Die Zeit der Hyperinflation in den zwanziger Jahren ist lange vorbei, aber noch immer ist sie in Deutschland ein nationales Trauma. Fast jeder hat einen Ur-Opa, der damals ruiniert wurde. Und man erzählt sich die seltsamsten Geschichten. Etwa die, dass es üblich war, sich in der Kneipe zwei Biere gleichzeitig zu bestellen – weil, während man das eine austrank, schon der Preis für das nächste angestiegen wäre. Oder die Geschichte von der alten Frau, die ihr Geld in einer Schubkarre heimfuhr, diese einen Augenblick unbeaufsichtigt ließ – worauf ihr Diebe die schöne Schubkarre gestohlen, das wertlose Papiergeld aber zurückgelassen hatten. Für 1.000 Mark bekam man im Sommer 1923 gerade einmal vier Schrippen.
Inflation gilt in Deutschland als Schreckgespenst: Schließlich haben zwei Generationen einen Großteil ihrer Ersparnisse verloren. Ur-Opa während der Hyperinflation, Oma 25 Jahre später bei der Währungsreform 1948.
Sparen als nationale Ideologie
Jetzt geht es wieder um, das Gespenst der Inflation. Weil die Zentralbanken nach dem Beinahe-Kollaps des Bankensystems im Jahr 2008 die Finanzmärkte mit „Liquidität“ geflutet haben, werde es bald zu Geldentwertung kommen, fürchten viele. Und mit ihrer Entscheidung, schrottreife griechische und fragwürdige spanische und portugiesische Staatspapiere gegen gutes Geld einzutauschen, habe auch die Europäische Zentralbank (EZB) einen Rubikon überschritten.
Inflationsgefahr macht vielen Menschen Sorgen, aber den Deutschen macht sie seit jeher besonders viele Sorgen. Das Trauma der Hyperinflation sitzt tief – aber das ist wohl nur ein Aspekt. Nach 1945, als auf dem Land der Schatten des Nazitums lag und Deutschland zudem geteilt war, wurde die „harte D-Mark“ im Westen so etwas wie ein Identitätsanker. Das gute Geld symbolisierte: Wir sind wieder wer. Die Umsicht und Sparsamkeit der sprichwörtlichen schwäbischen Hausfrau, die nicht mehr ausgibt, als sie einnimmt und sich etwas für später auf die Seite legt, wurde als ökonomische Tugend schlechthin gepriesen. Und wer spart, für den ist die Entwertung des Ersparten natürlich das Schlimmste. Es ist dann nicht nur eine wirtschaftliche Katastrophe, sondern auch eine Ungerechtigkeit: Der Sparer kasteit sich, versagt sich die Erfüllung von Wünschen, wenn ihm aber später das Geld zwischen den Finger zerrinnt, dann ist das eine Gemeinheit. Sie bestraft die Tugend und belohnt das Laster. Diese nationale Idee von der Tugendhaftigkeit des Sparers bestimmte noch die Debatten um die deutsche Wiedervereinigung. Wider alle ökonomische Vernunft wurden die Sparguthaben von DDR-Bürgern bis zu 6.000 Mark 1:1 in D-Mark umgetauscht. Helmut Kohl, der das durchsetzte, mag sich gedacht haben: Mögen die Sparer auch aus dem Kommunismus kommen, so sind es doch deutsche Sparer.
In der Tat hat Inflation die Tendenz, sich der Kontrolle zu entziehen. Bis zu einem gewissen Maß nehmen Menschen Inflation kaum wahr. Gibt es Inflation von zwei Prozent, freuen sich die Bürger über Lohnerhöhungen von 1,5 Prozent – sie freuen sich über Zuwächse, die in Wirklichkeit Verluste sind. Ab einer gewissen Inflationsrate beginnen sie die Geldentwertung aber in ihre Überlegungen einzukalkulieren. Rechnen sie mit fünf Prozent Inflation, werden Gewerkschaften Lohnzuwächse von acht Prozent anpeilen – weil ihnen dann bewusst ist, dass die real höchstens drei Prozent ausmachen oder, wenn die Inflation noch anzieht, sogar weniger. Gewerkschaften werden bei den Lohnforderungen, aber auch Unternehmen bei ihrer Preisgestaltung und Banken bei ihren Zinssätzen also ein „Sicherheitspolster“ einziehen – und dann beginnt die Inflation zu galoppieren. Dann kann niemand mehr genau kalkulieren. Dann gerät die Wirtschaft außer Takt. Und dann nützt Inflation (fast) niemandem mehr und schadet (fast) jedem.
