Ein guter Europäer

Zeitschriftenschau Kolumne

Über den bulgarischen Gulag, dessen Arbeitslager sich im Norden des Landes, auf der Donauinsel Belene befanden, berichtet in der 146. Ausgabe des wespennests Ilija Trojanow. Er hat "im siebten Jahr der sogenannten Demokratisierung" das einstige Todeslager mit einer Gruppe von alten Männern aufgesucht, die dort "ihre besten Jahre" zugebracht haben. Belene, heute ein Paradies für Ornithologen, wird übrigens weiterhin als Gefängnis genutzt. In Bulgarien sei, so der Autor, die Erinnerung an die blutige Zeit "nicht gern gesehen von einer Elite, die mit den Verbrechen aus stalinistischer und schiwkowscher Vergangenheit verwandt und verwachsen war." Die Zahl der Opfer sei bis heute ein Geheimnis, "wie keine der ›demokratischen‹ Regierungen Bulgariens den Anstand und den Mut hatte, die Dossiers der Lagerverwaltung und der Staatssicherheit zu öffnen." Stattdessen werde die Wahrheit weiter begraben gehalten.

In seinen Bericht hat Trojanow Auszüge aus den Erinnerungen eines ehemaligen Belene-Häftlings, des Sozialdemokraten Atanas Moskow, eingestreut, die von Hunger und Frost, Folter und Mord erzählen. So manche Leiche wurde in Kesseln gekocht und dann als Hühnerfutter und Schweinefraß verwendet. Die damit gemästeten Tiere wurden in den Westen exportiert.

Während Trojanow der Demokratisierung in seinem Geburtsland, das er als Kind verließ, nicht recht zu trauen scheint, freut sich die Lyrikerin Mirela Ivanova umso mehr darüber, dass das arme Bulgarien nun in die EU aufgenommen worden ist. Vor der Wende habe es dort keinen Hauch von Unternehmertum, Privatinitiative und Selbstverwirklichung gegeben. Überraschungen waren im System nicht vorgesehen. Doch dann, "vor 16 oder 17 Jahren", hätten die Menschen die Chance bekommen, "am Aufbau des modernen bulgarischen Projekts mitzuarbeiten." Auch sie selbst, die Dichterin, sei damals, nach ihrem ersten Berlin-Besuch, nicht - wie eigentlich geplant - dort geblieben, sondern bewusst auf ihren "eigenen Weg", also nach Sofia, zurückgekehrt, mit der Hoffnung, dass die Bulgaren ihr Leben nun selbst in die Hand nehmen und sich selbst helfen würden - gleichsam eine zweite nationale Wiedergeburt nach der historischen Befreiung vom "türkischen Joch" im Jahr 1878.

In der jüngsten Ausgabe von Sinn und Form wird der englische Nietzsche-Übersetzer Oscar Levy vorgestellt, ein jüdischer Arzt und Weltmann, der Deutschland bereits 1892 verlassen hatte und nach London ausgewandert war. Dort entstand um 1908 auch der Plan einer 18-bändigen Nietzsche-Gesamtausgabe, die Levy - Herausgeber und Übersetzer zugleich - selbst finanzierte. Bereits 1913 war die gewaltige Arbeit vollendet.

Ab 1933 in Paris ansässig, schrieb Levy unter einem Pseudonym für die Exilzeitschrift Das Neue Tage-Buch. Für ihn und seine Freunde war Nietzsche der exemplarische Analytiker und Kritiker all dessen, was Hitler-Deutschland propagierte: Rassenhass, Nationalismus, Expansionismus. 1938 verfasste er den nun in Sinn und Form wohl zum ersten Mal auf deutsch abgedruckten Offenen Brief an Adolf Hitler, der ironisch mit "Mein Führer" anhebt: "Ich muß Sie so anreden, weil wir dieselbe Weltanschauung haben, wir sind Brüder im Geiste, wir nennen uns beide Schüler des Philosophen Friedrich Nietzsche." Schnell jedoch kehrt Levy den Spieß um: "Ich denke, daß Nietzsche die von Ihnen vertretenen Werte zutiefst zuwider wären." Denn er war kein Nationalist, kein Sozialist und kein Antisemit, er schätzte vielmehr "die Intelligenz jener Menschen, die Sie jetzt aus dem Lande treiben." Nietzsche sei in Wahrheit "ein guter Europäer" gewesen und der Adressat dieses Briefes sei es nicht wert, "ihm den Staub von den Schuhen zu wischen."

Wespennest: Nr. 146, 2007 (Rembrandtstraße 31/4, A-1020 Wien), 12 EUR

Sinn und Form: Heft 3, 2007 (Postfach 21 02 50, 10502 Berlin), 9 EUR


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