In Kassel findet alle fünf Jahre für 100 Tage die documenta, diesmal: Documenta, statt, weltweit eine der bedeutendsten Ausstellungen für zeitgenössische Kunst. Es ist die elfte seit dem II. Weltkrieg und die dritte nach der Wende und alle Schulklassen und Holländer fahren wieder hin. Seit der Wiedervereinigung kommen die vollklimatisierten Busse auch aus Dresden und Polen.
Die ungeklärte Frage bei jeder Documenta ist, übernachten die Besucher hier, ist die Ausstellung so umfangreich und wichtig, dass man noch einen zusätzlichen Tag investieren muss, um die vielen Bilder - diesmal sind die digitalen Pixel dazu gekommen - auch alle konsumieren zu können, verdauen kann man sie ja später. Und zweitens, lässt sich der Katalog noch bezahlen und transportieren? Hm.
Die Documenta hat an Umfang zugenommen, es kommt diesmal noch eine - leer stehende - Brauerei hinzu. Im Vorfeld wurden dagegen Proteste laut, hatte doch eine südhessische Brauerei die einheimischen Brauereien, die wiederum zuvor - sozusagen in der aktiven Phase der Wiedervereinigung - die Thüringer Brauereien demokratisch unter sich aufgeteilt hatten, übernommen, nur um sie allesamt - und sich dazu - Gewinn bringend zu verscheuern oder zu schließen.
Es gab Ärger, und die Kasseler und Kasseläner, die angeblich nie auf die "doggumända" gehen und lieber "zisseln", das ist eine Art Karneval im August, auf und an der Fulda, waren einigermaßen verwundert darüber, dass eine Frankfurter Brauerei, die sich um die Vernichtung der letzten noch verbliebenen einheimischen Arbeitsplätze in Kassel verdient gemacht hatte, als Hauptsponsor der Kasseler Documenta auftreten durfte ("Kunst statt Bier").
Die überwiegend aus Landes- und Bundesmitteln finanzierte Weltausstellung hat ungefähr den Etat - 20 Millionen Euro - den die Stadt Kassel in diesem Jahr noch zusätzlich einsparen will, um die Zinsen für ihre misslungene Selbstverwaltung in der Vergangenheit an die auswärtigen Banken zu zahlen. Das erklärt, warum sich bei der Eröffnung der Documenta soviele Politiker, die inzwischen aus Berlin kommen, am kalten Büffet drängeln. Die Ausstellung findet parallel zum Bundestagswahlkampf statt. Ist die Ausstellung gut und erfolgreich, nützt das auch dem Image politischer Gäste. Die Taxifahrer liefern sich mit Unterstützung der einheimischen Justiz einen Krieg um die Besucher. Parallel dazu fangen die Hotels in der Innenstadt an sich gegenseitig unter Wasser zu setzen.
Damit berühren wir den Kern der Ausstellung, das Prinzip der demokratischen Globalisierung, die, aus deutscher Sicht, weltweit nach dem Vorbild der deutschen Wiedervereinigung in Mitteleuropa verläuft. Der typische Documenta-Künstler kommt aus der dritten Welt und hat seinen Wohnsitz in New York und Berlin.
Die Documenta, ursprünglich - mit US-amerikanischer Unterstützung - nach dem II. Weltkrieg als Antwort auf Faschismus und entartete Kunst gegründet und als Provokation gegen den eisernen Vorhang und sozialistische Kunst erfolgreich in den Dienst genommen, öffnete sich nach dem Kalten Krieg Ende der achtziger Jahre von einer westeuropäisch und US-amerikanisch bestimmten zur postkolonialen Weltkunst. Inzwischen ist Westkunst fast ein Schimpfwort. Überall auf der Ausstellung läuft geschultes Personal herum, das dem Besucher alles erklärt. Die hiesigen Kunststudenten bewachen die Kunstwerke.
Über die ethische Vernunft und Verantwortung der Kunst (1992) und den Verzicht auf das Spektakuläre hin zum Bilderstürmerischen (1997) jetzt also die Wendung und Öffnung zur politisch motivierten, ideologiefreien Weltkunst. Die Ausstellung in Kassel ist - als Plattform 5 - die Bebilderung von vier Bildungsreisen des Documenta-Teams nach Wien/Berlin, Neu-Delhi, St.Lucia und Lagos zu weltpolitisch relevanten Themen von der Urbanisierung bis zur Kreolisierung. Eigentlich ein geschickter Schachzug um zusätzliche Besucherscharen - aus der Dritten Welt? - nach Kassel zu locken, aber auch als schematisierende visuelle Aufklärungsstrategie eine Bildfalle - heutzutage glaubt jeder Zweite, wenn er sich für Politik interessiert, dass er auch weiß, was Kunst ist.