"Eine große Volksverdummungsaktion"
Aber droht so etwas jetzt wirklich? „Es gibt zwei Denkschulen“, formuliert Paul Krugman, der Wirtschaftsnobelpreisträger. Die eine verweist auf die schwache Nachfrage und die Arbeitslosigkeit – somit sei keine Inflation zu erwarten. Die andere, die monetaristische Schule, zeigt auf all das Geld, das die Zentralbanken in den Markt pumpen und die Regierungen ausgeben und sagt, „Inflation, vielleicht sogar Hyperinflation, lauere um die Ecke“.
Bisher ist ziemlich klar, welche der Schulen recht hat. Seit zwei Jahren fluten die Zentralbanken die Wirtschaft mit Liquidität – und in kaum einem Land beträgt die Inflationsrate mehr als ein Prozent. Wenn die privaten Haushalte sparen, die Banken versuchen, Geld zu horten und auch die Staaten sparen, müssen die Unternehmen eher die Preise senken, wenn sie ihre Waren loswerden wollen. Es droht Preisverfall – Deflation –, nicht Preisauftrieb. Diese Deflation ist deutlich gefährlicher als Inflation. Und zwar aus zwei Gründen: Wenn die Preise der Waren fallen, nehmen die Bürger an, sie würden noch weiter fallen. Sie verschieben deshalb ihre Einkäufe auf einen späteren Zeitpunkt, weil sie annehmen, sie würden die Stereoanlage, den Computer, das Auto dann günstiger bekommen. Die Nachfrage, die ohnehin schon stockt, fällt dann noch weiter. Der zweite Grund ist noch bedrohlicher: Bei Deflation verfallen die Einnahmen der Firmen, aber ihre Kreditschulden bleiben nominal gleich – und das heißt, sie steigen real an. Bei Deflation erdrücken die Schulden oft Unternehmen, die eben noch ges und waren.
„Inflation gibt es nur bei überschießender Nachfrage und steigenden Löhnen“, sagt Heiner Flassbeck. Der Ökonom war Konjunkturforscher im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, dann Staatsekretär bei Oskar Lafontaine im Finanzministerium, jetzt arbeitet er als Chefvolkswirt der Welthandelskonferenz der UN in Genf. „Es gibt keine Inflationsgefahr. Das ist Unsinn! Eine große Volksverdummungsaktion“, regt sich Flassbeck auf. Wenn Inflation drohte, dann könnten wir uns glücklich schätzen – es wäre ein Zeichen, dass wir aus dem Schlimmsten raus sind.
Bio-Brötchen doppelt so teuer
Zudem ist die Frage, ob Inflation überhaupt so schlecht wäre. Die Diskussion wird nicht gerade dadurch vereinfacht, dass oft mehrere Aspekte vermischt werden, die man salopp unter „Geldentwertung“ subsumiert. Inflation heißt, dass das Geld im Inneren einer Volkswirtschaft an Kaufkraft verliert – in Extremfall, dass das Bio-Brötchen statt 30 Cent morgen 60 Cent kostet. Eine andere Form der Geldentwertung, die aber mit Inflation wenig zu tun hat, sind Veränderungen im Wechselkurs mit anderen Währungen. Ist der Euro „stark“ – also, wenn man viele Dollars für einen Euro bekommt –, dann sind Waren aus den USA billig. Dafür sind aber für die Amerikaner Waren aus Europa teuer. Für die europäische Exportwirtschaft ist also ein schwacher Euro eher nützlich. Inflationsgefahr geht von einem niedrigen Wechselkurs nur insofern aus, als der Kauf von Rohstoffen, die am Weltmarkt in Dollar notieren, dann teurer werden: allen voran das Erdöl. Das ist keine Kleinigkeit, aber auch nicht tragisch.
