Ljudmila Ulitzkaja gehört mit ihren Büchern auch beim westlichen Publikum zu den bekanntesten russischen Gegenwartsautoren. Die im vorletzten Kriegsjahr während der Evakuierung der Familie in einer kleinen Stadt im Ural geborene Schriftstellerin wuchs in Moskau auf, wo sie Biologie studierte und ab 1967 als Genetikerin an der Akademie der Wissenschaften arbeitete. Aufgrund der illegalen Abschrift und Verbreitung von Samisdatliteratur wurde sie entlassen. Später arbeitete sie zwei Jahre am Jüdischen Kammertheater und hielt sich mit publizistischen Gelegenheitsaufträgen über Wasser.
Ulitzkaja gehört zu den "Schestidesjatniki", jener Generation, die in ihrer Jugend während der sechziger Jahren nach der stalinistischen Unzeit die Atmosphäre des Tauwetters geatmet hatte, bevor die Sowjetunion unter Breschnew in Stagnation verfiel und keine andere Meinung ertrug. Die "Schestidesjatniki" begehrten auf und mussten dafür bezahlen. Ljudmila Ulitzkaja verlor ihre Stelle, andere, Freunde und Bekannte, saßen im Gefängnis oder wurden zu Lagerhaft verurteilt.
Ulitzkajas literarischen Werke hatten in der Sowjetunion keine Chance auf Veröffentlichung. Nachdem Ende der achtziger Jahre in Frankreich erste Erzählungen von ihr erschienen waren, horchte auch das literarische Russland auf. Für die Novelle Sonetschka, mit der ihr 1992 der internationale Durchbruch gelang, erhielt Ljudmila Ulitzkaja 1996 den Prix Médicis. Mittlerweile wurden ihre Bücher in fast 20 Sprachen übersetzt und spätestens mit der Verleihung des Booker Prize Russland 2001 genießt Ulitzkaja auch in Russland allgemeine Anerkennung.
FREITAG: Die heimliche Heldin in Ihrem letzten Roman ist die Stadt Moskau der siebziger und achtziger Jahre. Haben Sie Heimweh nach dieser Stadt?
LJUDMILA ULITZKAJA: Natürlich gibt es eine gewisse nostalgische Note in meinem Roman. Ich liebe diese Stadt sehr. Während meines gesamten Lebens wird Moskau zugleich zerstört und erbaut. Und ich empfinde Wehmut, wenn ich an die Stadt denke, die ich geliebt habe. Ich habe nicht nur ihre vermeintlich schönsten Ecken geliebt. Mir waren die heruntergekommenen Hinterhöfe sehr lieb, die Vorgärten mit ihren Blumen. Ich erinnere mich sogar, dass dort, wo ich damals gewohnt habe, nicht weit vom Zentrum, eine verrückte Alte eine Ziege hielt. Mitten in Moskau. Natürlich sage ich nicht, dass man auch heute in den schicken Stadtwohnungen Ziegen halten soll, doch dieses etwas patriarchale, lieb gewonnene Antlitz Moskaus hat sich verändert.
Was heutzutage unter dem Bürgermeister Luschkow geschieht, ist eine barbarische Zerstörung der Stadt durch die eigenen Bewohner. Gegenwärtig werden in Moskau gegen alle Gesetze im Jahr etwa 20 denkmalgeschützte Gebäude zerstört, die der Stadt beim Geldverdienen im Wege stehen. Überall, wo ein bisschen Platz ist, wird etwas hingebaut, und so gibt es kaum mehr Plätze, an denen man Luft zum Atmen hat. Es wird immer anstrengender, in dieser Stadt zu leben.
Empfinden Sie diese nostalgischen Gefühle auch für die Zeit der siebziger und achtziger Jahre, in denen der Roman spielt?
Ich habe dieses Heimweh eigentlich nur nach dem Moskau jener Jahre. Die Breschnew-Ära, in denen die Handlung des Romans spielt, war eine quälende Epoche, die einem die Luft zum Atmen nahm. Meine Romanfiguren interessieren sich nicht für Politik. Das ist ihr Lebensprinzip. Sie haben Angst vor der Politik. Der Grund dafür ist, dass die Beschäftigung mit der Politik etwas ist, das gefährlich sein kann. Und man geht dem, was gefährlich werden kann, aus dem Weg. Wir kennen sehr viele solcher Menschen. Nicht alle waren schließlich Dissidenten. Nicht alle lasen verbotene Bücher. Viele wollten von all dem einfach nichts wissen.
Sie gehörten zu denen, die verbotene Bücher lasen.
