Diese Gegenwart braucht Gegenmacht

Eine andere Welt ist nötig Die globalisierungskritische Bewegung ist auf dem Weg, ein globaler Akteur zu werden

Siebzig bis achtzig Prozent der Deutschen sehen im Widerspruch zwischen Reich und Arm den entscheidenden Konflikt in ihrem Land. Sie sehen, wie sich soziale Kälte ausbreitet und Hass gegen alle jene richtet, die aus dem »Rahmen« fallen - durch ihre politische Orientierung, ihre Hautfarbe, sexuelle Neigung oder weil sie weder Kraft noch Lust haben, sich bruchlos dem alltäglichen Räderwerk zu fügen. Noch kann die Mehrheit mithalten in diesem Wettbewerb um ein Überleben in Wohlstand, doch täglich wird es schwerer, wird mehr an Anpassung, Unterordnung und Vermarktung gefordert. Fast alle glauben, dass die Gesellschaft sich grundsätzlich verändern muss - und doch hält es kaum jemand für möglich. Das Weltsozialforum in Porto Alegre - es fand zum dritten Mal hintereinander in Brasilien statt und fand mit 100.000 Teilnehmern eine so starken Zuspruch wie nie zuvor - wirkte da wie ein Kontrastprogramm zur depressiven Stimmung in Deutschland und anderswo.

In Brasilien war zu spüren, wie sich Widerstand gegen die Zumutungen des globalen Kapitalismus artikulieren kann, wenn es nicht um abstrakte Programme sozialer Transformation, sondern konkrete Erfahrung geht. Wenn beispielsweise ein Unternehmen wie der französische Konzern Vivendi derzeit in 120 Ländern aktiv ist und alles tut, um durch Privatisierung das Lebenselixier Wasser als Ware handeln zu können, dann stößt das in vielen Ländern auf Widerstand. Der ist konkret, der ist immer lokal, wird aber um so stärker, je mehr überall die Gewissheit besteht, dass es sich um eine globale Attacke einer transnationalen Firma auf eine natürliche Ressource aller handelt, die einer globalen Antwort bedarf.

Das Weltsozialforum 2003 hat insofern gezeigt, dass die emanzipativen sozialen Strömungen in Nord und Süd ein verändertes Verhältnis zueinander finden. Es dominiert nicht mehr die klassische Solidarität derjenigen, die sich für Menschen einsetzen, denen es schlechter geht, sondern ein gemeinsamer Kampf an verschiedenen Fronten. Ein Kampf, der in Solidarität zueinander geführt wird, indem man vom Anderen lernt und dessen Erfahrungen nutzt. Die Bewegung der Landlosen in Brasilien (MST) oder die Zapatisten im Süden Mexikos können so der misslichen Lage entgehen, als Ikonen verehrt zu werden.

Natürlich war der drohende Irak-Krieg eines der zentralen Themen, aber im Gegensatz zur Debatte in Deutschland wurde hier weniger Wert auf die Feststellung gelegt, dass ein solcher Krieg eine äußere Bedrohung unseres ach so friedlichen Lebens ist, sondern systematisch vom neoliberalen Kapitalismus erzeugt wird und sehr viel mehr erfasst als gemeinhin wahrgenommen wird. Er beginnt mit der täglichen Zerstörung der natürlichen Umwelt und sozialer Existenzen, je nachhaltiger vorhandene Systeme der sozialen Balance und Bildung revidiert werden. Auch wenn derartige Urteile überwiegend Konsens finden, lässt sich das Weltsozialforum auf keinen »Nenner« bringen. Deutlich wird vor allem eine immense Verdichtung und Reflexion von Erfahrungen. Viele der kleinen Workshops zu spezifischen Themen stellen einen intensiven Austausch von Einsichten und kontroversen Sichtweisen dar. Große Meetings wie die testimonios - die persönlichen Berichte eines Samuel Ruiz, des einstigen Bischofs von Chiapas, des Fotografen Sebastiao Salgado, von Eduardo Galeano, Arundhati Roy und Noam Chomsky - waren Zusammenkünfte, an denen teilweise Zehntausende teilnahmen, sie erzeugten eine Atmosphäre globaler Gemeinsamkeit im Widerstand und boten streitbar übergreifende anti-neoliberale Deutungen an. Zum Weltsozialforum gehören auch Tausende von brasilianischen Jugendlichen aus einer neuen hellwachen Generation jenseits der alten Kämpfe und Feindschaften.