Aber selbst die „echte“ Inflation hat ihre Vorteile. Die Staaten haben in den vergangenen Jahren enorme Defizite angehäuft; auch viele Banken sind überschuldet; und in vielen Volkswirtschaften haben auch die privaten Haushalte einen sehr hohen Schuldenstand. Im Grunde müssen alle drei Akteure in den kommenden Jahren „konsolidieren“, das heißt, ihre Schulden zurückfahren. Das würgt die Wirtschaft ab und ist mit sozialen Härten verbunden. Privaten Haushalten stehen die Schulden bis zum Hals, und der Staat wird bei Sozialleistungen sparen, bei der Bildung, bei der Kultur. Schulden wegsparen ist eine harte Sache. Eine moderate Inflation ist in solchen Zeiten eine Verlockung.
Freude über Verluste
Warum das so ist, lässt sich mit einem simplen Gedankenexperiment erklären: Nehmen wir an, ein Staat hat ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 200 Milliarden Euro und einen Schuldenstand von 100 Milliarden Euro. Gibt es eine Inflation von fünf Prozent, dann steigt das BIP, auch ohne Wirtschaftswachstum, auf 210 Milliarden Euro – die Schulden bleiben aber bei 100 Milliarden Euro. Innerhalb von ein paar Jahren hätte dieser Staat seine Schulden von 50 Prozent des BIP auf 40 oder 30 Prozent „weginflationiert“.
Diese Schuldenreduktion durch Inflation war in den vergangenen Jahrzehnten eine verpönte Idee. Auch in den USA hat die Phase hoher Inflationsraten von bis zu zehn Prozent in den sechziger und siebziger Jahren dazu geführt, dass man eine Kontrolle der Preissteigerungsraten auf ein, zwei Prozent als hohes wirtschaftspolitisches Ziel anerkannte. Deshalb wurde es in Fachkreisen auch als Sensation aufgenommen, als Oliver Blanchard, der Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds, vor ein paar Monaten ein Memorandum vorlegte, in dem er den Gedanken ausbreitete, die Notenbanken sollten ihr Inflationsziel von zwei auf vier Prozent verdoppeln.
Für die Eurozone im Speziellen hätte eine moderate Inflation von drei, vier Prozent noch einen besonderen Vorteil. Griechenland, Spanien und Portugal haben in den vergangenen Jahren gegenüber den starken EU-Staaten massiv an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Sie werden ihre Wirtschaft nicht in Schwung bringen, wenn diese Ungleichgewichte nicht korrigiert werden. Eine Möglichkeit wäre, dass Deutschland seine Löhne in den kommenden Jahren um zehn Prozent erhöht – keine sehr realistische Variante. Also müssen diese Länder ihr Lohn- und Preisniveau reduzieren. Bei Null-Inflation müssten sie die Löhne massiv senken. Gibt es aber im Deutschland, Österreich, den Niederlanden eine Inflation von vier Prozent, würden in den krisengeschüttelten EU-Ländern schon drei Jahre ohne Lohnzuwächse ausreichen, um den Effekt zu erzielen, der einer Lohnsenkung von zehn Prozent entspricht.
Schädlich ist Inflation jedenfalls nicht immer. Sie schadet jenen, die schon Vermögen besitzen und nützt jenen, die Schulden haben. Sie schadet eher den Alten, und nützt eher den Jungen. Sie ist, wägt man Vor- und Nachteile ab, eher sozial „gerecht“ als viele ihrer Alternativen.
Kommentare 14
es ist schon erstaunlich, wie derzeit Inflation allerorten dem Publikum schmackhaft gemacht wird, eine vorläufige Krönung der Verdummung ist die Charakterisierung als "eher sozial "gerecht"". Geldentwertung trifft in erster Linie alle, deren "Vermögen" aus Forderungen und geldwerten Ansprüchen besteht, das sind nun mal v.a. die "kleinen" Leute, die nichts anderes haben als Sparkonten und Rentenversicherungsansprüche. Wer richtig Geld hat sichert sich ab und kauft Sachvermögen wie Aktien, Edelmetalle, Immobilien, das kann man schon seit geraumer Zeit beobachten. Eine Geldentwertung ist im Grunde nichts anderes als eine Enteignung der Unten zugunsten der Oben.
"Schädlich ist Inflation jedenfalls nicht immer. Sie schadet jenen, die schon Vermögen besitzen und nützt jenen, die Schulden haben. Sie schadet eher den Alten, und nützt eher den Jungen. Sie ist, wägt man Vor- und Nachteile ab, eher sozial „gerecht“ als viele ihrer Alternativen."
