Ein guter Witz hat immer eine Katastrophe zum Inhalt

Das Theater ist wie das Leben George Tabori, der älteste aktive Theatermacher der Welt, über die Wahrheit, die in der Lüge steckt

George Tabori, gebürtiger Ungar, zählt zu den ersten europäischen Autoren und Regisseuren der Gegenwart. Nach Erlernung des Hotelgewerbes in Dresden und Berlin treibt ihn die Judenverfolgung 1933 ins Exil nach England. Im Zweiten Weltkrieg ist er BBC-Korrespondent im Nahen Osten. 1947 geht er in die USA. Dort arbeitet er unter anderem mit Brecht zusammen. Er kommt auf die Schwarze Liste des Senators McCarthy. 1968 kehrt er nach Europa zurück. Nach Jahren am Wiener Burgtheater arbeitet er seit 2002 als Regisseur am Berliner Ensemble. Zu den wichtigsten seiner etwa 30 Theaterstücke gehören das Auschwitz-Drama Die Kannibalen, Mein Kampf und Goldberg-Variationen. 1992 wurde er mit dem Georg-Büchner-Preis, dem bedeutendsten deutschen Literaturpreis, ausgezeichnet. Am 24. Mai begeht er seinen 90. Geburtstag.

FREITAG: Künstler seien Hexen, haben Sie gesagt. Ihr Auftrag sei es immer gewesen, "das Verdrängte herauszukitzeln, das Verschwiegene auszusprechen, das Verlogene in Frage zu stellen". Worauf zielt Ihre Hexerei?
GEORGE TABORI: Als Schriftsteller geht es mir um das Nein-Sagen. Nein zur jeweiligen Macht, Nein zu Kollegen, Nein zur modischen Ästhetik. Es gibt Stücke, die wollen bestätigen, wie es ist. Aber das ist nicht meine Sache. Das mit den Hexen habe ich als poetische Erweiterung gemeint.

Offenbar besitzen Sie die Courage Ihrer Mutter, die der SS die Stirn bot und sich in letzter Minute aus dem Viehwaggon nach Auschwitz rettete. Was haben Sie von Ihrem Vater, der in der Tür zur Gaskammer zu seinem Nachbarn mit Grandezza und Höflichkeit gesagt haben soll: "Nach Ihnen, Herr Mandelbaum"?
Das haben mir zwei Zeugen erzählt, die überlebt haben. Er ist in Auschwitz umgekommen. Ich glaube, die Geschichte ist wahr. Aber was ist die Wahrheit im Theater? Das ist eine große Frage. Ich bin sehr interessiert am "Lügen". Als ich in New York lebte, bin ich einmal zu einer Psychiaterin gegangen, einer älteren französischen Frau. Ich musste mich hinlegen und Träume erzählen. Nach einer Woche sagte sie, dass ich zuviel träume, sie könne das nicht verarbeiten. Das nächste Mal habe ich ihr einen wunderbaren Traum erzählt. Dann gestand ich ihr, dass er eine Lüge war. Sie sagte: "Das macht keinen Unterschied, weil die Lüge auch etwas über Sie sagt, vielleicht mehr, als wenn Sie die Wahrheit sagen."

Das Hauptthema Ihrer Theaterstücke ist die Judenvernichtung durch den deutschen Faschismus, die Tragödie Ihrer Familie und der Massenmord. Wollen Sie das Vergessen verhindern in der Art, wie Ihr Schlomo Herz in "Mein Kampf" den Sinn der Dichtung benennt: "Ungeliebten Kindern Geschichten zu erzählen, bis es sie schaudert"?
Ja.

Hat Ihr Realismus auch etwas damit zu tun, Entsetzliches erträglicher zu machen, indem Sie ihm in der Kunst nicht ausweichen?
Ich versuche nicht, etwas erträglicher zu machen.

Warum verpacken Sie das Schaurige oft in die Form der Farce, der Groteske, des Witzes?
Der Witz, den man mir gelegentlich verübelt, gehört zur jüdischen Tradition. Ich glaube, ein guter Witz hat immer eine Katastrophe zum Inhalt, und dann kommt dialektisch die Auflösung. Ich nehme mir nicht vor, einen Witz zu schreiben. Die Witze kommen, sie gehören dazu.

