Daniil Granin gehört zu den bedeutendsten russischen Schriftstellern. Mit seinen Romanen Blockadebuch, Das Gemälde oder Peter der Große erlangte er auch international Beachtung. Geboren wurde der heute 85-Jährige im Wolyn bei Kursk. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion meldete er sich 1941 als Freiwilliger und war bis zum Kriegsende Panzerkommandeur der Roten Armee. 1949 wurden seine ersten Erzählungen gedruckt, in denen er seine Erinnerungen als Frontsoldat niederschrieb.
FREITAG: Vor einigen Jahren wurde in Deutschland die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht" gezeigt. Für viele war sie schockierend, da über die Brutalität des Krieges gegen die Sowjetunion lange Zeit wenig gesprochen wurde - etwa die Blockade von Leningrad bis 1944. Wie erinnern Sie sich daran?
Daniil Granin: Ich habe an der Leningrader Front gekämpft, die sich genau so wie die Stadt selbst innerhalb des Blockaderinges befand. Diese Blockade war eine Schlaufe, die das deutsche Kommando am Hals der Stadt zuschnürte, damit sie an Hunger zugrunde ging. Die Deutschen haben sich seit der zweiten Hälfte des Jahres 1942 nicht mehr bemüht, Leningrad zu stürmen. Sie hielten mit allen Kräften den Ring der Blockade geschlossen und wussten ganz genau, was in der Stadt passierte. Ich habe Tagebücher von Feldmarschall Erich von Manstein gelesen und Aufzeichnungen des Oberbefehlshabers der Heeresgruppe Nord, Wilhelm von Leeb. Sie fragten bei Hitler an, ob man die Stadt stürmen sollte. Der ließ die Frage unbeantwortet. Denn wofür Leningrad stürmen, wenn doch klar war, dass die Stadt zugrunde gehen sollte? Sicher im Krieg wird gekämpft und gestorben - aber wofür musste man die Zivilbevölkerung verhungern lassen? Letztendlich trat von Leeb zurück, weil er nicht akzeptieren konnte, dass die Wehrmacht statt zu kämpfen sich mit "Polizeioperationen" beschäftigte und die Zivilbevölkerung zu Tode quälte.
Nach 1945 verbreitete sich in Westdeutschland trotzdem der Mythos von der "sauberen" Wehrmacht.
Das ist mir bekannt. Es wurde angenommen: die Wehrmacht kämpfte, und alle Verbrechen wurden von SS-Truppen begangen. Die Wehrmacht hatte damit nichts zu tun. Ich besuchte vor kurzem eine Ausstellung des Museums in Berlin-Karlshorst, die der Blockade gewidmet war. Dort gab es Briefe von Heiner Heinz, einem deutschen Leutnant, der als Kommandeur einer MG-Kompanie an der Leningrader Front kämpfte, ungefähr im gleichen Abschnitt wie mein Bataillon. Stellenweise trennten uns nur 100 Meter. Manchmal riefen die Deutschen zu uns herüber ohne Lautsprecher - "He, Russe, komm, Brot essen!" - und sie hielten ein auf ein Bajonett gespießtes Brot über dem Schützengraben hoch. Das war im Winter 1942 - der schlimmsten Hungerzeit. Aus den Briefen wird klar, dass Heinz davon wusste. So schreibt er seiner Frau, "dieses Gesindel hat nicht vor, sich zu ergeben - sie werden gezwungen sein, uns in Ruhe zu lassen und langsam vor Hunger zu sterben".
Wenn man sich heute in Deutschland an den Krieg erinnert, denkt man oft nur an das Kriegsende und die Lage der Zivilbevölkerung: an Massenvergewaltigungen, Luftangriffe, Vertreibungen. Werden hier Ursache und Wirkung vertauscht?
Bei uns wird viel über den Krieg gelogen, und in Deutschland ist das nicht anders. Jede Seite will ihren Krieg als einen sauberen Krieg darstellen. Aber es gibt keinen sauberen Krieg, jeder Krieg wird früher oder später schmutzig.
Das heißt, man sieht in Russland den Krieg im Lichte des Sieges, der alles rechtfertigt.
Wissen Sie, in Deutschland wird momentan wieder ein gewisser Mythos gepflegt, dass der Krieg, den die Sowjetunion führte, nur gerecht war, bis deren Truppen in Deutschland einmarschiert sind. Und dass wir - die Russen - in Deutschland angefangen haben zu vergewaltigen, zu rauben und zu zerstören. Man vergisst, dass die Deutschen bei uns als die satten Eroberer Europas einmarschierten, uns nur Verachtung entgegen brachten und als niedrige Rasse betrachteten. Aber diese Deutschen hatten kein persönliches "Konto", keiner der deutschen Soldaten hatte irgendeine Rechnung mit Russland zu begleichen. Die Nazi-Ideologie führte sie.
Und dann gab es da den Zustand, in dem wir uns befanden, als wir Deutschland betraten, nach dem Verlust von Millionen von Menschen, erschöpft durch den Krieg, nachdem wir den ganzen Horror der SS-Strafkommandos gesehen hatten. Wir alle hatten eine Rechnung zu begleichen. Wir hatten verbrannte Dörfer gesehen, Galgen, erschossene Partisanen. Wir hatten die ganze Ungerechtigkeit des Krieges gesehen, der über uns aus irgendwelchen unbegreiflichen Gründen hergefallen war. Als wir in Deutschland einmarschierten, vernichteten wir den Feind, der uns viel Leid gebracht hatte. Das rechtfertigt keinen Mord und keine Vergewaltigung. Aber ich als Schriftsteller urteile nicht, sondern versuche, Menschen zu verstehen.
In letzter Zeit wurden in Russland einige deutsche Soldatenfriedhöfe eröffnet, die regelmäßig von deutschen Touristengruppen besucht werden. Was halten Sie davon?
Ich habe mich selbst dafür engagiert, hatte viele Gespräche mit russischen Veteranen, die gegen deutsche Friedhöfe auf dem russischen Boden sind. Der Hass ist eine Sackgasse und Deutschland heute ein anderes Land. Es hat viel getan für die Demokratisierung seines politischen Lebens, um in gewissem Maße seine Schuld zu büßen - daher sind unsere fortbestehenden Ansprüche an Deutschland ungerechtfertigt.
Was bedeutet das Kriegsthema heute für Sie?
Ich bleibe damit verbunden, weil dieser Krieg eine unvollendete Geschichte und eine große Tragödie ist, die bis heute andauert. Was heißt das: 30 Millionen Tote? Unser Land ist immer noch krank von diesen Verlusten. Oder denken Sie an verwüstete Dörfer, die nie wieder aufgebaut wurden. All das ist immer noch in unserem Leben präsent. Genauso wie die Lüge über diesen Krieg. Deshalb ist das Erzählen darüber vor allem ein Duell mit der Lüge.
Das Gespräch führte Elena Stepanowa
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