Beim Durchblättern von Schillers Werk fiel uns eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme des Autors aus dem Jahr 1785 auf. Sie erklärt sich sowohl dadurch, dass er seit Herbst 1784 vom Intendanten des Mannheimer Theaters, vom Freiherr von Dalberg, gekündigt ist, als auch dadurch, dass er sich auf ein ehrgeiziges Projekt dieses Intendanten bezieht. Denn dieser hat "durch anhaltenden Enthusiasmus für die dramatische Kunst (...) seiner deutschen Bühne die schöne Gestalt einer akademischen Stiftung gegeben, um die besten Köpfe der Mannheimer Nationalbühne durch aufgeworfene Preisfragen über die Philosophie ihrer Kunst zu beschäftigen und ihnen auf diese Weise Rechenschaft über ihr Studium und Spiel abzufodern". Was lag näher, als die von Schiller im Stil des Leitfaden-Interviews formulierten Preisfragen an heutige "Köpfe" des Theaters zu stellen? Wir baten also zwei Dramaturginnen, Carena Schlewitt vom HAU, und Bettina Schlütke vom Deutschen Theater, dem arbeitslosen Schiller Rede und Antwort zu stehen, um seine auf "die Schauspielkunst überhaupt und insbesondere auf die bessere Einrichtung aller deutschen Bühnen gerichtete Absicht" mit "neu angestrengten Kräften zu unterstützen".
Gerburg Treusch-Dieter
Dramaturgische Preisfragen
Frage 1: Wodurch verdient ein deutsches Publikum im allgemeinen, und besonders in Rücksicht auf den Schauspieler, das beste Publikum zu heißen?
Frage 2: Kann der Schauspieler sowohl als eine Theaterdirektion dem falschen Geschmack eines Publikums wahre Richtung geben, und durch welche Gattung Schauspiele wird der gute Geschmack am meisten verfeinert?
Frage 3: Gewinnt oder verliert der gute Schauspieler, den man im Tragischen und in Charakterrollen mit Beifall zu sehen gewöhnt ist, dadurch, wenn er sich öfters abwechselnd in komischen Rollen zeigt?
Frage 4: Wodurch unterscheidet sich das wahre komische Spiel von Karikatur? und was muss der Schauspieler tun, um im komischen Fach nie die Grenze zu überschreiten?
Frage 5: Allgemeine und besondere Betrachtungen, Anmerkungen, Erfahrungen, Zusätze und Prüfungen über das neue Werk der Mimik von Engel?
Frage 6: Lässt sich für alle Bühnen Deutschlands ein allgemeines festes Gesetzbuch machen; wie müsste ein solches eingerichtet werden, und welche sind die Mittel, demselben Kraft und Gewicht zu geben? Ich erwarte als eine Beantwortung Skizzen, Gedanken und Meinungen von Ihnen darüber. Die bemerkten Hauptfehler und Gebrechen aller Bühnen können der Leitfaden dazu sein. Vielleicht lassen sich wichtige Vorschläge durchsetzen.
Carena Schlewitt
Keine Frage des Geschmacks
1 Ich wüsste nicht, wodurch ein deutsches Publikum verdienen sollte, das beste Publikum zu heißen. Ist es doch im Allgemeinen ein eher träges, allerhöchstens durch Gewohnheiten gekennzeichnetes Publikum oder ein Publikum, dass sich ähnlich wie in anderen Lebensbereichen auch im Theater gern anfüttern lässt, um überhaupt zu kommen und beispielsweise den Schauspieler - stellvertretend für "das gegenwärtige Theater" - in der ihm vorgegebenen Maske (im Sinne einer Erwartungshaltung) wahrzunehmen. Eine Eigenschaft wie "die Neugierde auf das Theater an sich" einfach so hervortreten zu lassen, ist meines Erachtens beim erwachsenen Publikum weitgehend zurückgebildet. Möglicherweise hat die Neugierde eine Metamorphose erlebt und taucht stärker in Bezug auf messbare Dinge des uns umgebenden Lebens auf. Theater aber wird nie messbar sein - auch wenn es immer wieder Versuche gegeben hat, Raster, Modelle, Regeln zu erfinden, zu beschreiben. Das Theater der Gegenwart befindet sich in der Schere zwischen Museum und Indikator von gesellschaftlichen Themen - ausgeführt zwischen Mensch und Maschine.
