Keine verfassungspolitische Sonntagsrede ohne den Hinweis, das Grundgesetz sei die beste Verfassung, die das Land je hatte – bewährt in mehr als 60 Jahren, Garant von Demokratie, Freiheit und Wohlstand. Und so war die deutsche Verfassung bei der Vereinigung denn auch Maßstab aller normativen Überlegungen, so gut wie unantastbar. Jedenfalls plädierten 1990 und 1991 die meisten dafür, möglichst wenig zu ändern und möglichst viel so zu lassen, wie es war.
Aus dem selbstgerechten Gefühl heraus, Sieger im Kampf der Systeme zu sein, wollten die Vertreter der „alten“ Bundesrepublik damals keine Grundsatzdebatte. Es sollten keine plebiszitären Elemente aufgenommen werden, der Föderalismus sollte so bleiben, wie er war. Schon gar nicht sollte eine neue Verfassung vom Volk „in freier Entscheidung beschlossen werden“, wie es das Grundgesetz vorsah und noch immer vorsieht. Die Geschichte der Bundesrepublik ist in diesen Sonntagsreden bis heute nichts anderes als eine Erfolgsgeschichte. Und im Begriff des Verfassungspatriotismus hat diese Grundhaltung einen wirkmächtigen, wenngleich häufig überschätzten Ausdruck gefunden.
Doch die Zeiten des vorbehaltlosen Bekenntnisses zum Grundgesetz sind vorbei. An allen Ecken und Enden knirscht es im verfassungsrechtlichen Gebälk, und die in diesen Spannungen gründenden Debatten drehen sich keineswegs nur um Anpassungen des Rechts an eine sich ändernde Verfassungswirklichkeit. Vielmehr scheinen die Prinzipien, die im Grundgesetz ausformuliert sind, selbst zunehmend in Frage gestellt. In den Diskussionen um den Bundesstaat wird deutlich, was das heißt.
Element der Demokratie
Der Bundesstaat ist ein zentrales verfassungsrechtliches Strukturprinzip. Er legt nicht nur die Kompetenzen von Bund und Ländern fest, sondern ist auch Element einer „wehrhaften Demokratie“. Deswegen schreibt die Ewigkeitsklausel verbindlich vor, dass solange das Grundgesetz besteht, der Bundesstaat nicht abgeschafft werden kann. Er ist also konstitutives Element freiheitlicher Demokratie.
An diese herrschaftsbeschränkende und freiheitssichernde Funktion muss offenbar erinnert werden. Denn genau weil der Bundesstaat unbeschränktes „Durchregieren“ unmöglich macht, scheint er immer weniger Anhänger zu haben. Einst bewundert dafür, dass mit ihm die Vereinigung reibungslos bewerkstelligt werden konnte, gilt er vielen nun als Ursache für Reformblockaden, „faule Kompromisse“, die Intransparenz von Entscheidungen, für Bildungschaos und alles Schlechte in der Republik.
Die Kritik am kooperativen Föderalismus kommt dabei schon seit vielen Jahren aus dem politischen Establishment: Ex-Bundespräsident Roman Herzog war einer der ersten, der dem Unbehagen gegenüber der bundesstaatlichen Idee und der Mühsal föderativer Entscheidungsfindung wirkmächtig Ausdruck verliehen hat. In seiner „Berliner Rede“ forderte der ehemalige Verfassungsrichter nicht nur den berühmten Ruck – vielmehr kritisierte, fast denunzierte er die auf Konsens und Kompromiss zielende Entscheidungsfindung in Deutschland in einer ganz grundsätzlichen Weise.
Über Nacht schlechter geworden
In Herzogs Fahrwasser trauten sich viele dann mehr: Hans-Olaf Henkel etwa, einst Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Oder Horst Köhler, das zurückgetretene Staatsoberhaupt, der den Föderalismus 2005 schlicht und einfach für „überholt“ erklärte. Und wer die Kommentare liest, die im Zuge der Föderalismusreform über den Bundesstaat abgegeben wurden, kann nur mit dem ehemaligen Verfassungsrichter Dieter Grimm sagen, „dass das Grundgesetz über Nacht von der besten Verfassung, die Deutschland je hatte, zu der schlechtesten geworden ist“.