Da muss ich widersprechen: Den Vermögenden schadet inflation am wenigsten, da deren Geld meist weit gestreut ist und in Sachwerten angelegt bzw. umgeschichtet werden kann.
Den unteren und mittleren Einkommenschichten schadet die Inflation am stärksten (Wenn man nicht gerade hoch verschuldet ist, aber daran rbeiten wir ja auch).
Und wir sollten auch nicht vergessen, dass Kreditgeber wenig begesitert sein werden und Länder, die meinen eine Hochinflationspolitik betreiben zu können, abstrafen werden.
Dann wird die Refinanzierung des Haushaltes eben noch teurer und eine ungute Spirale wird in Gang gesetzt.
"Da muss ich widersprechen: Den Vermögenden schadet inflation am wenigsten, da deren Geld meist weit gestreut ist und in Sachwerten angelegt bzw. umgeschichtet werden kann."
Sorry, aber das ist einer der Lieblingsirrtümer insb. deutscher Möchtegern-Vermögender. "Die Vermögenden" halten praktisch das gesamte Geldvermögen, und tragen damit auch praktisch den gesamten relativen Wertverlust durch Inflation. Klar, sie halten auch den größten Teil der anderen Vermögen, welcher inflationsneutral ist. Es ist aber schlicht unmöglich, das Geldvermögen irgendwie loszuwerden. Das wird innerhalb der Oberschicht rumgeschoben, einige verlieren durch die Inflation sehr viel, andere gar nichts.
Das "Vermögen" der unteren Hälfte ist fast vollständig inflationsneutral, denn ihr primäres "Vermögen" sind Löhne, Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit, Sozial- und Umlageleistungen sowie Renten, und die sind inflationsneutral. Natürlich gibt es auch innerhalb dieser Schicht einzelne Leute, die sich substanziell durch Einkommen aus Geldvermögen finanzieren - diese hätten dann i.d.T. ein Problem. Zwar ist ihr Vermögensverlust ebenfalls geringer als der vieler in der Oberschicht, aber eben existenzieller.
"Das "Vermögen" der unteren Hälfte ist fast vollständig inflationsneutral, denn ihr primäres "Vermögen" sind Löhne, Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit, Sozial- und Umlageleistungen sowie Renten, und die sind inflationsneutral."
Leider ist bei diesen Einkommensarten der Inflationsausgleich keineswegs garantiert.
Nun ja, das kommt darauf an, wie man das versteht. Aufgrund der Unfähigkeit der Gewerkschaften in Deutschland und der dysfunktionalen Politik funktioniert die Entlohnung nicht mehr, d.h. sie liegt bei der Mehrheit nennenswert unterhalb der Inflation. Das ist allerdings nicht die "Schuld" der Inflation, sondern der Akteure.
Die Renten etwa sind unmittelbar an die Lohnentwicklung gekoppelt, für andere Leistungen gilt dies mehr oder weniger mittelbar. Gefahr besteht "lediglich" für Pauschalen wie etwa Hartz4 oder Kindergeld.
Tatsächlich kann eine Entwertung nur dann zu realer Inflation führen, wenn die breite Lohnentwicklung dies unterstützt (andernfalls gibt es halt ein paar Bubbles mehr in den Vermögenspapieren der Oberschicht). Allerdings kann bei Versagen oder Fehlverhalten der Arbeitnehmervertreter und ein Sinken der Sparquote (aufgrund der Inflation) in der oberen Mittelschicht eine Lücke zwischen Inflation und den normalen Löhnen entstehen bzw. - in Deutschland - wachsen.
Ich weiß aber nicht, ob etwa die EZB bei ihrer Inflationssteuerung auf die unfähigen deutschen Gewerkschaften, Arbeitnehmer und Politiker Rücksicht nehmen kann und darf.
Das Problem ist: Die bisherige Inflationspolitik der EZB, die im Wesentlichen die der Frankfurter war, war praktisch direkte Umverteilung von unten nach oben. Ja, damit wurde die Inflation niedrig gehalten, aber eben auch die Verschuldung der Staaten, die Arbeitslosigkeit und die Lücke zwischen Kapital- und Lohneinkommen verstärkt. Eine Entschuldung unter Beibehaltung dieser Prämissen käme der Entscheidungsschlacht in Warren Buffets Klassenkampf gleich.