In den sechziger und siebziger Jahren politisierte sich die Kunst in der Folge der weltweiten Studentenproteste (die wiederum vorher von der radikalen, künstlerischen Avantgarde in ihren Formen beeinflusst wurden) in den westlichen Industrienationen. Die eingebildeten Ängste des damaligen Kleinbürgertums waren oft bildmächtiger als die durch uns (die wir heute das durchweg älter gewordene Publikum der Documenta darstellen) erreichten Aufklärungen durch Provokationen und Tabubrüche. Ich erinnere mich, dass in der damaligen BRD die Angst vor Solidarisierungen durch "militante" schwarz-weiße Videodokumentationen von den Auseinandersetzungen um den Bau der Startbahn West (beim Flughafen Frankfurt am Main) die gesetzliche Einführung des privaten Fernsehens einige Jahre blockiert hatte. Das, was in dieser Zeit als politische Aufklärung funktionierte, war die überwiegend sogar US-amerikanische Berichterstattung über den Vietnamkrieg und die militärische Niederlage der USA. Ohne die - weltweiten - Fernsehübertragungen, damals noch nicht über Satelliten, wäre diese revolutionäre, mediale Wirkung nie möglich gewesen. Informationspolitik als Geschäft.
Die wehmütige Erinnerung an dieses vielleicht einflussreichste Medienereignis des 20.Jahrhunderts mag die Documenta-Macher dazu bewogen haben, die neuen Medien als authentische Leitmedien in ihre Ausstellung zu integrieren. Weit mehr als die Hälfte der ausgewählten Arbeiten und Künstler bedienen sich sowohl in der Aufzeichnung als auch in der Wiedergabe dieser Technologien oder reflektieren diese, inklusive der verschiedenen Erscheinungsformen der Fotografie und Computerkunst. Die Faszination der neuen Medien ist eine der Machtausübung, das mediale Werkzeug ordnet sich hier nicht so einfach dem Werk unter. Am ehesten noch bei einigen Videokünstlern, wie Stan Douglas, Künstlern, die von Überwachungserfahrungen profitieren.
Eine beiläufige Militanz bleibt spürbar. Der Film - mit Ausnahme einer geradezu beleidigend altmodischen Arbeit von Dieter Roth, 20 Super-Acht-Projektoren spulen und surren in 30 Minuten ein 24-stündiges Tagebuch kaleidoskopartig herunter - ist nur als Digitalfilm präsent. Dieser Bereich manifestiert sich am stärksten auf der Ausstellung. Nicht wenige prominente Medienkünstler erhalten quasi im Vorbeigehen endlich ihr eigenes Programmkino mit 50 Sitzplätzen, nur für einen Film oder auch nur für eine Bildschleife - die den Besucher ratlos, inzwischen aber oft gelangweilt zurücklässt. Schulklassen kichern schon mal vorsichtig um die Ecke. Grau gestrichene Spanplattenarchitektur schafft eine Beichtstuhlatmosphäre.
Mit der Höhlensituation der filmischen Projektion, des Bildwerfens (nicht der Aufnahme des Materials) zu kokettieren - Plato? - ist praktisch zum heimlichen Motto der Ausstellung geworden. Die gesamte Documenta mit ihren vielen Einzelinstallationen wirkt wie ein nach außen abgeschottetes Labyrinth. Lediglich ein Fenster im Fridericianum, erster Stock, öffnet sich zum Karlsplatz ins Helle. Ein Friedhof der Bilder. Man kann gar nicht so schnell nach frischer Luft schnappen. In dem Raum befindet sich eine Aktiengesellschaft mit ihren gesammelten Unterlagen. Demokratie weltweit, aggressiver Kapitalismus bei gleichzeitiger Konsumverweigerung. Stürmische Zeiten für Künstler. Keine Aufträge mehr.
Was können nun Fotos nachträglich über Massaker in Afrika in einer internationalen Kunstausstellung anderes als Betroffenheit (Gleichgültigkeit) bei einem westlich zerstreuten Kunstpublikum hervorrufen? Ganz abgesehen davon, ist das normale Publikum der Documenta über diese Dinge informiert. Oder: als Spiegelung, was sollen Fotoserien am Rande von gewalttätigen Demonstrationen auf einem Weltwirtschaftsgipfel ästhetisch nachhaltig beeinflussen? Den Kunstmarkt? Unsere Sehgewohnheiten?
