Ein anderes "68"

Lehrstück An Peter Steins Inszenierung von Goethes "Torquato Tasso" lässt sich ein ästhetischer Paradigmenwechsel nachvollziehen

Zu den dummen Stereotypen über "die Achtundsechziger" gehört es, dass sie kunst- und kulturfeindlich gewesen seien und insofern ein negatives Erbe hinterlassen hätten. Wer diesen mittleren Kulturbruch nur in Form von Wasserwerfern und Farbbeuteln, also von "Gewalt auf der Straße" erinnert haben möchte, dem ist nicht zu helfen. Oder vielleicht doch - durch eine Entdeckung. Vor kurzem gab es eine mehrteilige Musiksendung im Radio über "Alte Musik und die 68er" - und siehe da: Die Entdeckung der historischen Aufführungspraxis, des Musizierens alter Musik mit historischen Instrumenten und überhaupt die Wiederbelebung vor-Bach´scher Musik verdankt sich auch diesem frischen Wind, der von der Straße in die Konzertsäle wehte. Und nun gibt es noch eine andere Entdeckung zu machen: Den Hörbuchverlag "Edition Mnemosyne", den ein bekennender Achtundsechziger, Wolfgang Schwiedrzik, vor einigen Jahren gegründet hat und wo soeben eine geradezu aufregende DVD plus CD-Kassette mit Goethes Torquato Tasso erschienen ist. Warum aufregend? Wieso 68?

Zwei "historische" Aufnahmen werden da kontrastiert und in dem ebenso informativen wie kritisch reflektierenden Begleittext kommentiert: Eine Hörspielfassung aus Salzburg von 1961(Regie Leopold Lindtberg), und die gefilmte Bühnenfassung der legendären Inszenierung Peter Steins in Bremen (1969). Historisch ist die Hörspielfassung in ihrer Besetzung mit Spitzenschauspielern des klassischen deutschen Sprechtheaters (Will Quadflieg als Tasso) und der Regie eines Mannes, der als deutscher Exilant wesentlich dazu beigetragen hat, "Wert und Ehre deutscher Sprache" in Zürich vor ihrer NS-Korruption zu retten und zu schützen - eben durch vorbildliche, aber nicht klassizistisch erstarrte, also "aktuelle" Inszenierungen.

Das Ergebnis ist hörbar in einer Sprechkultur, die die unnachahmliche Goethesche Sprache in sich aufnimmt, ohne der Versuchung des Bühnenpathos zu erliegen, was gerade bei Quadflieg, dem Faust von Gründgens´ Hamburger Inszenierung, ganz erstaunlich ist. Andererseits ist es gerade diese Bühnensprache, gegen die Peter Stein mit seinem gesellschaftlichen und politischen Engagement Ende der sechziger Jahre rebellierte. In München, das ist wichtig, erinnert zu werden, war er wegen Peter Weiss´ Vietnam Diskurs von OB Hans-Jochen Vogel (!) fristlos gekündigt und das Stück verboten worden und hatte dann in Bremen eine tolerantere Heimat gefunden. Seine dort inszenierte kritische Lesart der Tragödie Tassos - auch eine autobiografische Verarbeitung von Goethes politisch problematischer Existenz als Dichter und Fürstendiener in Weimar - zeigte, was der Impuls von 68 bedeuten konnte, welche Herausforderungen dieser dem Anspruch nach radikale Kulturbruch an einen künstlerisch verantwortlichen Umgang mit klassischer Dichtung stellte, der seine politische Position nicht zu kompromittieren bereit war.

Das Resultat ist faszinierend, eine wahre Entdeckung und ein Lehrstück für heutige Regiearbeiten, die den kritischen Umgang mit alten Stücken nur in der Form von Strichfassungen, Kollagen, massiven Eingriffen in die Texte und provokante Einfälle demonstrieren können. Aber auch noch diese exemplarische Stein´sche Arbeit wird kritisch kommentiert - sowohl durch den Regisseur während seiner Arbeit am Tasso, als auch durch den sensiblen links-kritischen Kommentar des Herausgebers der Kassette. So können wir hier mehrfache aufregende Entdeckungen machen: Die sinnliche Erfahrung eines theaterästhetischen Paradigmenwechsels 1961/69 auf hohem Niveau, die kritische Reflexion der neuen Sichtweise in Steins unfreiwilliger Verteidigung von Goethe gegen seine eigene aktuelle Interpretation (er meint in Tasso den "Emotionalclown" der erstarrten Gesellschaft zu zeigen und merkt, dass der darin nicht aufgeht), der selbstkritische aber nicht renegatische Blick von heute auf diese 68er Klassikrezeption - nicht zuletzt aber, and not least, die Wiederentdeckung - wenn man sie nötig hat, aber wer hat sie nicht nötig? - von Goethes Meisterwerk deutscher Sprache und der ästhetisch-politischen Aporien von Geist und Macht.

Johann Wolfgang von Goethe Zweimal "Torquato Tasso. Ein Stück - zwei Interpretationen (vor und nach 1968). 2 CDs, 102:20min, + 1 DVD, 136:55min, Edition Mnemosyne, Neckargemünd 2007, 35 EUR

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