Es gibt kaum vernünftige Gründe, über einen Begriff wie Identität nachzudenken; wesentliche Nachschlagewerke wie das Historische Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland führen ihn erst gar nicht. Andererseits ist, wer am frühen Morgen über die Meißener Elbbrücke läuft, schon an einer Kneipe vorbei, über der groß „Fettbemmenschänke“ steht und vor der ein erwachsener Mann mit Glitzerwollmütze wartet. Man geht etwas verunsichert weiter, da ragt rechts und spätgotisch die Albrechtsburg auf, eine der Festen, die die Besiedlung der Gegend mit Germanen sichern sollten, geradeaus geht es auf sanierte, hübsche Gründerzeitbauten zu, ein Bus mit Schulkindern gleitet vorbei, Mädchen kichern an der Haltestelle und überhaupt hat man bei Temperaturen um null Grad Celsius schon einen ganz guten Einstieg: Über Dunkeldeutschland – keine Sorge, wir kommen darauf zu sprechen – lacht die Sonne.
Meißen, das ist nämlich auch: der Bundestagswahlkreis 155, 34,1 Prozent der Erststimmen für Thomas de Maizière, sehr konservative CDU. Sein Gegenkandidat hieß Carsten Hütter. Der sitzt im Landtag, stellt schon mal die kleine Anfrage 6/6423 zur „Vergewaltigung durch Asylbewerber im Maxim-Gorki-Park“, und ob diese verheimlicht würde. Das Ministerium des Inneren konnte nicht recht antworten, denn: „Der Staatsregierung ist im Freistaat Sachsen kein Maxim-Gorki-Park bekannt.“ Hütter folgt obskuren Internetforen und sitzt selbstverständlich für die AfD im Landtag.
Tatsächlich, Identität war das Stichwort, Meißen ist sehr eigen, genau wie größere Teile des ländlichen Sachsen – vielleicht ist etwas dem Wasser beigemischt: Im Bundestagswahlkreis 155 gewann die AfD mit 32,8 Prozent mit Abstand die meisten Zweitstimmen. Carsten Hütter landete sehr knapp hinter de Maizière. Nur wenige im Ort nennen ihn Alu-Hütter.
Der Nazi mit dem Schwert
Einige von denen sitzen dann am Tisch, gehören zu einer Initiative, ihr Büro ist etwas den Hügel hinauf, zweite Etage in einem Mietshaus. Sie haben Familien, Jobs, sind hergezogen, oder haben eine Weile woanders gelebt: Tilo Hellmann, Mitarbeiter in der Landtagsfraktion der Linken, Sören Skalicks, war IT-Gruppenleiter in Berlin, leitet jetzt die Geschäftsstelle, etwas später kommt Jana Henker, klinische Psychologin. Die Initiative gründete sich, als Reichsbürger 2013 ein „Deutschlandtreffen“ zu Füßen der Burg feiern wollten, Germanentum und so. Dagegen organisierten einige ein Fest, belegten die Flussaue. „Fröhlich sollte es sein“, sagt Hellmann, klappte auch. Aus der Gegen-Feier wuchs die Initiative.
Jetzt können sie viele dieser eigentlich gar nicht lustigen Anekdoten erzählen: Im Mietshaus, in dem wir sitzen, sollten Geflüchtete untergebracht werden, kaum war das bekannt, gab es einen Brandanschlag. Dann, wiederhergestellt, misslang ein merkwürdiger Plan, mit Wasser Schaden anzurichten. Ein Mann zerprügelte die Fahrräder zweier Geflüchteter aus Syrien, griff sie dann selbst mit einem Schwert an – war den zwei Kampfsportlern aber unterlegen. Herausgerissene Bäume, ausgekipptes Öl im internationalen Garten, dazu verklappter Haushaltsmüll, Eimer mit Hakenkreuz. Darunter netterweise Rechnungen mit der Postanschrift der Täter. Man atmet also tief durch und denkt: Alles furchtbar dumpf. Dass niemand umkam, war knapp.