2002 hat Imre Kertész, jüdischer Autor aus Budapest wie Sie, den Nobelpreis bekommen. In seinem "Roman eines Schicksalslosen" hat er über das Grauen der Konzentrationslager aus der Sicht eines erstaunten, naiven jüdischen Jungen geschrieben.
Er ist ein Freund von mir, ein toller Schriftsteller. Er war als 15-Jähriger in Auschwitz und dann in Buchenwald. Zu Hause in seiner Familie hatte er Probleme, und im KZ hat er sich teilweise sehr wohl gefühlt. Dort waren andere Jungen, und die SS war nett zu ihm. Später in Buchenwald hat er auch schlimme Dinge erlebt. Er ist der einzige Schriftsteller, der diese Erfahrung hatte. Dieses Buch ist einmalig, er ist ein wahrhaftiger Autor, und ich freue mich sehr, dass er den Preis bekommen hat. Meine eigene Einstellung zum Holocaust ist anders. Ich kann mit diesen schönen Sachen nichts anfangen. Bei mir bleibt, dass mein Vater in Auschwitz umgebracht worden ist, ebenso andere Familienmitglieder. Das ist mein persönliches Problem. Damit muss ich leben, und niemand kann mir da helfen, und niemand soll mir helfen.

Wie sehen Sie den heutigen Konflikt im Nahen Osten?
Ich habe eine eigene Meinung, ich weiß nicht, wie real sie ist. Die Juden haben jedes Recht, dort zu sein, wo sie sind. Das war ihr Land, die Römer haben sie dort weggejagt. Das Land ist ganz klein, und die Araber haben Iran, Syrien, Libanon, Irak, Jordanien, Ägypten, Lybien, Sudan, Saudi-Arabien, Jemen, Tunesien - viele Länder. Mein Vater war liberal, ich wurde nie religiös erzogen, ich war nie in einer Synagoge, ehe ich erwachsen war. Und ich wollte nie in Israel leben, weil ich Europäer bin, aber jetzt denke ich nicht mehr so. Ich weiß, dass es nicht angenehm ist. Aber meine Utopie ist, dass alle Juden nach Israel gehen. Während des Krieges habe ich ein Jahr lang dort gelebt, damals war es englisches Gebiet. Ich hatte viele arabische Freunde. Später habe ich ein Stück geschrieben über einen arabischen Mann und eine jüdische Frau gegen diese nationalistischen Auffassungen.

Vor wenigen Tagen wurde Daniel Barenboim in Jerusalem der israelische Wolf-Preis für Frieden und Völkerverständigung zugesprochen. Dabei sorgte er für große Aufregung mit der Bemerkung, die Palästina-Politik des Landes stehe im Widerspruch zu dem von den Gründervätern Israels angestrebten Ideal. Berechtigte Kritik oder Provokation?
Jude zu sein, heißt anders zu denken.

Glauben Sie an eine humanistische Utopie?
Ich halte unbedingt daran fest, dass Humanismus keine Utopie ist, wenn auch nur zwei Menschen daran glauben.

Sie haben einmal geäußert, der einzige Weg, die Welt zu verbessern, den Sie sich vorstellen können, wäre der über den einzelnen Menschen.
Ich kann mit Verallgemeinerungen nichts anfangen. Als ich zehn Jahre alt war, kam ich von der Schule nach Hause, und mein Vater fragte: Was hast du heute gelernt? Ich habe geantwortet: Dass alle Rumänen schwul sind. Da hat er mir eine heruntergehauen. Er hat sich entschuldigt und mir erklärt: Erstens sind nicht alle Rumänen schwul. Wenn zweitens alle schwul wären, wäre das nicht schlimm. Und drittens: Es gibt nicht so etwas wie die Rumänen. Und das hat mich sehr geprägt. Darum bin ich vielleicht seit mehr als 30 Jahren wieder in Deutschland. Ich habe nie über die Deutschen nachgedacht, ich sehe jeden als Einzelnen.

Also keine Kollektivschuld der Deutschen am Judenmord der Nazizeit?
Zum Thema der nazistischen Judenverfolgung wird in Deutschland mehr geschrieben als überall sonst. Es gibt mehr darüber als dieses Buch, das der Amerikaner Goldhagen über die Deutschen und ihren Judenhass geschrieben hat. Ich kann ihn verstehen. Wenn man in Amerika sitzt, kann man leicht verallgemeinern: Die Deutschen sind so und so. Aber wenn man in Hamburg, Wien oder Berlin lebt, geht das nicht.

