FREITAG: Sie waren vom 29. Mai bis 2. Juni in der Türkei, um den Auftakt des Prozesses gegen Abdullah Öcalan zu beobachten. Ursprünglich sollten Sie zusammen mit Persönlichkeiten wie Dani elle Mitterand und dem israelischen Publizisten und Friedensaktivisten Uri Avnery reisen. Woran ist das gescheitert?
NORMAN PAECH: Es waren bei der Verhandlung nur Plätze für Parlamentarier und Botschaftsangehörige vorgesehen. Die beiden hätten keine Möglichkeit gehabt, als Beobachter dabei zu sein. Ich selbst konnte aus diesem Grund auch nicht direkt beim Prozeß anwesend sein, sondern habe ihn über TV verfolgt. Organisiert wurde das vom Büro ASRIN, der Koordinationsstelle des Verteidigerteams. Beobachter werden von den türkischen Stellen nur
kischen Stellen nur so »dosiert« zugelassen, daß niemand den Prozeß insgesamt verfolgen kann. Es sind nur Stippvisiten möglich.Sie haben diverse Gespräche mit den Anwälten Öcalans führen können. Welche Eindrücke und Informationen vermitteln sie?Der Prozeß steht komplett unter der Kontrolle und Leitung des Krisenstabs beim Ministerpräsidenten, der sich aus Militärs und Ministern zusammensetzt und in letzter Instanz über Haft- und Besuchsbedingungen, Fragen der Prozeßführung bis hin zur Genehmigung von Beobachtern entscheidet. Das Gericht ist also nicht unabhängig. Die Anwälte haben das gleich zum Prozeßauftakt zum Grund ihrer Ablehnung und der Forderung nach Aussetzung des Verfahrens gemacht.Dieser Antrag wurde abgelehnt. Mit welcher Begründung?Es wurde gesagt, derselbe Antrag sei schon einmal vorgebracht worden und zwar in Ankara. Und das Gericht in Imrali sei eine Außenstelle des Staatssicherheitsgerichts dort. Am 30. April hatte es eine Verhandlung gegeben - in Abwesenheit von Öcalan - in der die Anwälte diesen Punkt vortragen wollten. Sie kamen aber nicht bis zum Ende, weil sie von Zuhörern mit Steinen und anderen Gegenständen beworfen wurden. Damit war ihre Anhörung beendet. Deshalb haben jetzt drei der Anwälte gleich zu Beginn des Prozesses ihr Mandat niedergelegt.Gab es neue Behinderungen der Verteidigung?Ja. Zum Beispiel im Fall von Niyazi Bulgan, der repräsentativ für die Situation anderer Verteidiger ist. Am 7. Mai wurde eine Mitarbeiterin seines Büros in Istanbul verhaftet. In ihrem Gepäck befanden sich Anklageschrift, Briefwechsel mit Öcalan und mit dem Gericht, Protokolle, Briefe an die Korrespondenzanwaltschaft in Amsterdam und an den Europäischen Gerichtshof in Straßburg. Das wurde zum Anlaß genommen, sowohl sie als auch den Anwalt wegen Unterstützung der PKK nach § 169 Strafgesetzbuch anzuklagen. Die Mitarbeiterin sitzt jetzt in Untersuchungshaft. Auch ein Verfahren wegen öffentlicher Meinungsäußerung zum Kurdenkonflikt gegen Eren Keskin wurde wieder herausgekramt. Sie soll eine Haftstrafe antreten, seit sie sich bereit erklärte, Öcalan zu verteidigen. Und es gibt weitere Beispiele.Gibt es unter solchen Bedingungen annehmbare Möglichkeiten, Öcalan zu verteidigen?