Also könnte niemand der Initiative verdenken, würde sie sich dafür einsetzen, einen Zaun um die Stadt ziehen zu lassen und genau aufzupassen, dass niemand herein- und herauskäme. Tut sie natürlich nicht, sie nennen sich „Buntes Meißen“, organisieren Sprachkurse für Geflüchtete, Patenschaften, Sport, einen geschützten Frauenraum und eben den Garten, wo früher ein Schießstand der Roten Armee lag.
Zu Meißen, erklären Hellmann und Skalicks, müsse man zwei Dinge wissen. Erstens, dass, wer auch nur aus Dresden hergezogen kommt, als Ausländer gelte. Bedeutet: Hat eher keine Ahnung. Zweitens, dass die regionale CDU in der sehr rechten sächsischen CDU den rechten Rand abdecke. Dann braucht es noch eine Weile, bis eine seltsame Erkenntnis reift: In Meißen, dem Ort, an dem Slawen siedelten (auch gegen sie sollte die Albrechtsburg wirken), auf das Piasten und die mit Bayern verbündeten Přemysliden spitzten, das im Dreißigjährigen Krieg zerstört wurde, durch das immer Horden und Heerscharen zogen, meint heute ein übergroßer Teil der Bewohner, dass es Zuwanderung erst seit 2015 gäbe. Und wenn jetzt 500 Geflüchtete in der Stadt leben, sagt die ältere Dame im Café, die nach Kriegsende Flüchtlinge registrierte: Nein, die Flucht nach 1945 sei überhaupt nicht vergleichbar mit Flucht vor heutigem Kriegselend. Sondern Angela Merkels Fehler. Und, selbstverständlich, sie habe nichts gegen Ausländer, „aber ...“.
Die Initiative bekommt von etlichen Politikern klar gezeigt, wie interessiert man an Integrationsprojekten ist – nämlich gar nicht. Der parteilose Bürgermeister ignoriert sie, die CDU-Landtagsabgeordnete Daniela Kuge facebookte: „Durch die vielen Flüchtlinge“ habe einer, der Sachsen doof fände, einen Job bekommen „und betreut ein Integrationsprojekt. Und was macht er? Stellt seine Lebensgefährtin ein ...“ Nur hatte Sören Skalicks seine Frau nicht eingestellt, sondern der Vorstand der Initiative eine Biologin für den internationalen Garten. Die wohnt zwar im selben Haus wie Skalicks, der aber führt bereits anderweitig eine glückliche Ehe, hat drei Kinder.
Hochnotpeinlich? Nicht schlimm für Kuge, die erzwungene Richtigstellung begleitet sie mit der Anmerkung, das alles habe ein „komisches Geschmäckle“. Applaus bei der AfD. So geht das, zusammengefasst, eigentlich ständig.
Da hat man sie beieinander, die Zutaten des regionalen Identitätsmechanismus für Dunkeldeutsche: Ignoranz, Ressentiment, Militanz. Funktioniert unabhängig vom Wohnort, braucht aber eine kritische Masse. Und genau dagegen wendet sich die Initiative. Mit Patenschaften, bei denen Familien zusammenrücken, Feste feiern, Alltag regeln. Indem Frauen vor den Toren der Stadt das Radfahren lernen, gärtnern, oder mit der Wohnung in der obersten Etage: Unaufgeregte Küche, zwei Zimmer, bunter Teppich auf Laminat. Das Atelier Frauenvielfalt, der einzige geschützte Frauenraum Sachsens. Im Kalender steht heute „Frauencafé und Textiles“, an den Wänden hängen Konjugationstabellen für „stricken“ und „häkeln“. Es gibt keinen Unterricht und keine Lehrerin: Deutsch zu lernen ist immer Teil der Veranstaltungen, ob Alltagskunde, Yoga oder kreatives Gestalten.
Lange, erzählt Grit Stephan, Schauspielerin und Atelier-Leiterin, habe man in Meißen keine geflüchteten Frauen alleine gesehen. Manchmal verboten es ihre Männer, manchmal hatten sie Angst. Heute sind ein Dutzend Frauen gekommen, einige haben ihr Kopftuch abgelegt, eine stillt, andere häkeln, eine Frau lehnt an der Wand, schaut zu. „Am Anfang hatten wir noch Stühle“, Grit Stephan lacht, vielleicht kommen ihr die Stühle wie eine Metapher vor, sie stehen für Plan und Ordnung. Die Stühle verschwanden wieder, das verrät viel über das Konzept zum Atelier: Hier geht es nicht darum, dass Frauen lernen sollen, dass man in Deutschland auf Stühlen sitzt. Sie sollen sich wohlfühlen. Das Konzept funktioniert, die Frauen kommen.