Moderate Inflation zwischen 3 und 10% ist schmerzhaft, vor allem psychologisch, für die Mittelschicht - weil ihr der gigantische Abstand zur Oberschicht klar wird und kapitalistische Gesellschaften diese Desillusionierung schlecht verkraften. Aber unter allen möglichen Entschuldungsmöglichkeiten ist es die einzige, die sich überhaupt sozial abfedern lässt.
Wenn du von einer "weisen" Politik und durchsetzungsstarken Arbeitnehmervertretern ausgehst, dann wären meiner Ansicht nach Steuererhöhungen der wesentlich bessere Weg, um die öffentlichen Haushalte zu sanieren. Die Abgeltungssteuer z. B. halbiert nahezu den Steuersatz für die Bezieher von hohen Einkommen aus Kapitalanlagen - da soltle man zurück zur Besteuerung gemäß des individuellen Einkommensteuersatzes. Desweiteren könnte der Spitzensteuersatz angehoben werden. Unter Umständen brächte das sogar Spielraum, tatsächlich die Steuern für die mittleren Einkommen zu senken, wie sich das diese Regierung mal auf die Fahnen gescchrieben hatte.
International steht zudem sehr vielen Regierungen das Wasser bis zum Hals. Das bietet eigentlich die einmalige Gelegenheit, den Steueroasen die Pistole auf die Brust zu setzten und beispielsweise auch eine allgemeine Steuer auf Flugbenzin einzuführen.
All das könnte zumindest in der BRD schon fast ausreichen, um die Neuverschuldung nahe null zu drücken. Ganz ohne Inflation. Nur bräuchte es dafür halt eine vernünftige Politik.
Steuerpolitik ist Sache der Staaten oder darunter, eine staatliche Währungspolitik gibt es allerdings nicht mehr. Deine Vorschläge sind tw. sehr sinnvoll, etwa für Deutschland, aber mir geht es primär um die Euro-Zone als ganzes. Deutschland hat ja aufgrund seiner parasitären Position ohnehin eigentlich nur geringe Verschuldungsprobleme - hier wäre eine Steueranpassung idT. eine sehr einfache Variante der Entschuldung. Das "dumme" ist halt, dass der derzeit "eigentlich" insgesamt ausgeglichene Staatshaushalt durch exorbitante Ausgaben zur Lebenserhaltung des Wirtssystems "entstellt" ist. Nur, da ist Deutschland in der Euro-Zone in einer absoluten Sonderstellung.
Btw. Die Abgeltungssteuer war per se keine Halbierung der "Steuerbelastung", da auch vorher sehr viele Möglichkeiten zur Steuervermeidung bestanden. Tatsächlich ist die Kapitaleinkommensbesteuerung durch die Abgeltungssteuer nicht nennenswert gesunken. Sie ist natürlich dramatisch niedriger als etwa die Besteuerung auf Einkommen durch Lohnarbeit.
Das Problem bei der "internationalen" Besteuerung ist, anders als bei der Geldmengensteuerung, dass dies als unmöglich angesehen wird und es deshalb niemand wirklich anstrebt.
Der Dreiklang der deutschen Wirtschaftsirrationalitäten lautet: Exportfixierung, Inflationsparanoia und Verschuldungshysterie!
Selbst jetzt - in einer Phase in der sich die Weltwirtschaft immer noch im Sog einer DEflationsspirale befindet - wird hierzulande fast ausschließlich über eine mögliche Inflation gesprochen.
Warum ist das so?
Der besagte Irrationalitäten-Dreilklang hat einerseits historische Ursachen (geschichtliche Ereignisse die sich tief ins kollektive Gedächnis der Deutschen gegraben haben) anderseits stehen dahinter auch die vitalen Wirtschaftsinteressen bestimmter Gruppen.
Die Exportfixierung ist auch auf die starke Lobby der Exportindustrie zurückzuführen, wohingegen die Verschuldungshysterie mit dem Führungsanspruch eines pietistisch-konservativen Wirtschaftsverständnisses ("schwäbische Hausfrau") begründet werden kann. Die Inflationsparanoia wiederum hängt auch mit der Tatsache zusammen, dass die privaten Haushalte (vor allem der Besserverdiener) in Deutschland über eine hohe Sparquote verfügen - dementsprechend wollen die Sparer ihre Guthaben vor einer Entwertung schützen.
