Ein Klassenkampf der besonderen Art beherrscht Venezuela. Nachdem erst im April ein von Pedro Carmona, dem Präsidenten des Unternehmerverbandes Fedecámaras, angeführter Putsch gegen Präsident Chávez gescheitert war, opponieren die städtischen Mittelschichten mittlerweile erneut und vehementer als je zuvor. Ein klares Zeichen ihrer Wut war die große Demonstration vom 10. Oktober in Caracas, an der zwischen 400.000 (Angabe der Regierung) und einer Million Menschen (Angabe der Opposition) teilnahmen. Drei Tage später mobilisierte Chávez seinerseits mehr als eine halbe Million Anhänger, um dem Land zu zeigen, dass die Armen und Benachteiligten nach wie vor hinter seiner Bolivarischen Revolution stehen.
Wieder einmal hat es der Gewerkschaftsbund
s der Gewerkschaftsbund CTV (Confederación de Trabajadores de Venezuela) danach am 21. Oktober mit einem Generalstreik versucht, und wieder einmal ist er - vorerst - gescheitert. Präsident Hugo Chávez gibt weiter mehrstündige Pressekonferenzen im Miraflores-Palast, um über den Fortgang der Bolivarischen Revolution zu monologisieren, auch wenn ihm inzwischen ein Teil der Generalität den Gehorsam schuldig bleibt. Nur ist eben der CTV als Dachverband der venezolanischen Gewerkschaften, in dem die gut verdienenden Angestellten der Ölindustrie den Ton angeben, viel zu sehr Anwalt in eigener Sache, als dass er aus dem Funken des Aufruhrs einen Flächenbrand entfachen könnte, der Chávez unwiderruflich zur Demission zwänge. Nach dem Aufruhr vom April war die Zustimmungsrate für Chávez auf seit langem nicht mehr verbuchte 48 Prozent nach oben geraten. Inzwischen sagen nur noch 28 bis 30 Prozent der Venezolaner, sie seien "bedingungslose Anhänger" des Präsidenten, während sich 42 bis 44 Prozent als "unnachgiebige Kritiker" bezeichnen."Chávez größter Irrtum war es, die Mittelklasse zu drangsalieren", sagt Carlos Escarrá, ein früherer Verfassungsrichter, der gern als jemand erscheint, der zwar den proceso unterstützt, aber nicht als Chávista firmieren möchte. Mit proceso ist die soziale Transformation Venezuelas gemeint, die 1998 begann. Als Chávez seinerzeit zum ersten Mal gewählt wurde, sah es so aus, als wäre eine große Mehrheit für den proceso, mittlerweile jedoch schenken viele Venezolaner, die sich zunächst als Chávez-Sympathisanten empfanden - besonders die Mittelklassen - der Opposition Gehör.Wie kam es dazu? Die Gründe sind vielfältig. 2002 war und bleibt in Südamerika nicht nur ein schwieriges Jahr für Argentinien und Brasilien, sondern auch für den Erdölexporteur und OPEC-Staat Venezuela. Von Januar bis Juni wurde die Währung um 50 Prozent abgewertet, die Inflationsrate galoppierte von zwölf Prozent 2001 auf mittlerweile 35 davon, die Erwerbslosigkeit stand im August bei einer Quote von nunmehr 17 Prozent. Kaum überraschend suchen diese Turbulenzen die Mittelschichten stärker heim als die Armen. So belastet etwa der Wertverlust des Bolivar mittlere und höhere Einkommen allein schon deshalb, weil sie es sind, die Importprodukte aus dem Dollarraum erwerben. Die unteren Schichten können sich Autos, Computer oder Ferienaufenthalte in den USA ohnehin nicht leisten. Hinzu kommt, dass die Gehälter von Angestellten in der Regel zu Anfang des Jahres vereinbart werden und dann notgedrungen hinter der laufenden Inflation zurückbleiben. Die Armen dagegen, die hauptsächlich im informellen Sektor beschäftigt