Die Reform des Föderalismus 2006 und 2009 hat diese Debatte keineswegs beendet. Im Gegenteil, ständig werden neue Vorschläge unterbreitet, wird auf Entscheidungsblockaden verwiesen oder wird eine Reform des Bundesrates angemahnt. Ernüchtert hat deswegen Fritz W. Scharpf, einer der intimsten Kenner der Materie, festgestellt: In Deutschland gebe es einen „Föderalismus ohne Föderalisten“.
Stoßrichtung der Kritik ist dabei stets die Überlegung, dass der Bundesstaat effektive politische Führung unmöglich mache. Denn Demokratie wird in Deutschland immer weniger freiheitlich und immer mehr unter der Perspektive des Durchregierens bewertet. Anders gesagt: Es geht in den Debatten um den Bundesstaat nicht um die Reform eines Verfassungsprinzips, sondern vielfach wird dieses selbst – zumindest seine herrschaftsbeschränkende Wirkung – in Frage gestellt. Unterfüttert und befeuert wird die Skepsis gegenüber dem Föderalismus durch eine Verfassungspraxis, die den bundesstaatlichen Institutionen offenbar nur noch wenig Respekt entgegenbringt: Erinnert sei nur an die Verabschiedung des „Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilitätsmechanismus“, das den Bundesetat mit 148 Milliarden Euro belasten könnte. In der Länderkammer wurde es in 115 Minuten beraten und verabschiedet.
Überzogene Verurteilung
Ohne Weiteres lassen sich noch andere Beispiele anführen, die zeigen, dass die Ideen, auf denen das Grundgesetz als Normengefüge ruht, offenbar immer weniger Anhänger haben: die diskursive Aufweichung des Folterverbotes, die Überlegung eines Ex-Verteidigungsministers, unschuldige Menschen töten zu lassen, um andere unschuldige Menschen zu retten, oder der Umbau des Sozialstaates, der nicht mehr als Emanzipationsprojekt verstanden wird, sondern als rechtlich abgesicherte Armenfürsorge.
All diese verfassungspolitischen Debatten zeigen jedoch, dass es nicht mehr um eine – häufig berechtigte – Kritik an Funktionsproblemen von Bundesstaat, parlamentarischem Regierungssystems oder Sozialstaat geht. Vielmehr ist die Kritik vielfach in eine pauschale und überzogene Verurteilung verfassungsrechtlicher Strukturprinzipien umgeschlagen.
Das mögen die jeweiligen Kritiker nicht immer gewollt haben. Dennoch befeuern sie eine Debatte, in der sich ein impliziter, schleichender Verfassungswandel manifestiert, der zentrale Prinzipien des Grundgesetzes ausdünnt: Die Lücke zwischen dem, was wir als Strukturprinzipien im Grundgesetz festgeschrieben haben, und der Verfassungswirklichkeit wird vergrößert.
Und so droht das Grundgesetz, sich tatsächlich von der besten Verfassung, die wir je hatten, zur schlechtesten zu wandeln. Immer weniger ist es, bedrängt von überschießender Kritik, in der Lage, den politischen Prozess verbindlich zu gestalten, die Gesellschaft als Ganzes zu integrieren und die normativen Referenzpunkte bereitzustellen, die dem Parlamentarischen Rat einst als unhintergehbare Voraussetzung der Verfassungsordnung der Bundesrepublik galten. Anders gesagt: Vielleicht gilt ja doch bald der von Ernst-Wolfgang Böckenförde vor dem Hintergrund der schleichenden Umdeutung verfassungsrechtlicher Prinzipien formulierte Satz: „Die Menschenwürde war unantastbar!“
Werner Reutter, Jahrgang 1958, lehrt als Politikwissenschaftler in Jena und Berlin
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