Es gibt Politiker und Publizisten, die stellen die Nazi-Diktatur und den "real existierenden Sozialismus" auf eine Stufe.
Das ist zu einfach, es macht mich böse.

Ausländerfeindlichkeit, auch mit Naziideologie verkoppelt, und Antisemitismus sind latent oder akut deutscher Alltag. Wiederholt sich die Geschichte?
Ich weiß, dass die Nazis da sind, aber ich habe noch nie einen getroffen. Ich glaube nicht, dass sich die Geschichte wiederholt. Aber wie sagt Bertolt Brecht? "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch." Große Dichter sind ja oft Propheten.

Sie zählen auch Kafka dazu.
Ich liebe Kafka, er ist der Größte für mich. Er ist in jeder Beziehung groß, in der Aussage, in den Widersprüchen, in seiner Rätselhaftigkeit, im Poetischen. Dass ich vieles nicht ganz verstehe, das reizt mich, man muss ja nicht alles verstehen. Ich habe dreimal Kafka-Sachen inszeniert, und ich habe dabei sehr viel gelernt.

Woher kommt Ihr unerschütterlicher Optimismus?
Ich habe nicht so viele schlimme Dinge durchgemacht wie meine Familie. Ich bin mindestens dreimal im Leben in letzter Minute davongekommen, nicht weil ich es wollte, sondern zufällig. Es war ganz zufällig, dass ich nach Amerika ging, ganz zufällig, dass ich nach Deutschland kam; ganz zufällig, dass ich in Wien gelebt habe und jetzt in Berlin bin. Ich bin nicht enttäuscht, ich habe ein glückliches Leben gehabt.

Warum sind Sie, der Sie die Abgründe im Menschen bis hin zum Kannibalismus kennen, nicht zum Menschenfeind geworden?
Meine Menschenkenntnis besteht vor allem darin, dass ich mich selbst kenne. Mir zu verzeihen, fällt mir nicht schwer. Aber grundsätzlich gilt Brechts Gedanke von der Freundlichkeit der Welt. Ich habe keinen Grund zu sagen, dass die Welt nicht freundlich ist.

Was ist für Sie das Wichtigste im Leben?
Das Wichtigste jetzt ist, ich habe meinen 90. Geburtstag, ich bin der älteste aktive Theatermacher der Welt. Wann kann ich aufhören, und wie wird es sein? Ich habe zwei, drei Ideen für ein neues Stück, das ich im Sommer schreiben will. Ich glaube, dass ein Stück im Jahr reicht. Ich kann natürlich nicht so viel arbeiten wie früher. Vom Romanschreiber zum Theaterautor bin ich geworden, als ich in New York in eine Schlussprobe zu Brechts Galilei hineinkam und Charles Laughton in der Mitte der Bühne lag und tobte. Es ging um ein Übersetzungsproblem in Galileis Selbstbezichtigung. Laughton, der nicht Deutsch konnte, hatte die englische Fassung nach einer Rohübersetzung gemacht. Als er sich abreagiert hatte, bat er mich, die Übersetzung zu überprüfen. Ich habe drei kleine Fehler beseitigt, aber: Von dem Moment an wurde ich ein Übersetzer, und so kam ich zum Theater. Vorher hatte ich fünf Romane geschrieben.

Brecht spielt in Ihrem Theaterleben eine zentrale Rolle. Sie haben in Amerika mit ihm zusammengearbeitet, haben Stücke und Gedichte von ihm ins Englische übersetzt, jetzt sind Sie Regisseur an dem von ihm und Helene Weigel gegründeten Theater. Worin liegt seine Größe für Sie?
In dieser Mischung von ungeheurer Intelligenz und naiver Spielerei. Darin, dass Brecht nicht nur in der Dreigroschenoper und diesen Sachen leichtfüßig war.

Man verübelt Brecht seinen Antikapitalismus.
Er ist aktuell. Aber er war mehr als ein Antikapitalist, er war Künstler. Er hat zufällig immer das Richtige geschrieben.