2 Ich würde sagen, es gibt keinen falschen Geschmack. Wie das Wort Geschmack schon sagt, hat es mit der ganz individuellen Zunge zu tun und wer kennt schon die Geschmacksnerven des anderen. Aber es gibt natürlich Geschmacksvorlieben, die bedient werden und ganz offensichtlich haben sich hier Mehrheiten und Minderheiten gebildet. Und der Geschmack unterliegt auch Kategorisierungen von außen. Aber das eigentliche Problem besteht doch in dem Anachronismus, dass der Schauspieler im Verbund mit der Theaterdirektion etwas produziert und das Publikum vordergründig zunächst in einer anderen Rolle - der aufnehmenden, der genießenden oder nicht genießenden, in welcher Form auch immer - auf die Arbeit der anderen stößt. Das Publikum weiß gar nicht so richtig, warum es sich Theater anschaut. Die Produzenten wissen zwar nicht, was sie herstellen, aber warum sie etwas herstellen ... Und vielleicht ist der Geschmack nur die Ablenkung von diesem Ungleichgewicht oder der Versuch, etwas zusammenzuführen.
3 Diese Frage fällt mir schwer zu beantworten. Das Tragische, Charakterrollen oder auch das Komische lösen sich fast flächig im gegenwärtigen Theater auf. Musik, Bilder, Pausen können die Stimmungen erzeugen, die man geneigt war, starken Schauspielern zuzuschreiben. Der Schauspieler selbst kann ersetzt werden - und manchmal besser - durch den Zuschauer.
4 Zunächst wüsste ich nicht, was das wahre komische Spiel vom nicht-wahren komischen Spiel unterscheidet. Und was wäre denn der Indikator für das wahre komische Spiel oder für die Karikatur? Lachen - wissendes oder spontanes, explosives Lachen, die Mundwinkel verziehen etc.? Dann glaube ich, dass die Fallhöhen von Ereignissen der Gegenwart - seien es Kriege, Naturkatastrophen, Korruption, aber auch populäre Großereignisse etc. durch die hohen Geschwindigkeiten der medialen Verarbeitung (die parallel dazu auch immer individuell stattfindet) einen Grad von Gewohnheit erreichen, der es fast unmöglich macht, Tragisches und damit zusammenhängend auch Komisches bewusst als Einzelphänomen wahrzunehmen und zu gestalten. Vielleicht gelingt das noch am ehesten, indem wiederum eine Kette von tragischen oder komischen Ereignissen imitiert wird - das Serielle ersetzt den einzigartigen tragischen oder komischen Helden.
5 Diese Konzentration auf einen Schauspieler, seine Mimik, seine Stimme, seine Körperlichkeit hat bei mir vor Jahren aufgehört - vielleicht mit dem Ende der DDR. Da waren Schauspieler für mich noch Träger eines Gesichtes (oder auch "Kontra-Gesichtes" im Sinne einer umfassenden Persönlichkeit gemeint). Vielleicht ist die Mimik eines Schauspielers aber auch zeitlich abgelöst durch die Blockbuster-Gesichter, die wir in uns aufsaugen. Und das Theater beschäftigt sich mehr mit Kulturtechniken aller Art - die stellen ein Gesicht dar, in dem wir uns anders wieder ablesen.
6 Vielleicht sollte man zunächst alle Gesetzbücher auflösen - was auf keinen Fall heißen soll, das Geld zu sperren. Danach sollten wir schauen, welche Ensembles welche Organisationsformen finden - in dem Wunsch, weiter Theater zu machen. Und vielleicht lohnt es sich, in Deutschland die Form der Wanderbühne - sprich heute die Produktions- und Gastspieltheater - ernsthaft wiederzubeleben.