@gweberbv: D'accord was die Steuererhöhungen betrifft, wobei eine entsprechende Vermögenssteuer für mich dazugehört.
Kaufkraftverluste erleiden alle, wenngleich auch da die vorherige soziale Hierarchie entscheidet, wer weich und wer hart fällt... ...Entschuldung mittels Inflation schiebt real bestehenden Interessenskonflikt vor sich her und die schon seit langer Zeit bestehende sozial Ungleichheit hinsichtlich der Vermögensverteilung - gegen diese Möglichkeit spricht auch folgende Kritik:
www.memo.uni-bremen.de/docs/m4109.pdf
Dennoch finde ich den Artikel gut, weil auf die ideologische Bedingtheit des Schürens der Inflationsangst hinweist!
Nach dem angeführten Artikel (Dein Link) gilt meines Erachtens: Eine wirkliche, vollständige Entschuldung wäre nur dann möglich, wenn das Wirtschaftswachstum deutlich länger als über die errechneten 35 Jahre hinaus höher als 2% ist. Dann werden Schulden in ganz kleinen Steps auch getilgt. Richtig erkannt?
Das hätte dann aber zwei Haken. Nur um das mal an einem Vergleichsbeispiel zu verdeutlichen: allein die Kommune Hamburg ist nach einem Bericht der MoPo vom 6.11.2009 derart verschuldet (27 Mrd., noch ohne die HSH-Nordbankschulden gesehen), dass selbst wenn es der Stadt gelingen würde, jedes Jahr 100 Mio. abzuzahlen, man erst im Jahr 2285 schuldenfrei wäre. Hat man die letzte Rate gezahlt, hätte man nach der Logik des Kapitals bis dahin allein 183 Mrd. an Zinsen gezahlt! Das dieses Unterfangen realistisch ist, glaubt selbst unter den Politikern niemand mehr ernsthaft. Sagt jedenfalls der genannte Artikel.
Dennoch verkauft man den Bürgern aber politisch im Moment die Illusion, wenn sich alle nach der Decke strecken und den Gürtel nur enger schnallen, dann - ja dann könnte man in der Zeit "nach der Krise" - quasi in einem über 300 Jahre dauernden Aufschwung alles abarbeiten und abzahlen.
Ich würde da bereits schlussfolgern: Man schwimmt förmlich in einem Meer der Illusionen und ich schätze man wird darin sprichwörtlich "baden gehen".
Legt man diese rechnerischen Werte mal gedanklich um auf handfeste, substanzielle Arbeit der Menschen, stellt sich sachlich die Frage, wie dieses Schuldentilgen denn bezüglich der wirtschaftlichen Verwertung des Kapitals gelingen solle...also wieviel an Kaufkraft (Löhne, Gehälter, Einkommen) müsste dazu generiert werden, damit dieser gewaltige Schuldenberg abgetragen werden könnte? Allein an dieser Stelle sollte jedem klar sein, dass so ein Szenario unrealistisch erscheint, denn einerseits wurden selbst in den "fetten Jahren" mit Haushaltsüberschuss keine Schulden getilgt und andererseits sinken die Einkommen tendenziell (prekarisierte Beschäftigungsverhältnisse). Da hilft es auch nicht, auf den Export zu setzen, denn das verlagert das Problem nur auf alle anderen Schuldnerstaaten. Dann müssten die sich ja noch mehr verschulden, um unsere Exporte aufnehmen zu können. Das klappt nicht. Es ist viel eher anzunehmen, dass weitere Schuldenaufnahme in der Zukunft auf die Herrschaften im Rathaus zukommt.
Hinzu kommt, dass man für diesen Akt der Kapitalverwertung noch drastischer in die Natur eingreifen müsste (Energie, Rohstoffe, Abfallproduktion...). Doch schon heute jammern wir berechtigt über Treibhausgase, Umweltverschmutzung etc. Das wäre vermutlich dann der ökologische Supergau.
UND JETZT stelle man sich dieses ganze Szenario hochgerechnet auf die BRD, Europa oder gar die ganze Welt vor...
Ich sehe nur eine logische Konsequenz: Kapitalismus geht ab jetzt so oder so geschichtlich strikt seinem Ende entgegen, weil das "rechnet" sich quasi nicht mehr.
