In der vergangenen Woche legten 40.000 Amazon-Beschäftigte in Italien die Arbeit nieder. Welche Gründe dieser Erfolg hat und was die deutschen Gewerkschaften daraus lernen können, erklärt der italienische Soziologe Francesco Massimo.
Francesco Massimo ist gebürtiger Römer und forscht am Institut d'études politiques de Paris zu Arbeit und Arbeitskämpfen bei Amazon.
der Freitag: Am 22. März legten in Italien nach Gewerkschaftsschätzungen 40.000 Amazon-Beschäftigte die Arbeit nieder. Streiks beim Internetriesen sind zumindest in vielen europäischen Ländern seit ein paar Jahren nichts Außergewöhnliches mehr. Sie sagen, der Arbeitskampf war historisch. Warum?
Francesco Massimo: Weil es der bisher erste Streik weltweit war, der große Teile des Vertriebsnetzes von Amazon umfasst: Von den großen Lagerhäusern bis zu den Lieferanten, die die Pakete an die Haustür bringen. Das ist historisch. Die bisherigen Streiks in Ländern wie Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien oder im vergangenen Jahr in Polen beschränkten sich auf die großen Distributionszentren. Die Gewerkschaften waren nicht in der Lage oder nicht willens, den nächsten Schritt zu gehen. Dass dies jetzt gelungen ist, ist ein wichtiges politisches und symbolisches Signal.
Und ökonomisch? Hat der Streik Amazon geschadet?
Das ist schwer zu sagen. Beteiligt haben sich die Lagerarbeiter und die Zusteller, die für die sogenannte letzte Meile zuständig sind und nicht direkt für Amazon arbeiten. Allerdings war nicht das komplette Logistiknetz vom Streik betroffen. In Italien, wie auch im restlichen Europa und in den USA, lagert das Unternehmen einen Teil der Lieferungen an große private Logistikunternehmen oder die nationalen Postdienste aus. Amazon setzt also auf ein Multichannel-Liefernetzwerk. Dies schafft "Redundanz", also die Fähigkeit, Lieferungen im Falle von Unterbrechungen umzuleiten. Um wirklich effektiv zu sein, müssten die Streiks auch diese Teile einbeziehen. Wir brauchen also Solidarität in der gesamten Logistikbranche.
Nach Gewerkschaftsangaben lag die Beteiligung bei über 70 Prozent. Das wäre phänomenal hoch. Wenn in Deutschland in Bad Hersfeld oder Leipzig gestreikt wird, folgen etwa 30 bis 40 Prozent der Belegschaft dem Aufruf. Und das ist sehr viel im internationalen Vergleich.
Wir haben keine vollständigen und erschöpfenden Daten. Die Gewerkschaften können die Streikbeteiligung nur schätzen, da sie nicht wissen, wie viele Menschen für Amazon arbeiten. Amazon als datengetriebenes Unternehmen hat die genauen Zahlen. Allerdings gibt das Management diese nicht heraus. Das gilt im Übrigen auch für Zahlen zu befristet Beschäftigten, Arbeitsunfällen oder arbeitsbedingten Erkrankungen. Diese fehlende Transparenz ist ein großes Problem. Laut Amazon lag die Streikbeteiligung in den Lagerhäusern bei zehn Prozent und bei 20 Prozent bei den Kurierfahrern. Die Gewerkschaften sprechen von 70 bis 75 Prozent, in einigen ausgelagerten Betrieben sollen sich sogar 90 Prozent der Kurierfahrer beteiligt haben.
Wenn das stimmt, ist das sehr hoch. Was könnte der Grund sein?
Der Job der Fahrer ist noch härter ist als die Arbeit in einem Fulfillment Center. In beiden Fällen haben Beschäftigte mit den hohen Arbeitsrhythmen, der ständigen Kontrolle und einem völligen Mangel an Autonomie zu kämpfen. Auch bei den Kurierfahrern wird die Arbeit von Amazon geplant und überwacht – die Routen, das Arbeitspensum, die Arbeitszeit und die Bewertungen. Gleichzeitig sind sie aber nicht direkt bei Amazon angestellt und Amazon übernimmt keinerlei Verantwortung für sie. Sie befinden sich gewissermaßen auf der untersten Stufe der Befehlskette. Die von Amazon beauftragten Logistikfirmen stellen sie in der Hochsaison zu Tausenden ein. Diese Firmen werden dann von Amazon in Konkurrenz zueinander gesetzt, um mehr und schneller zu liefern – den Druck geben sie natürlich an die Kurierfahrer weiter.