Es ist problematisch aus einer nachvollziehbaren moralischen Betroffenheit Informationen als Inhalte in künstlerische Prozesse induzieren zu wollen. Letztlich entstehen daraus gut gemeinte Ratschläge, politisch korrekte Illustrationen und pädagogisierende Informationen mit Ansätzen medialer Kritik und spezifischen kulturellen Identitätsfindungen.
Weltkunst, wie sie hier genussfrei präsentiert wird, zeigt zum wiederholten Male die Überwindung des westlichen Individualismus. Etwa in den Arbeiten von Dieter Roth, Große Tischruine, und Hanne Darbovens, für ihre Bewunderer über zwei Stockwerke verteilten, monotonen Zahlenkolonnen in akribischen Geschäftsbüchern. Und sie spiegelt, wie unter dem Druck der kontinuierlich wachsenden Weltbevölkerung aus den Volkskulturen der fremden Kontinente durch Angleichung und Integration zunehmend globalisierte oder globalisierende Massenkunst auf unterschiedlichen Niveaus entsteht, die westlich orientiert ist, weil die Bedingungen dafür zuerst bei uns entstanden sind. Vielleicht sind die Neuen Medien die Klammer um solche Übergänge von Volkskunst zu Massenkulturen erst zu digitalisieren und dann vermitteln zu können.
Ausgehend von den Mediengewohnheiten inzwischen nicht nur der westlichen Welt, ein- bis sechsstündiger täglicher Fernsehkonsum, bis zu zwölfstündiger Arbeit am Computer. Das bedeutet, man entwickelt in dieser Zeit auch kulturelle Muster für Kunst. Folgerichtig, nach dieser Bildlogik, hat Malerei auf dieser Documenta nichts zu suchen - keine Aktmalerei, nur wenige Beispiele von modischer Antimalerei befinden sich auf der Ausstellung, etwa das Ästhetisieren von schlechten Kohlezeichnungen mit halbvergessenen politischen Slogans bei Leon Golub. Schlechte Zeiten für den Kunstunterricht. Die Kinder heute mögen keine falsche Ironie. Fazit: Es gibt eigentlich keine herausragenden Arbeiten, sondern nur das umfangreiche digitale Konvolut von Filmen, Installationen, Dokumentationen, Photos. Videokunst ist überschätzt. Eher ein Kick von gestern.
Wer Zeit mitbringt, eine Woche, mindestens aber drei Tage, kann hier einen sehr guten Überblick über die weltweit zunehmende unterschiedliche Anwendung von Bilddigitalisierungen in politischen, kulturellen, ethnografischen und wissenschaftlichen, auch privaten Zusammenhängen gewinnen. Es geht dabei um Möglichkeiten neuen Sehens und Verstehens an Hand von häufig zufälligen, austauschbaren Beispielen aus dem Bereich der weltweiten digitalen Bildrevolution. Pictural turn. Wie das halt so ist, bei einer subjektiven Auswahl.
Geht man von der Documenta-Halle die Gustav-Mahler-Treppe zur Aue runter, kommt man an handwerklich immer noch gut gemachten Repliken kurdisch-armenischer Teppiche vorbei, deren unverwüstliche Muster schon Picasso angeregt hatten, halb vollendeten Negerplastiken und Masken, Blechspielzeug aus leeren Coladosen, ätherischen Ölen, man kann sich auch den Hals massieren lassen, dazwischen im modernen Antiquariat ein monumentales Buch über Endspiele, vielleicht zum Spielen ohne Figuren.
Ganz zum Schluss kann man sich noch für einen Euro ein Eis kaufen, wahlweise aus Meer-, Brack- oder Süßwasser und, an der Fulda entlangschlendernd, lutschend in der nordhessischen Märchenlandschaft der Brüder Grimm verschwinden. Schließlich will man auch mal was Schönes sehen.
Documenta11. noch bis 15. September, täglich 10-20 Uhr, Eintritt 16 Euro, Katalog 55 Euro ca. 3,5 Kilo
Rolf Lobeck ist Professor für visuelle Kommunikation und Leiter des zentralen Medienbereichs der Universität Gesamthochschule Kassel.
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