Entweder, man will das System doch noch halten - dann müssten zumindest(!) die Staatsschulden auf einen Schlag und komplett annuliert werden. Das würde den Reichen zwar nicht wirklich weh tun, weil die schwimmen weiterhin wie die Fettaugen in der Suppe oben. Aber dazu ist vermutlich trotzdem kein Politiker bereit, weil die ja selbst die Interessen genau dieser Kapitalgeber vertreten. Dabei wäre das der beste Weg aus Sicht der Kapitalisten, um noch ein paar Jahrzehnte rauszuholen.(ich persönlich hoffe die sind nicht so schlau das zu erkennen).
ODER - man stellt das Kapital als solches zur Disposition und findet einen Abschluss und Übergang zu einem besseren System (z.B. über Zeitäquivalenz), was aber auch nur ein Übergangsschritt hin zu einer zukünftigen Form völlig ohne egoistisch-individuelle Abrechnung und Äquivalententausch. Geld wird dann bis auf ein Minimum für Touristen aus dem Verkehr gezogen und eingestampft. Das würde allerdings sämtliche Kapitalisten um ihr nominelles Geldeigentum enteignen. Außerdem müssten man ihnen auch Sachwerte, die sie sich im Kapitalismus auf Kosten anderer angeeignet haben, wegnehmen und es tatsächlich "sozial gerecht" an die „Bestohlenen“ verteilen. Das wäre mehr als berechtigt, wird aber freiwillig auch kein Politiker vertreten, jedenfalls keiner aus den klassischen bürgerlichen Parteien von links bis rechts. Die profitieren ja alle selber von der Kapitallogik.
Ein anderer Übergangsweg wäre es eine Art BGE (Bedingungsloses Grundeinkommen) einzuführen, allerdings müsste das unabhängig von kapitalistischer Wertschöpfung sein, also als eine Art Lebensgeld, welches aus dem Nichts geschöpft wird (was Banken ja heute eh täglich machen) - aber es würde eben den Menschen direkt und gratis in die Hände gegeben werden - also viel radikaler gedacht als das heute in entsprechenden Initiativen propagiert wird. Dann würde das Geld auch wieder in die Wertschöpfungsketten fließen, aber eben direkt die Nachfrage ankurbeln - also quasi von der andere Seite aus kommend. Auch diese Logik läuft sich natürlich irgendwann tot - ABER dieser Weg könnte den Menschen helfen umzudenken und zu erkennen, dann sie eigentlich auch produzieren können, ohne überhaupt Geld zu brauchen - einfach so, weil sie physische Bedürfnisse haben, also so wie vor dem Kapitalismus auch.
Andere Wege sehe ich momentan nicht. geht man keinen davon steuert man in eine Form der Barberei, Krieg und Zerstörung, wetten dass??? Entweder wir lernen wirklich UMZUDENKEN oder wir fressen uns am Ende gegenseitig, weil es in den Supermärkten nichts mehr gibt und mafiöse Regionalstrukturen die Handlungsräume fehlen, die politisch derzeit als Lücken aufreißen.
Kennt noch jemand eine andere Möglichkeit, wäre ich dankbar für Anregungen und Tipps.
unten sollte es natürlich heißen: ...und mafiöse Regionalstrukturen die Handlungsräume besetzen, die politisch derzeit als Lücken aufreißen.
Ja, zumindest die USA werden ihre Überschuldung höchstwahrscheinlich folgendermaßen lösen:
a.) Sie werden versuchen Wachstum zu erzeugen.
b.) Einen Teil der Schulden "weginflationieren" (kein Problem, da in den USA sowohl die privaten als auch die öffentlichen Haushalte überschuldet sind)
c.) Mit dem Rest der Schulden wird man einfach weiterleben.
Es ist eine völlig naive Vorstellung anzunehmen, dass die gesamte Schuldenlast getilgt wird. Warum sollte man das auch tun? Immerhin bieten Staatsanleihen / Schuldverschreibungen den Sparern die Möglichkeit ihr Geld relativ sicher anzulegen. Anders gesagt: Ein gewisser Sockel der Staatsschulden wird immer bleiben und NIE abgebaut. Und das ist auch gut so!
