Ein Lauf wie kein anderer

Tradition Eine halbe Millionen Zuschauer, 20.000 Läufer aus fast 100 Ländern: Der Boston Marathon ist nicht nur ein Großevent, er hat auch eine besondere Geschichte der Solidarität

So viel Leid. Drei Tote. Weit mehr als hundert Verletzte. Das haben die zwei Bomben angerichtet, die an der Ziellinie des Boston Marathon gezündet wurden. Wir alle trauern um die Toten und Verwundeten – und um den Boston Marathon, der auf brutale Weise missbraucht wurde.

Dieser Lauf hatte nämlich eine Bedeutung, die andere sportliche Ereignisse schlicht nicht haben. Nicht nur hier in Boston. 1897 fand er zum ersten Mal statt, er ist damit der älteste jährlich stattfindende Marathon der Welt. Die Gründer ließen sich vom ersten modernen Marathon der Neuzeit inspirieren, der wiederum während der 1. Olympiade in Athen ein Jahr zuvor durchgeführt wurde. Heute kommen jährlich eine halbe Million Menschen, um den mehr als 20.000 Läufern aus fast 100 Ländern zuzusehen.

Das Baseball-Team spielt extra früher

Die ganze Stadt ist auf den Beinen, will dabei sein. Die Boston Red Sox, unser Baseball-Team, haben an diesem Tag immer ein Spiel, das bereits am Morgen fünf Minuten nach elf Uhr beginnt, so können die Zuschauer nach dem Ende rechtzeitig zum Kenmore Square kommen, um die Läufer auf der Zielgeraden anzufeuern. Der Applaus aber gilt nicht den Stars, sondern vor allem denen, die ihre Körper auf der 26,2 Meilen langen Strecke auf eine harte Probe stellen.

Der Lauf führt durch acht Städte in Massachusetts, er gehört genauso zum neu-englischen Frühling wie der Indian Summer im Herbst. Ein absolut einzigartiges Ereignis, das von nun an für immer anders sein wird.

Ein Freund von mir hat schon viermal an dem Marathon teilgenommen. Er hat mir erzählt, dass an diesem Rennen sehr viele Läufer unbedingt teilnehmen wollen: „Wenn man in Wellesley an den gefühlt tausend schreienden Menschen vorbei läuft, dann hörst Du nichts mehr, so laut ist das. Danach kämpft man sich den Heartbreak Hill hoch, den letzten der vier Hügel rund um Boston. Man kommt an Harvard, dem MIT und all den anderen Universitäten vorbei, und dann kommt das berühmte Schild CITGO. Und das sagt dir dann: Von hier aus ist es nur noch eine Meile.“ Er sagt auch noch, dass dieser Lauf mit nichts, wirklich nichts vergleichbar ist.

Eine hässliche Narbe

Wie eine hässliche Narbe im Gesicht eines Menschen wird der Bombenanschlag von nun an ein Teil dieses Marathons sein. Aber man darf dabei nicht vergessen, dass diese Narbe nur ein Teil des Ganzen ist. Zu dem Marathon gehört nicht nur der Schrecken und der Terror, sondern eben auch Geschichten wie die von Kathrine Switzer. Und es ist wichtig, dass ihre Geschichte nicht in Vergessenheit gerät. Gerade jetzt.

Obwohl Frauen bei dem äußerst strapaziösen 26 Meilen-Lauf in den ersten Jahrzehnten offiziell noch nicht zugelassen waren, meldete sich Kathrine Switzer im Jahr 1967 unter dem Namen K.V. Switzer bei dem Lauf an. Sie zog eine weite Jogginghose an und ging so an den Start. Nach nur fünf Meilen sprang einer der Renndirektoren von einem der Begleitfahrzeuge ab und versuchte, die Frau gewaltsam von der Straße zu drängen. Er schrie: „Verschwinde aus meinem Rennen!“

Doch die Männer, die neben ihr liefen, bildeten einen engen Kreis um sie und drängten den Mann einfach ab. Sie ließen ihn nicht an Kathrine Switzer herankommen. Sie waren wie sie der Meinung, dass Frauen jedes Recht der Welt hatten, an dem Lauf teilzunehmen. Ihnen ging es nicht darum, ihre körperliche Überlegenheit zu zeigen oder Männer gegen Frauen auszuspielen. Sie wollten ein Rennen laufen. Und so gelangte Kathrine Switzer ans Ziel. Später hat sie gesagt: „Ich habe gemerkt, wie mit jeder weiteren Meile, die ich lief, meine Wut weniger wurde. Wenn man läuft, kann man nicht wütend sein.“

Nun ist der Boston Marathon mit zwei verschiedenen Modellen von Männlichkeit verknüpft: auf der einen Seite die Gewaltätigkeit und Paranoia jenes Mannes, der Switzer von der Straße drängen wollte, auf der anderen die solidarischen Männer. Und unter ihnen, als Kraftfeld und heimliches Zentrum: die entschlossene Konzentration von Kathrine Switzer.

Damals hat uns der Boston Marathon gezeigt, was möglich ist. Nun haben wir, also in diesem Jahr, vor ein paar Tagen, gerade eben, haben wir eine Welt gesehen, die nicht größer wurde, sondern kleiner, schlechter. Da war kein Triumph, keine Inspiration, sondern Chaos, Panik und Angst. Wir haben unsere Sicherheit in der Menge von anderen Menschen verloren. Wir werden von ihr nicht mehr wie einst Kathrine Switzer geschützt und getragen werden. Die Narbe wird bleiben. Und trotzdem werden wir im nächsten Jahr wieder laufen. Wir müssen das tun.

Dave Zirin ist ein politischer Sportreporter und leitet den Sportteil der amerikanischen Wochenzeitung The Nation. Außerdem schreibt er für Sports Illustrated

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