Diese Franzosen

A–Z Am 14. Juli feiert sich Frankreich wieder einmal selbst. Zurecht, denn Franzosen sind wahnsinnig eitel, sentimental und Meister im Meckern – genau dafür lieben wir sie
Ausgabe 28/2015

A

Amour Meine erste große Liebe hieß Jean-Pierre Lemaire, wir verloren uns aus den Augen, sogar Facebook ist machtlos. Also wenn Sie was wissen: J.-P. stammte aus Lille, Nordfrankreich, und war stationiert in meiner Heimatstadt Wittlich. Man traf ihn in der Stadtkneipe, wo er für gewöhnlich Zigarillo rauchte und dazu einen Martini bianco trank. Passend dazu: die tiefgründigen Tränensäcke unter den schönen blauen Augen (➝ Fabulös). Ich war unsterblich verliebt. Schrieb ihm ein Gedicht auf Schulfranzösisch (mit Martini und Zigarillorauch). J.-P. aber wollte mich nicht. Denn: was für ein Klischee! Die Deutsche und der Soldat. Das Label Kasernenflittchen war ja in der Provinz noch durchaus gebräuchlich. Einmal klingelte doch das Telefon. Ob ich mit ihm für ein paar Tage in die Bretagne reisen würde, es wurde die erste Reise überhaupt allein mit einem Mann. Der Vater: gefasst. Nach dem Abitur ging ich nach Paris, er nach London zum Studium. Es war schon lange vorbei, da besuchte er mich zum Weinfest. Verliebt war ich da immer noch. Katharina Schmitz

B

Baguette Da steht er, der traurige Künstler. Baskenmütze auf dem Kopf, ein Baguette unterm Arm. Zwei nationale Symbole – mit ihrer Hilfe müsste er, der Amerikaner in Paris, doch zum Franzosen werden. Leider wird es nichts, das Baguette, dieser mythische Zauberstab, hat seine Kraft verloren. Es ist, was es ist: ein Stück Teig. Und so bleibt Joe Berlin unerlöst, der traurige Autor aus Woody Allens Paris-Elegie Alle sagen: I love you (1996). Dafür aber: Sanfte Melancholie, die Erinnerung an Zeiten, als die Franzosen noch die Welt verzauberten. Immerhin, Joe Berlin hat es ganz an den Anfang eines wunderbaren Buchs der Historikerin Ludivine Bantigny geschafft. Ein Text über die gestresste Nation im Zeitalter der Globalisierung (➝ Parisien, le). Das Baguette: auch für Bantigny Anlass zur großen Melancholie à la française. Kersten Knipp

E

Eitelkeit In den Einführungen in die Nouvelle Philosophie, die ich in der Blütezeit meines Lebens gelesen habe, wird lang und breit erklärt, ob einer noch dem Strukturalismus angehört oder doch schon dem Poststrukturalismus oder beidem nicht mehr und Neuer Philosoph genannt werden muss, weil der Mensch und nichts anderes im Zentrum seines Denkens steht. Nur eines kommt nie zur Sprache: seine Eitelkeit (➝ Lebensart). Dabei ist sie doch offenkundig (aber wir wissen aus der Psychoanalyse, dass das Offenkundige oft verschwiegen wird) und alle Denkrichtungen übergreifend. Philosophisch ausgedrückt: eine Universalie! Warum wird sie verschwiegen?

Leider empfindet man die Eitelkeit, la coquetterie, hierzulande immer noch als schlimm. Ein Denker darf nicht kokettieren, tief und ernst muss er sein. Deutscher Geist versus französische Frivolität: siehe Thomas Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen. Nun, deutscher „Tiefsinn“ hat einen ganzen Kontinent in die Katastrophe gerissen, Pariser Eitelkeit führt im schlimmsten Fall zu den offenen Hemdkragen eines Bernard-Henri Lévy. C’est ça, la différence. Michael Angele