Äußerst begrenzt. Den Anwälten bleibt im Grunde nur, sich dem Verfahren zu unterwerfen. Ihre Anträge werden abgelehnt. Zudem ist die Stimmung in der Bevölkerung auch durch die Berichterstattung der meisten Medien derart aufgeputscht, daß die Verteidiger nicht einmal ein Hotel finden konnten und tageweise ihre Teilnahme am Prozeß aussetzen mußten, weil die wütende Menge sie massiv bedrohte. Jetzt wurden sie unter Polizeischutz in einem halbstaatlichen Gebäude in der Nähe von Imrali untergebracht. Bedingungen, unter denen eine Verteidigungsstrategie faktisch nicht aufgebaut werden kann.Sie kennen Öcalan aus früheren persönlichen Gesprächen, bei denen es um die Auslotung von Möglichkeiten der Beendigung des Krieges in der Türkei ging. Welchen Eindruck hat sein Auftreten vor Gericht auf Sie gemacht?Er selbst sagt, daß er nicht gefoltert worden sei, physisch. Entgegen anderslautenden Presseberichten hatte ich nicht den Eindruck, er sei eingeknickt, gebeugt, flehe nur noch um sein Leben. Ihm ist klar, daß er juristisch keine Chance hat. Deshalb hat er sich für eine ausschließlich politische Verteidigungsstrategie entschieden. Und er sagt klar, daß eine friedliche politische Lösung nicht nur von seinem Überleben abhängig ist. Die Voraussetzung dafür sei »eine Generalamnestie für alle«. Das wurde in der Berichterstattung hier unterschlagen.Öcalan hat Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht. Aber der EGMR hatte bereits in zwei Urteilen festgehalten, daß die Zusammensetzung der Staatssicherheitsgerichte rechtsstaatlichen Standards nicht standhält. Die Urteile sind ignoriert worden. Hinzu kommt, daß in der Türkei demnächst eine Verfassungsreform zu erwarten ist. Warum findet das Verfahren trotzdem statt?Öcalans Anwälte hatten aus diesem Grund beantragt, den Prozeß zunächst auszusetzen. Dieser Antrag wurde, wie alle anderen, abgelehnt. Es hieß, es sei ja ein Zivilrichter anwesend, und solange die Verfassungsreform nicht beschlossen sei, würde man mit dem Militärrichter fortfahren und ihn gegebenenfalls später durch einen Zivilrichter ersetzen. Eine weitere Begründung der Generalstaatsanwaltschaft war, daß der Prozeß obligatorisch in die Berufung ginge und das dafür zuständige Kassationsgericht ja ein ausschließlich ziviles sei. Dessen Urteil ist dann übrigens endgültig.Es ist zu erwarten, daß die Todestrafe verhängt wird. Ist angesichts der hochgekochten öffentlichen Meinung und des Einflusses der rechtsextremistischen »Partei der nationalen Bewegung« (MHP), der zweitstärksten Fraktion im Parlament, noch möglich, eine Vollstreckung des Urteils, der das Parlament zustimmen muß, zu verhindern?Das ist kaum vorherzusagen, denn der Fall soll ja auch noch vor dem Europäischen Gerichtshof verhandelt werden. Der würde mit Sicherheit eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtscharta feststellen. Ich gehe davon aus, daß die europäischen Staaten einen Einspruch des EGMR zum Anlaß nehmen werden, auf die Türkei Druck auszuüben. Ob das gelingt, weiß ich nicht.Der Europäische Gerichtshof kann weder in nationale Verfahren, noch in Schuldsprüche direkt eingreifen. Außerdem sagen Sie selbst, daß Urteile dieses Gerichts in der Türkei kein großes Gewicht haben. Muß man nicht davon ausgehen, daß internationaler Druck gerade in diesem Fall ignoriert würde?Damit würde die Türkei den allerschwersten Fehler begehen. Die EU-Mitgliedschaft würde in weite Ferne rücken. Wenn man sich in Ankara einem Urteil des EGMR auf Aussetzen der Urteilsvollstreckung widersetzt und damit irreversible Fakten schafft, würde das eine Welle der Empörung auch im Europäischen Parlament auslösen. Der Druck, die Türkei aus der EU auszuschließen, würde sehr groß. Aber natürlich beschreibe ich eine Hoffnung, keine Gewißheit.Das Gespräch führte Silke Barra