Die Gewerkschaften hatten zu diesem Streik aufgerufen, nachdem Verhandlungen mit Amazon gescheitert waren. Worum ging es dabei?
Die drei beteiligten Gewerkschaften CGIL, CISL und UIL fordern eine tarifliche Regelung der Arbeitsbedingungen bei Amazon. Es geht um Themen wie Gesundheit, Arbeitssicherheit und Arbeitsintensität. Da die Gewerkschaften in Italien zu den mitgliederstärksten in ganz Europa gehören und auch einen gewissen politischen Einfluss haben, war Amazon gezwungen, mit ihnen zu verhandeln. Doch Amazon spielte auf Zeit und Anfang März kam es zum Bruch. Der Knackpunkt war, dass Amazon sich weigert, die Verantwortung für die Fahrer der Subunternehmen zu übernehmen. In einer Erklärung hieß es, dass nicht Amazon, sondern die beauftragten Lieferdiensten und deren Unternehmerverbände die richtigen Ansprechpartner sind. In der Folge riefen die Gewerkschaften zum landesweiten Streik auf, der nicht nur die Fahrer, sondern eben das gesamte Logistiknetz betrifft.
Welche Rolle spielt die Corona-Pandemie bei all dem?
Bereits während der ersten Welle hat das Verhältnis zwischen Amazon und den Beschäftigten tiefe Risse bekommen. Die Arbeiter verstanden, dass ihre Gesundheit und Sicherheit keine Priorität für das Unternehmen haben: Amazon-Beschäftigten waren einem sehr hohen Ansteckungsrisiko ausgesetzt, während das Management damit beschäftigt war, seine Gewinne massiv zu steigern. Die Folge waren Streiks in unterschiedlichen Ländern, wenn auch nicht koordiniert. Das Unternehmen machte daraufhin einige Zugeständnisse, wie etwa die zeitlich begrenzte Erhöhung des Stundenlohns, auch wurden einige Prozesse neu organisiert, um die Arbeiter besser zu schützen. Dies kam jedoch zu spät und erst nach spontanen Protesten der Arbeiter. Insofern ist der Pandemiekontext natürlich wichtig, aber eher als Verstärker latenter Spannungen.
Dass die Auslieferung auf der sogenannten "letzten Meile" einer der sensibelsten Punkte in Amazons Lieferkette ist, wissen Gewerkschaften schon lange. Gleichzeitig gab es aber nur wenige Versuche, die Paketkuriere in eine gemeinsame Streikstrategie mit den Beschäftigten der großen Lagerhäuser einzubinden – auch in Deutschland nicht. Was haben die italienischen Gewerkschaften anders gemacht?
Das Problem ist, dass die Gewerkschaften angesichts des schnellen Wachstums von Amazons Logistiknetzwerk oft nicht mehr in der Lage sind, mit den ständigen Neueröffnungen Schritt zu halten und alle Standorte gewerkschaftlich zu organisieren. In Italien haben die Gewerkschaften tatsächlich früh Schritte eingeleitet, um alle Amazon-Beschäftigten zu organisieren. Insbesondere der Logistikzweig der CGIL hat viele Ressourcen in die Organisierung der strategisch wichtigen Kurierfahrer gesteckt.
Aber warum haben die italienischen Gewerkschaften diese Wahl getroffen? Verdi in Deutschland etwa tut sich damit noch immer schwer.
Ich denke, die Antwort liegt in dem großen Zyklus von Kämpfen, der den Logistiksektor in Italien seit 2011 erschüttert hat. Diese wurden nicht von den etablierten, sondern von kleinen Basisgewerkschaften angeführt. Deren Arbeitskämpfe haben in ganz Italien hohe Wellen geschlagen und das Gleichgewicht der Kräfte in der Branche verändert. Die Streiks wurden sehr radikal geführt. Die Arbeiter haben nicht nur ihre Arbeit niedergelegt, sondern auch Lagerhallen blockiert und den Warenverkehr behindert. Trotz starker Repression durch die Polizei und die Arbeitgeber wuchsen diese Gewerkschaften und konnten die Arbeitsbedingungen deutlich verbesserten. Die etablierten Gewerkschaften stehen unter Zugzwang und versuchen daher, die Führung in der Branche zurückzuerobern. In Deutschland hat es einen solchen mit Italien vergleichbaren Streikzyklus im Logistiksektor bisher nicht gegeben. Es gibt auch keine Basisorganisationen, die in der Lage wären, Verdis Monopol auf die Arbeitnehmervertretung in der Branche herauszufordern. Verdi spürt daher bislang keinen besonderen Handlungsdruck.
Das Interview führten Jörn Boewe und Johannes Schulten
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