Brechts Theater in seiner Originalform lernten Sie erst kennen, als es das Berliner Ensemble in der DDR gab und Helene Weigel Sie 1968 zu einem Brecht-Symposium einlud.
Ich war aus Amerika gekommen. Wir sahen drei Wochen lang jeden Abend Theater. Zur Abschlussveranstaltung saßen alle ausländischen Teilnehmer auf der Bühne, und jeder hat vorgelesen, was er auf einen Zettel geschrieben hatte. Vor mir kam der große Giorgio Strehler dran, der alles wusste und alles über Brecht wusste, und las fünf Seiten vor - toll. Ich bin ans Mikrofon getreten, aber ich konnte nichts sagen. Ich habe meinen Zettel zerrissen und das Publikum nur angeschaut. Mir kamen die Tränen, was nur ganz selten passiert. Ich bin dann nach Hause gegangen und habe zum ersten Mal ein Gedicht von Brecht ins Englische übersetzt.

Was hat Sie so betroffen gemacht?
Das wurde mir Monate später klar. Ich hatte das beste Theater gesehen, das ich jemals gesehen habe. Das Berliner Ensemble zur Zeit Brechts und der Helene Weigel war das beste Theater der Welt. Das sage ich nach meinen 70 Theaterjahren immer noch. Dass in Cottbus und Kassel und Wien und anderswo große und mutige Aufbrüche und Träume im Theater stattfanden, das habe ich in den letzten Jahren immer wieder erfahren, und deshalb bin ich jetzt hier in Berlin.

Was halten Sie vom "Wegsparen" der Theater in Deutschland?
Das ist furchtbar. Ich mache selten Aussagen über die politische Situation, ich bin Gast hier. Aber was mit den Theatern passiert, ist Selbstmord. Man kann das Theater nicht zumachen, es ist Jahrtausende alt und organisch mit unserem Leben verbunden.

Sie sprechen in Gedanken oft mit Brecht.
Wenn das Wetter gut ist, sitze ich gegenüber seiner Statue vor dem Theater und sage: Wir machen deine Kriegsfibel in einem ganz kleinen Raum, im Gartenhaus, und es ist eine Lesung - ich werde es aber spielerisch lösen, weil ich Lesungen langweilig finde. Oder: Ich inszeniere ein Lessing-Stück, Die Juden, das hat Peymann mir vorgeschlagen. Ich möchte aber auch eine andere Sache machen, meine letzte Inszenierung soll es sein, König Lear von Shakespeare, mein Lieblingsstück. Wir werden sehen, ob es geht.

Was ist für Sie das Wichtigste in der Theaterkunst?
Das Theater ist wie das Leben, auch wenn es "Lüge" ist. Und das Leben kann man nicht wirklich darstellen, wenn man das Improvisatorische nicht erlaubt und befördert. Ich glaube nicht an Perfektion. Das Improvisatorische ist für mich das Wichtigste. Für mich ist die Probenzeit wichtiger als die Aufführung. Ich betrachte die Aufführung als öffentliche Probe. Früher habe ich in meinen Inszenierungen jede Woche ein- bis zweimal etwas geändert, nicht weil es unbedingt besser sein sollte, sondern weil es anders sein sollte. Ich glaube, dadurch bleibt Theater lebendig.

Sitzen Sie während der Vorstellungen in der ersten Reihe oder - wie bei den "Juden"- auf der Bühne, um zu sehen, was anders ist?
Ja. Der Mensch ist innerlich immer anders, die Schauspieler sind jeden Abend anders. Und dieses Anderssein ist, was mich interessiert.

Günter Gaus hat Sie gefragt, ob Sie das Sterben fürchten. Sie haben gesagt: Nein.
Ich habe mich an den Gedanken, dass es einmal aufhört, gewöhnt.

Glauben Sie, dass danach etwas kommt?
Nichts.

Über Sie und Ihren Hund gibt es Geschichten. Was sagen Sie zu der Story, die Luis Bunuel notiert hat: Als André Breton in Mexiko Trotzki besuchte, sagte der, sein Hund habe einen richtig menschlichen Blick. Breton, so Bunuel, sei ganz außer sich gewesen: Wie kann ein Mann wie Trotzki so etwas Dummes sagen, ein Hund hat keinen menschlichen Blick, er blickt wie ein Hund.
Trotzki hat Recht. Wenn ich ohne meinen Hund weggehen will, sage ich ihm immer eine Lüge. Ich sage: "Ich gehe einkaufen." Da guckt er mich an, und sein Gesicht sagt: Du lügst, du lügst! Aber gut, ich kenne dich, ich warte auf dich. Und dann setzt er sich unter meinen Schreibtisch.

Das Gespräch führte Lothar Ehrlich

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