Ja, und ich hatte das Gefühl, dass diejenigen, die sie lasen, die Mehrzahl waren, doch das war sicher nur mein Gefühl. Mir wurde von der Kritik zum Teil sogar vorgeworfen, dass die Figuren in meinem Roman sich so wenig mit Politik beschäftigen. Doch das kann nur jemand sagen, der diese Erfahrungen jener Jahre nicht selbst gemacht hat. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum viele geschwiegen haben. Jemand hat diese Generation die "schweigende Generation" genannt, denn die Eltern sprachen nicht über ihre Erfahrungen, und ihre Kinder fragten sie nicht, da sie Angst hatten, etwas zu erfahren, von dem man lieber nichts wissen sollte. Das wussten wir alle nur zu gut.
Das klingt auch in vielen Zeitdokumenten aus der Stalin-Ära an.
In jenen Jahren war das die Wahrheit des Lebens. Man konfigurierte sein Bewusstsein entsprechend, um zu überleben. Viele haben niemals über ihre Erfahrungen in der Stalin-Zeit gesprochen. Und so kann man sagen, dass mehrere Generationen der Sowjetunion von der Angst verkrüppelte Generationen waren.
Wie würden Sie das Lebensgefühl in der Sowjetunion der siebziger und achtziger Jahre beschreiben?
Außer meinen persönlichen Eindrücken an das Leben in dieser Zeit habe ich die Erinnerungen an meine Freunde, von denen manche viel mehr als ich unter den Bedingungen gelitten haben. Ich habe nur meine Arbeit verloren, einige meiner Freunde jedoch waren im Gefängnis oder wurden in furchtbare Straflager geschickt. Ich bin also kein ganz unbeteiligter Beobachter jener Jahre. Im Moment denke ich darüber nach, diese Zeit wieder zum Thema zu machen, denn ich habe heute das Gefühl, dass die Gefahr besteht, diese Zeiten könnten zurückkehren. Und das ist nicht nur beängstigend, sondern unheimlich. Es ist das Gefühl eines schrecklichen Traums, aus dem man nicht erwacht. Das ist mein Gefühl in Bezug auf die anbrechende Zeit. Ich will nicht in die alten Zeiten zurückkehren, doch es gibt gewisse Symptome, die einen sehr beunruhigen können. Die Politik unseres Landes ist selbstmörderisch. Doch was den Intellektuellen absolut klar ist, scheint den Beamten, die unser Schiff wohin auch immer lenken, nicht klar zu sein.
Wie bewerten Sie die Situation in Russland heute?
Für alle, die sich selbst nichts vormachen, war der Chodorkowski-Prozess traumatisierend. Wir haben wieder ein System der Einschüchterung, und da bekommt man es tatsächlich mit der Angst. Chodorkowski ist nicht mehr oder weniger schuldig als alle anderen, die zu Reichtum gekommen sind. Er hat alle ungeschriebenen Gesetze, die heute gelten, beachtet. Mit dem geschriebenen Gesetz ist es heute, wie man weiß, nicht allzu gut bestellt. Chodorkowski hat alles getan, was man in bestimmten Situationen heutzutage tun muss. Und trotzdem wird er als Schuldiger hingestellt und verurteilt. Und deshalb müssen heute alle, die es zu Reichtum gebracht haben, Angst haben. Ich gehöre zwar nicht dieser Kategorie an, doch ist es wirklich beängstigend, wenn jemand sozusagen als Warnung für andere willkürlich bestraft wird. Das erinnert sehr an die Prozesse der Vorkriegszeit, als niemand sicher sein konnte, dass nicht er morgen das Opfer sein wird. Es ist eine sehr beunruhigende Situation.
Ist diese Rückkehr zu den alten Zeiten auch eine Rückkehr zu Nationalismus und Antisemitismus?
Der Nationalismus sieht seinen Feind heute vor allem in den kaukasischen Völkern. Die Juden sind im Alltag von heute nicht mehr der wichtigste Feind. Aber ich nehme Veröffentlichungen dieser Richtung nicht allzu genau wahr, deshalb kann es auch sein, dass ich mich täusche. Doch die Schwarzhemden sind eine existierende Bewegung. Obwohl auch ich fast nur schwarz trage (lacht). Vor kurzem wurde in Petersburg ein tadschikisches Mädchen erschlagen, von Jugendlichen, die dieser Bewegung anhängen. Die sind absolut blind und verwahrlost, eine unheimliche Herde, die nur auf ein Signal zu warten scheint. Diese Bewegung ist vielleicht noch nicht sehr groß, doch viel größer als man es gern hätte. In der russischen Provinz, wo es nichts zu tun gibt, wo es keine Arbeit gibt, das Leben armselig und die Versorgungslage schlecht ist, entstehen viele solcher Brigaden. Das ist sehr beunruhigend. Man könnte etwas dagegen machen, doch diese Bewegung scheint eine elementare Unterstützung zu genießen, denn es gibt eine Woge der Sympathie, die dem entgegenschlägt. Dass diese Bewegung von oben dirigiert wird, steht für mich außer Zweifel. Zumindest steht man dieser Bewegung dort wohl nicht sehr negativ gegenüber, denn sonst gäbe es sie nicht.