F

Fabulös Das Chanson, es ist ein kleines Drama. Mon ➝ Amour oder Adieu, in drei Minuten. Sie hat „Augen wie ein Revolver“, sang Marc Antoine. Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass ich gehe, besänftigte Serge Gainsbourg. Aber man muss ein Chanson gar nicht singen. Worte, wie die von Michel Piccoli in La chanson d’Hélène, sind auch so bittersüße Waffen. Die Flugzeuge werden ohne uns abfliegen – les avions partiront sans nous. Poetisch, brutal. Juliette Gréco oder Jacques Brel sind die alten Meister der Abschiede. Und les filles, wie die neuen Sängerinnen genannt werden, tragen das Drama weiter, aber weniger theatralisch: Je ne sens plus ton amour – eine nonchalante Tristesse der Coralie Clément. Maxi Leinkauf

H

Hässlichkeit Es gibt ja nicht überall Landcharme oder Meerblick in Frankreich. Auch hier sind menschenfeindliche Stadtplaner und Architekten am Werk gewesen. Geschaffen haben sie: Grauen aus Beton, der flüchtige Blick verwechselt ihn mit futuristischer Architektur. Das weiß, wer schon einmal durch Mulhouse „flaniert“ ist. Aber: Eine verführerische Atmosphäre (➝ Fabulös) geistert noch durch den traurigsten Gebäudekomplex und kann manchmal von Menschen mit Leben und Identität gefüllt, irgendwie nutzbar gemacht werden, und sei es durch den Parkoursläufer (französisch traceur), der mit seiner Kunst urbane Räume neu interpretiert. Benjamin Knödler

L

Lebensart Manchmal stehle ich mich in der Mittagspause davon und setze mich allein in ein verstecktes Lokal. Dort bestelle ich mir zum Essen ein Glas Wein. Am liebsten nur 0,1. Einen Chablis (aus der Region Burgund) zum Beispiel, oder einen Muscadet (von der Loire). Das Pichet, das Glaserl Mittagswein, ist eine der wunderbarsten kulinarischen Traditionen, die Frankreich hervorgebracht hat (➝ Schönheit). Es macht aber auch Spaß, ein bisschen Grande Dame zu spielen. Diese Wasser- und Eisteetrinker überall – so traurig. Ich gebe zu: Minimal angeschickert bin ich später schon, dafür stellt sich eine elegante Egalheit ein, wenn Hektik in der Redaktion ausbricht. Wer behält da den Kopf oben? Die Französin in mir. Katja Kullmann

M

Meckern „Putain, Ça fait chier!“ Wenn Sie versucht sind, des Franzosen liebsten Satz ins Deutsche zu übersetzen, dann rate ich am ehesten zu „Es kotzt mich an!“, um allzu vulgäres Vokabular aus dem fäkalen Bereich zu vermeiden. Franzosen sind von jeher ausgemachte Meister in der Kunst des Angekotztseins, und Anlässe gibt es dafür wahrlich genügend. Angefangen beim Wetter (zu kalt, zu heiß) über politische Reformen – zu lax, zu weitreichend (➝ Volkssport) – bis hin zur eigenen Mentalität (nur am Meckern!).

Der râleur, der Schimpfende, sieht sich dabei allerdings in der Traditionslinie der kritischen Denker à la René Descartes. Seine Maxime lautet demnach „maledico ergo sum“, ich schimpfe, also bin ich. Die Reinform des Homo meckerus gibt es natürlich in der Hauptstadt zu observieren. Vor ihrer Misanthropie warnen einige Pariser mit dem T-Shirt-Aufdruck „J’aime rien, je suis parisien“ (Ich liebe nichts, ich bin Pariser). Aber keine Angst. Bevor in Frankreich die Guillotine zum Einsatz kommt, um sich unliebsamer Zeitgenossen zu entledigen, wird vorher noch darüber gemeckert werden, dass das Fallbeil an der völlig falschen Stelle steht. Romy Strassenburg

P

Parisien, le Berlin hat den Hipster, Paris seinen Bobo. Der Bourgeois-Bohémien wird gleichzeitig gehasst und gehypt. Ihm wurden ganze Abhandlungen gewidmet, doch er bleibt ein geheimnisvolles „Zwitterwesen zwischen Hippie und Yuppie: urban, weiß, kultiviert, auf der Suche nach Versöhnung zwischen bürgerlichen und unkonventionellen Lebensweisen“ (David Brooks). Bobo kann alles sein: Essen, Kleidung, Menschen. Die Bobo-Republik ist entpolitisiert und lebt nach den Spielregeln des Kapitalismus. Aber die Scheißgentrifizierer, die Kunstkacke- und Medienfuzzis, die stylischen Anwälte und Loftbewohner sind auch ein wenig charmant, nicht zuletzt kann man wunderbar auf sie schimpfen (➝ Meckern). Das Bobo-Bashing boomt, drum lang lebe der Bobo! RS

