimme des Vorsitzenden Richters am Ende seiner elfstündigen Urteilsbegründung.40 Jahre nach dem Prozess haben die Stimmen der Opfer und Zeugen, der Täter und Richter eine Qualität gewonnen, die poetisch zu nennen erlaubt ist, weil sie im Detail ihrer Körperlichkeit das Gedächtnis bewahrt, das uns aufgegeben ist. Die DVD zeigt das doppelte Bild der Geschichte: Sie zeugt von unvorstellbarer Vergangenheit und dem Versuch ihrer Bewältigung durch die Justiz.Der Auschwitz-Prozeß - Tonbandmitschnitte, Protokolle und Dokumente. Hrsg. vom Fritz-Bauer-Institut und dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau. Digitale Bibliothek Band 101, Berlin 2004, 45 EUR