Carena Schlewitt ist Kuratorin am Theater Hebbel am Ufer.
Bettina Schültke
Nicht eigensinnig und unversöhnlich genug
1 Nicht viele Theaterleute werden das deutsche Theaterpublikum heute noch als das beste Publikum bezeichnen. Obwohl die Situation der deutschen Stadttheater (im Hinblick auf Theaterdichte, Ausstattung, finanzielle Möglichkeiten, Kontinuität der Arbeit) im Vergleich zu der in anderen Ländern sehr gut ist, jammern Theaterleute immer wieder über saturierte Zuschauer, die in ihrer Behäbigkeit und in ihren festgelegten Erwartungen, vor allem bei Klassikerinszenierungen, nicht aufgestört werden wollen. Tatsache ist aber, dass das deutsche Publikum auch heute noch den großen Vorteil genießt, auf der Bühne Schauspielern zu begegnen, die es Ernst meinen und die oft auch über die angemessenen Mittel verfügen, um eine Figur in ihrer Tiefe plastisch zur Darstellung zu bringen. Dieser Vorzug, den das deutsche Publikum mit kaum einer anderen Nation teilt, hat im Gegenzug einen Zuschauer hervorgebracht, der die Kunst des Schauspielers noch lesen, genießen und beurteilen kann. Selbst im protestantischen Berlin werden Schauspieler geliebt, zwar nicht so abgöttisch wie in Wien oder München, aber es gibt immer wieder Anrufe an der Theaterkasse, ob ein bestimmter Schauspieler respektive Schauspielerin in einer Inszenierung mitspiele. Natürlich geht es da auch um durch Film und Fernsehen bekannte Akteure, aber es gibt auch Schauspieler, die über die Bühne bekannt wurden. Theaterleute, Schauspieler sind auf das Publikum angewiesen, sie brauchen jeden Abend ihr Publikum, seine Reaktionen, sein Mitgehen, sein Widerstand. Keine Aufführung ist mit der folgenden identisch, weil jedes Mal eine andere Chemie zwischen Bühne und Zuschauerraum herrscht.
2Bei Geschmacksfragen gibt man sich auf unsicheres Terrain, aber ich denke, es ist Aufgabe eines Theaters, "sein" Publikum zu erziehen, d. h. bestimmte Stoffe, Stücke in bestimmten Formen, Ästhetiken zu zeigen. Dieses "Erziehen" ist natürlich immer subjektiv, denn die Themen, von denen ich überzeugt bin, die ich von ausgewählten Regisseuren sehen will, versuche ich durchzusetzen, auf die Bühne zu bringen. Und da macht es einen Unterschied, ob sich das Publikum mit Texten von Heiner Müller auseinandersetzt oder sich bei einer Boulevardkomödie entspannt. Nichts gegen intelligente Unterhaltung, aber nur, wenn das Team eines Theaters eine klare Linie verfolgt, thematische Schwerpunkte setzt und diese auch unbeirrt von der Kritik und vom Publikum über einen gewissen Zeitraum verfolgt, an einzelne Regisseure glaubt und diese nicht nach einem Misserfolg gleich durch andere ersetzt, gewinnt das Theater ein Profil. Das zahlt sich wiederum beim Publikum aus, das dann ein Stück Weges mitgeht, gemeinsam mit den Theaterleuten wächst. Das alles braucht natürlich seine Zeit.
3 Ein Schauspieler, der tragische und komische Rollen auf gleich hohem Niveau spielen kann, kann nur gewinnen. Allerdings ist es selten der Fall, dass ein Schauspieler über diese Doppelbegabung verfügt. Wobei die Festlegung auf ein Rollenfach, früher standen in den Verträgen die genauen Rollenfachbezeichnungen wie zum Beispiel jugendlicher Held, sich heute immer stärker auflöst. Ungewöhnliche Besetzungen, zum Beispiel eine tragische Rolle mit einem Komiker, können neue und unerwartete Sichtweisen auf Figuren eröffnen.