Im Frauenraum wächst Mut
Und entscheiden jede Woche selbst, was sie brauchen. Sie sollen nicht belehrt werden, sondern das Gefühl zurückerlangen, dass sie sich einbringen können. Die Textil-Expertin heißt Buchra, kommt aus Syrien, schwarzes Kopftuch, ein aufwendig gestrickter Schal über den Schultern. „Hast du das schon von deiner Mutter gelernt?“, fragt eine Helferin. „Nein, erst mit 25“, antwortet Buchra. Beide lachen, bei der einen erledigt sich gerade das Vorurteil, dass Muslimas schon als Kinder stricken.
Die Frauen im Atelier sind aus Syrien, dem Irak, Afghanistan, Kosovo. Die Helferin kommt aus den USA, unterschiedliche Kulturkreise, verschiedene Generationen. Wichtigste Gemeinsamkeit: Sie verstehen sich als Frauen. „Frauen, die hier ankommen, wurden benachteiligt und werden auch in unserer Gesellschaft benachteiligt“, erzählt Grit Stephan. „In einer Kommune wie Meißen werden Sprachkurse ohne Kinderbetreuung angeboten. Das verbaut vielen Frauen den Zugang.“ Oft könnten eben nur die Männer Fahrradfahren, es gibt Schwierigkeiten, wenn sie auf die Kinder aufpassen sollen, während ihre Frauen im Deutschkurs sitzen – all das fängt der Frauenraum auf, thematisiert es und verändert die Haltung dazu.
Die Geschichte mit den Stühlen spiegelt sich in vielen Erzählungen – in der Sommerküche im Garten hatten die Organisatorinnen einen Plan, eine Gruppe Afghaninnen einen anderen. „Am Ende haben wir alles zusammengeschmissen, für manche gab es wohl das erste Mal Rote Beete, aber allen hat es geschmeckt“, erzählt Ellen Scharmentke, die Co-Projektleiterin. Irgendwann glauben sogar Geflüchtete aus Wüstenregionen, dass man in deutschen Sommern nicht jeden Tag wässern muss.
Es geht also – und das muss man sich jetzt ohne irgendeine Kumbaya-Stimmung, ohne Batikgewand oder Duftkerzen vorstellen – um Offenheit, Interesse und Gelassenheit. Im Frauenraum, im Garten, bei Patenschaften. Ein „leises Projekt“ nennt Grit Stephan das Atelier, eine „niedrigschwellige Möglichkeit, um zusammenzuarbeiten“ nennt Ellen Scharmentke den Garten. Manchmal gibt es ein Fest – aber auch am Stadtrand ist schon am frühen Abend Schluss, nur keinen Lärm machen. Die Nachbarn hinter dem Feld mosern trotzdem.
Vielleicht jedoch hat die leise Arbeit schon gewirkt, militante Angriffe sind seltener geworden, gegen den Daniela-Kuge-Zynismus, AfD-dumpf vorzugehen und zu hoffen, dass irgendein Dreck hängen bleibt, muss sachliche Richtigstellung helfen. „Aber wir müssen aus der Akutversorgung raus“, sagt Hellmann. „Wir müssen Bildungsangebote, ein breiteres Angebot machen.“ Also gegen Defizite bei denen arbeiten, die schon länger in Meißen leben. Und dann ist der Psychologin Jana Henker noch aufgefallen, dass „das Projekt auch für uns identitätsstiftend geworden ist“. Weil sie endlich mit Leuten zusammenarbeiten, Zeit verbringen, die ähnlich denken.
Wenn man dann, die Stadt im Rücken, wieder über die Elbbrücke läuft, kann man kurz meinen, dass da vielleicht nur deshalb kein bewachter Zaun steht, weil es die Initiative „Buntes Meißen“ gibt. Zum 31. Dezember läuft die Landesförderung aus.
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