sind, können sich der jeweiligen Inflationsrate leichter anpassen, da sie den Preis für ihre Produkte und Dienstleistungen zeitnah anheben. Außerdem sorgen Großfamilien und kommunaler Zusammenhalt dafür, dass man sich gegenseitig hilft. Schließlich profitieren diese Volksschichten auch von unentgeltlichen öffentlichen Diensten, während die Mittelklasse daran gewöhnt ist, private Gesundheits- und Bildungseinrichtungen in Anspruch zu nehmen, deren Preis stetig steigt.Doch ist die Rezession nicht der einzige Grund für eine Rebellion der Mitte gegen Chávez. Auch die Regierungspolitik selbst, wie etwa die neue Verfassung oder die weitreichenden Programme für Bildung, Gesundheit und Landreform haben den bisher sozial Marginalisierten weit mehr gebracht als den Mittelschichten. Mit diesen Reformen können die Armen erstmals in der Geschichte Venezuelas überhaupt eine medizinische Grundversorgung in Anspruch nehmen, auch wenn deren Qualität vielfach noch unzureichend ist. Ähnlich stellt sich die Situation in der Bildung dar. Es wurden seit 1998 Tausende sogenannter Bolivarischer Schulen eingerichtet, deren Eleven mit drei Mahlzeiten pro Tag versorgt werden - zu Hause für die meisten undenkbar. Dank dieses Wandels gehen inzwischen etwa eine Million Kinder mehr zur Schule als im Jahr 1998. Auch von der Landreform profitieren die Armen, denn brachliegender Boden wird nun landlosen Bauern überschrieben, wenn sich die bisherigen Eigentümer weigern, ihre Flächen zu kultivieren. Chávez will mehr soziale Gerechtigkeit im ländlichen Raum und zugleich eine höhere Agrarproduktion. Eine Neuordnung von Bodeneigentum verfolgt die Regierung auch in den Städten, indem illegal besetzte Grundstücke den jetzigen Nutzern dauerhaft übertragen werden. Kommissionen mit Vertretern von bis zu 200 Familien überwachen die Vermessungen und entscheiden über Flächen, die der kommunale Infrastruktur überlassen bleiben. Parallel dazu gibt es Programme für den Wohnungsbau und die Vergabe von Kleinkrediten. Chávez hat jüngst verkündet, ein "Ministerium für soziale Ökonomie" solle diese Projekte koordinieren. Ein solches Ressort hätte zudem die Aufgabe, so der Präsident, "die Demokratie am Arbeitsplatz" sowie die Bildung von Kooperativen zu fördern. Diese Agenda des sozialen Umbruchs, die durchaus das Adjektiv "revolutionär" verdient, irritiert und beunruhigt die Mittelschichten mindestens ebenso wie die neue Verfassung, die mit dem alten, patriarchalischen Zweiparteiensystem aus sozialdemokratisch gefärbter AD (Acción Democrática) und der christlich-sozialen COPEI gebrochen hat. Früher weitgehend vom politischen Leben ausgeschlossen, nehmen Frauen, indigene Völker und Homosexuelle nun erstmals wirklich am proceso teil. Für die Mittel- und Oberklasse dagegen haben sich die Männer des Präsidenten eine besondere delikate Form der Demokratisierung einfallen lassen: Wenn bislang die Staatskasse vorzugsweise mit den Erlösen aus der landeseigenen Ölgesellschaft gefüllt wurde und Durchschnittsverdiener kaum Steuern zahlen mussten, soll nun die Einzugsbasis verbreitert werden. Erstmals seit Jahrzehnten sind Angestellte, Gewerbetreibende und Unternehmer aufgerufen, Einkommensteuer zu zahlen - ein Paradigmenwechsel, der annehmen lässt, dass der Gewerkschaftsverband CTV jüngst nicht das letzte Mal zum Generalstreik aufgerufen hat.
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