4 Karikatur entsteht immer dann, wenn ein Schauspieler sich nicht in die Ambivalenzen und Zerrreißungen einer Figur rückhaltlos und schutzlos hineinbegibt. Nur wenn ein Schauspieler auch die dunklen, gewalttätigen Seiten ausleuchtet, nicht vor Konflikten und unerledigten Problemen flüchtet, seine Obsessionen und Faszinationen ausstellt und sich nicht dagegen panzert, können verloren geglaubte, tote oder verdrängte Gefühle wieder heraufbeschworen werden. Das kann nicht auf Knopfdruck geschehen, d. h. im Verlauf des Probenprozesses muss eine geschützte Atmosphäre geschaffen werden, die alles zulässt, die dem Schauspieler diese Gratwanderung ermöglicht.
5 Statt Publikationen über Mimik, die sich auf einen speziellen Ausschnitt beziehen, gibt es heute Werke wie die Zusammenstellung Postdramatisches Theater von Hans-Thies Lehmann, der den Versuch unternimmt, alle heute existierenden Formen des Theaters zu erfassen und zu katalogisieren. Das Buch will verdeutlichen, dass in vielen Theaterformen Bühnenbild, Licht, Tanz, unterschiedlichste Textsorten und ihr Einsatz gleichberechtigt neben den Schauspieler treten. Diese scheinbare Gleichwertigkeit der Theatermittel zeigt sich kulturhistorisch in Wellenbewegungen, die mit den Innovationsschüben der das Theater begleitenden Technologien einhergehen. Sind die jeweiligen neuen Technologien entwickelt und in ihren Möglichkeiten ins Theater integriert, rückt immer wieder ins Zentrum, was das Theater zuinnerst ausmacht: der mimetisch spielende Mensch. Ähnlich verhält es sich mit allen anti- und paratheatralischen Totengräberreden auf das Theater: Sie enden genau dort, wo eine neue Technologie vom Theater aufgesogen wurde und der Schauspieler wieder die Macht über die Bühne gewinnt.
6 Mit Gesetzbüchern kommt man am Theater nicht weit, es sei denn, man schreibt fest, dass bestimmte finanzielle Limits nicht unterschritten werden dürften. Ein Gesetzbuch würde davon ausgehen, dass es eine verbindliche vorzuschreibende Ästhetik gibt, das Besondere des Theaters in Deutschland ist aber gerade, dass es so unterschiedliche Theaterformen und Spielweisen gibt, die z. B. von Frank Castorf, über Dimiter Gotscheff, bis zu Andrea Breth reichen. Flexible Organisationsformen festzuschreiben und sich auch von überholten starren Organisationsformen zu verabschieden, ist jedoch sicher notwendig, um die Theater auf Dauer überlebensfähig zu halten. Wichtig ist, Produktionsbedingungen zu schaffen, die die Produktion von Kunst in Freiheit und ohne unnötigen Druck ermöglichen. Das Theater lebt aus der Beziehung zu seinem Publikum und wie in jedem menschlichen Verhältnis spielt dabei die Erotik eine nicht geringe Rolle. Unterwerfung unter den Publikumsgeschmack oder das Diktat der Popkultur bringt dieses erotische Spiel in ernste Gefahr. Wer interessiert sich schon nachhaltig für ein schwaches Gegenüber? Der Hauptfehler der Theater in den letzten Jahren war es, nicht stolz, eigensinnig und unversöhnlich zu bleiben in Bezug auf Themen und Ästhetiken. Diese Haltung hätte das Publikum bald mehr interessiert als das weit verbreitete gehobene Entertainment.
Bettina Schültke ist Dramaturgin am Deutschen Theater.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.