Der Antisemitismus war in der Sowjetunion der Breschnew-Zeit allgegenwärtig. Es gab Zulassungsbeschränkungen für Juden in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Hatten Sie jemals Schwierigkeiten aufgrund dessen, dass Sie Jüdin sind?
Alles Unglück, das ich in meinem Leben hatte, ist nicht darauf zurückzuführen. In den Jahren, als es für Juden schwierig war, die Aufnahmeprüfung an der Universität zu bestehen, bestand ich die Prüfung. Es war zwar schwierig, und ich schaffte es erst im dritten Anlauf, doch ich schaffte es. Ich wusste immer, dass ich als Jüdin sehr gut sein muss, um es zu schaffen, und ich schaffte es. Ich bekam eine Stelle zur Promotion. In eben jenen Jahren. Es hat meiner Biographie also nicht geschadet. Es waren andere Dinge, die mir geschadet haben, die mit meinem Charakter zusammenhängen, nicht meine jüdische Herkunft. Ich persönlich kann mich also diesbezüglich nicht beklagen. Obwohl ich viele kenne, die meinen, ihr Lebensweg, ihre Karriere sei aufgrund dessen, dass sie Juden sind, schlechter verlaufen.
Dass ein Jude mehr Anstrengungen unternehmen musste, um etwas zu erreichen, war so etwas wie die Lebensregel jener Jahre. Es war klar, dass man, wenn bei der Aufnahmeprüfung zur Universität 20 Punkte zu erreichen waren, auch nicht einen Punkt weniger haben durfte, um zu bestehen. Und genau das wurde uns dann zum Vorwurf gemacht: Ihr wollt immer die Besten sein, immer stellt ihr euch heraus. Doch anders wäre es unmöglich gewesen, denn man musste unter den Besten sein, um überhaupt zu bestehen.
Hat sich für Sie die Frage der Emigration, ein Thema, das in Ihrem Roman auch anklingt, niemals gestellt?
Ehrlich gesagt möchte ich in meinem Land sterben. In den sechziger und siebziger Jahren war diese Frage ständig präsent, viele unserer Freunde sind damals emigriert. Und auch mein damaliger Mann und ich haben uns viel mit dieser Frage beschäftigt. Doch sein Vater war überzeugter Kommunist, dem dadurch nicht nur sein Leben, sondern zugleich sein Herz zerbrochen wäre. Und so haben wir uns dagegen entschieden. Auch wenn wir immer wieder darüber gesprochen haben. Es emigrierten diejenigen, die einfach nicht mehr konnten. Die einfach die Atmosphäre nicht mehr ertragen konnten.
Befürchten Sie, dass es dazu kommen könnte, dass man sich bald wieder mit dieser Frage auseinandersetzen muss?
Ich möchte mein Land nicht verlassen, doch ich schließe nicht aus, dass sich die Lage irgendwann so verändert, dass ich dazu gezwungen sein werde. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die mit der Macht kämpfen. Ich habe nicht gegen die sowjetische Macht gekämpft und kämpfe nicht gegen die, die heute an der Macht sind. Beide sind mir ziemlich unangenehm. Die Frage ist, wie lange sie meine Anwesenheit ertragen werden und die Bestimmtheit meiner Ansichten. Ich verheimliche sie nicht, doch ich werde auch nicht oft danach gefragt.
Wie lebt es sich in einer solch bedrückenden Atmosphäre?
Während mir in jungen Jahren schien, das man alle Probleme lösen kann, wenn man sich nur lange genug damit beschäftigt, so habe ich im Laufe der Zeit verstanden, dass es eine große Zahl von Problemen gibt, die man nicht lösen kann. Wie viele chronische Krankheiten, die man nicht heilen kann, mit denen man einfach zu leben lernen muss. Meine Einstellung zu allem, was heute geschieht, ist die: Es ist eine chronische Krankheit, die man nicht heilen kann. Man muss einfach lernen, damit zu leben.
Könnten Sie sich denn überhaupt vorstellen, nicht in Moskau zu leben?
Ja. Ich könnte mir vorstellen, in New York zu leben, eine mir sehr sympathische Stadt, und auch in Berlin könnte ich leben. Am liebsten aber würde ich in Italien leben, das ich auch sehr liebe. Aber das sind Gespräche bei einer Tasse Tee. Ich fahre mit Vergnügen für ein paar Wochen nach Italien, Deutschland oder wohin auch immer, doch ich komme auch gern wieder zurück. Das Gefühl von zu Hause, des Ortes und vor allem der Sprache, meiner Muttersprache, das habe ich doch nur in Russland, in Moskau.
Das Gespräch führte Ursula Keller
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