R

Rugby Während der Fußball bei uns alle anderen Sportarten zu Randerscheinungen degradiert hat, haben die Franzosen – ganz Republikaner – zwei große Ballsportleidenschaften. Sie lieben Fußball und Rugby. Besonders im Süden des Landes ist Rugby beliebt. Frankreich ist neben Italien das einzige Land auf dem europäischen Festland, das an den Six Nations teilnimmt, quasi die Rugby-WM der Nordhalbkugel. Sogar im Frauenrugby ist Frankreich Vorreiter. Als Eurosport dieses Jahr zum ersten Mal eine Partie der Top Acht der Frauen live übertrug, übertrafen die Einschaltquoten alle Erwartungen. Rugby gilt hierzulande als brutal und körperbetont, man könnte aber auch sagen: konfrontativ und leidenschaftlich. Also genau das, was wir den Franzosen gern nachsagen. Sophie Elmenthaler

S

Schönheit Schon als Kind war klar: Eine Elfe werde ich nie. Neben meinen Freundinnen fühlte ich mich wie ein hässlicher, dicker Gnom. Der erste Frankreich-Urlaub: entsetzlich! Diese Anhäufung von grazilen Schönheiten am Strand war überwältigend und deprimierend. Folgt man dem Ansatz von Mireille Guiliano (Warum französische Frauen nicht dick werden, 2013), lässt sich das Phänomen auf „keine Snacks zwischendurch“ (➝ Baguette) reduzieren. Kann das alles sein? Vielleicht ist es mehr die Mischung aus Laissez faire und dem Genießen als Lebensprinzip? Schönheit und Selbstbewusstsein durch Grundentspannung, das kann man doch hinkriegen! Denn: Wahre Schönheit kommt doch von innen. Jutta Zeise

V

Volkssport Die Franzosen streiken gern, wer würde das bestreiten. In einem Land, das seit 1789 ein Revoluzzer-Image trägt, gehört das Recht auf Arbeitsstreik schlicht zum Selbstverständnis. In Frankreich fielen etwa zwischen 2005 und 2012 im Durchschnitt jährlich pro 1.000 Einwohnern 139 Arbeitstage wegen Streiks aus. In Deutschland waren es dagegen zahme 16 Arbeitstage. Und auch der Generalstreik, die Königsform aller Arbeitsniederlegungen, ist in Frankreich beliebt. 2006 und 2009 wurde das Land komplett lahmgelegt, um gegen umstrittene Arbeitsmarktreformen beziehungsweise Sarkozys Krisenpolitik zu demonstrieren (legendär auch François Ozons Film Das Schmuckstück von 2011 mit Catherine Deneuve als Gattin des Firmenchefs im roten Adidas-Jogginganzug und Gérard Depardieu als Gewerkschaftsführer).

Die Streikneigung ist nicht nur kein Problem, sondern eine Tugend. Wenn Beschäftigte eine starke Gewerkschaft hinter sich wissen, dann ist das gut. Genauso wie eine Bevölkerung, die sich stark macht gegen eine Politik, die sozial nicht verträglich ist, die auf Probleme aufmerksam macht, und in der der Streik als Mittel zum Zweck anerkannt ist. Das kann man hier gern mehr beherzigen. Bejamin Knödler

Z

Zentralismus Anstatt sich regional zu verästeln oder in verschiedene Institutionen aufzuspalten, entscheidet die Regierung von Paris aus. Dieses Strukturprinzip ist schon aus pragmatischen Gründen den föderalistischen Ansätzen vorzuziehen. Denn demokratisch gewählte Entscheidungsträger können regieren, ohne durch Ausreden à la „Bildungspolitik ist Ländersache“ – man denke an Zentralabiturdiskussionen – ausgebremst zu werden. „Not in my Backyard“-Gerangel um Flüchtlinge oder Atommüll wird umgangen. Schlagendes Argument: Allein dass es im Zentralismus keine Extrawurst wie ein CSU-Bayern gibt, macht ihn sympathisch. Tobias Prüwer

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