PS: Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist NICHT unkapitalistisch - im Gegenteil (siehe Milton Friedmans "negative Einkommensteuer"). Aber das ist ein anderes Thema.
Was da in der Weimaer Republik abging wird hier allenfalls gestreift. Man kann sich das gar nicht vorstellen. Da wurde ja nicht nur einmal ein Broetchen verkauft, es betraf jeden und das jeden Tag. Die Reichsbank druckte und verteilte Geldscheine bis zum Umfallen. Goldbesitz oder eine Goldklausel in Kaufvertragen half nicht, denn einen freien Goldmarkt kann der Staat jederzeit abschaffen, siehe ausser Hitlers Reichsbankgesetz aus 1939 vorher schon die USA von Anfang der 30er bis irgendwann in den 70ern oder so. Das kann man sich auch heute noch vorstellen.
@Skepsis
Danke erstmal für den Input.
zu "a.) Sie werden versuchen Wachstum zu erzeugen."
Das werden sie sicher versuchen - ABER sie werden es beim heutigen Stand der Produktivität vermutlich nur in viel zu kleinen Teilen erzielen können, wenn man im Vergleich dazu die angehäuften Schulden sowie die Massenarbeitslosigkeit sieht. Selbst wenn mehr produziert wird, was ja denkbar ist, stellt sich stets die Frage, wer die Endprodukte abkauft? Die Antwort hat bisher niemand weltweit geben können. Alle hoffe nur...auf was auch immer. Hinzu kommt: US Firmen schulden dem Ausland 70 Billionen Dollar. Dazu kommen 10 Billionen Staatsverschuldung. Das ist zusammen beinahe doppelt soviel wie die gesamte Bruttoweltproduktion 48 Billionen)...fehlt jedenfalls nicht mehr viel. Wieviel Wachstum über wieviel Jahrhunderte bräuchte man? Oder sollte ich lieber fragen Jahrtausende...?
zu"b.) Einen Teil der Schulden "weginflationieren" (kein Problem, da in den USA sowohl die privaten als auch die öffentlichen Haushalte überschuldet sind)"
"Weginflationieren" kann man das zwar nominell. Die Entwertung des Kapitals bleibt aber. Das wäre also nur eine Scheinlösung.
zu"c.) Mit dem Rest der Schulden wird man einfach weiterleben."
Das ist keine Lösung, sondern eigentlich eine Kapitulation vor den Verhältnissen sowie zum Teil (da stimme ich zu) bewusste Kalkül, um den Steuerzahler über die Staatsschulden melken zu können. Doch diesem Gedanken liegt die Illusion zugrunde, man könnte dieses Spiel ungestraft so weiterspielen. Den Zinsen liegt kein realer Wert mehr zugrunde. Es handelt sich dabei um fiktives Kapital, weil diese Zinsen auf die die Anleger abzielen und hoffen, nicht aus der betriebswirtschaftlicher Verwertung durch Arbeit, sonder tendenziell nur noch aus spekulativen Gewinnen aus der Geldzirkulation stammen. Dort entsteht jedoch kein Wert. Deshalb Illusion. Die Kapitalisten täuschen sich selbst. Man kann dieses fiktive Kapital zwar rein nominell erzeugen, kann aber dafür nichts mehr kaufen (weniger als 2 US-Cent pro Dollar basieren heute noch auf Realproduktion, der Rest ist fiktiv, also entsubstanzialisert).
zu "Ein gewisser Sockel der Staatsschulden wird immer bleiben und NIE abgebaut. Und das ist auch gut so!"
Gut für wen? Und warum???
zu: "Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist NICHT unkapitalistisch - im Gegenteil (siehe Milton Friedmans "negative Einkommensteuer"). Aber das ist ein anderes Thema."
JEIN. Rein monetär gedacht JA. Nicht monetär gedacht kann es aber vielleicht helfen den Übergang in eine nachkapitalistische Form der Vergesellschaftung zu ermöglichen, wenn am Ende das Ziel steht, auf jegliche Form des Äquivalententausches verzichten zu können. Sachlich spricht da nichts dagegen. Unsere Produktivität ist seit Jahrzehnten mehr als hoch genug und die modernen Informationssysteme haben es noch nie so einfach gemacht, sowas umsetzen zu können wie heute. Es kommt nur darauf an, ob man das BEWUSST will.