Ohne Zweifel hat die Regierungsübernahme des linken Partido dos Trabalhadores (PT) in Brasilien immense Hoffnungen bei der lateinamerikanischen Linken geweckt, ohne dass sie dadurch in Illusionen verfallen wäre. Präsident Lula da Silva kam vor seinem Flug zum Weltwirtschaftsforum in Davos nach Porto Alegre. Der PT macht deutlich, dass eine Partei - wenn überhaupt - nur dann nicht der staatlich-herrschaftlichen Logik zu verfallen droht, wenn sie aus breiten und streitbaren Strömungen hervorgeht und diese wiederum ihre Autonomie und Macht nicht deshalb aufgeben, weil ein Partido dos Trabalhadores regiert, sondern sie mit eigenen Strategien weiter offensiv für ihre Ziele streiten.

Das Weltsozialforum lebt von Spannungen, die nicht aufgelöst werden, noch aufgelöst werden sollten. »Porto Alegre droht«, - zwar nicht im Bewusstsein der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, aber in der Öffentlichkeit - symbolisch die vielfältigen emanzipativen Kämpfe unseres Globus zu zentralisieren. Hier - so die schiefe Wahrnehmung - ist globaler Protest, hier ist die Suche nach Alternativen. Das würde aber vieles Andere, nicht Anwesende entwerten und lässt vergessen, dass Porto Alegre nur möglich ist, weil es eine Vielfalt sozialer Kämpfe gibt.

Eine zweite Spannung innerhalb des Forums ergibt sich aus der Rolle der Intellektuellen. Sie geben Orientierung und sind als Begründer alternativer Paradigmen gegen die Mythen des Neoliberalismus unverzichtbar. Damit ist Porto Alegre aber auch ein Jahrmarkt der Eitelkeiten, auf dem die Stars »gemacht« werden und Profilierungssucht manchmal über den Erkenntnisgewinn siegt.

Eine dritte Spannung schließlich erzeugt der Widerspruch zwischen dem starken Bedürfnis nach Herausbildungen einer gemeinsamen Identität und den sich entwickelnden Streitkulturen. Es ist ein mühsamer Prozess, bestehende Differenzen auszutragen, ohne sie zu unterdrücken. Aber es ist der einzig mögliche alternative Weg.

So bleibt als Fazit, die globalisierungskritische Bewegung auf dem Weltsozialforum sieht sich heute nicht mehr allein als Gegenveranstaltung zum Weltwirtschaftsforum in Davos. Sie ist vielmehr selbst zu einem globalen Akteur geworden, der imperialen Großmächten von den USA, der EU, über die WTO, den IWF und die Weltbank, bis zu transnationalen Unternehmen und anderen Akteuren des Neoliberalismus jede Legitimität abspricht, im Namen des Gemeinwohls, der Freiheit und Demokratie zu handeln. In Porto Alegre und an vielen anderen Orten der Welt trifft sich diese Bewegung und stellt sich dar. Das zweite Europäische Sozialforum findet im Herbst 2003 in Paris statt - das Weltsozialforum selbst wird 2004 ins indische Delhi gehen.

Wo vorher nur ohnmächtiger moralischer Protest war, entwickelt sich eine Bewegung von Bewegungen. Wo lange Zeit nur das Unwohlsein vieler Vereinzelter war, entsteht global ein immer dichteres Netz, in dem man sich vor allem der gemeinsamen Sicht auf die imperiale kapitalistische Weltordnung versichert, während in der kollektiven Diskussion alternative Deutungen und Handlungsstrategien entstehen. Darin gehen die täglichen Erfahrungen wie auch ein sich öffnender gemeinsamer Horizont ein. Das macht den Prozess so dynamisch, unberechenbar und spannend. Und das gibt auch die Gewissheit, dass eine andere Welt nicht nur möglich ist, sondern gerade geboren wird - als gelebte Hoffnung, tätiger Widerstand und alternative Praxis.

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