Eine Gefahr für die Demokratie

Sozialpolitik Der SPD-Bundestagsabgeordnete Ottmar Schreiner über Kompromisse, Widerstand und die Verlogenheit der deutschen Reformdebatte

FREITAG: An diesem Freitag wird der Bundesrat die meisten Gesetzesvorhaben der Regierung wahrscheinlich ablehnen. Wie geht es weiter bis Weihnachten, und wie werden Sie sich verhalten?
OTTMAR SCHREINER: Das weiß ich noch nicht. Das hängt von den Vorlagen ab. Zunächst ist der Vermittlungsausschuss dran, und wir werden sehen, was dabei herauskommt. Wenn das dann im Dezember zurück an den Bundestag geht, wird es eng, weil die Union Eingriffe in die Tarifautonomie will. Das ist mit mir nicht zu machen.

Stimmen die sogenannten Abweichler in der SPD-Fraktion ihr weiteres Vorgehen miteinander ab? Welche Positionen werden Sie einnehmen? Stehen Sie und Ihre Kollegen allein da?
Wir sind keine konspirative Gruppe. Da gibt es keinen Plan für das weitere Vorgehen. Wir sind nicht allein auf weiter Flur und nicht isoliert in der SPD. Je weiter ich an die Basis gehe, desto stärker ist die Zustimmung zu unseren Positionen. Wir waren noch nie politisch so mittendrin in der Bevölkerung. Politik handelt auf Druck - das ist meine Erfahrung aus 23 Jahren Bundestag. Es wird zur Kenntnis genommen, ob in Berlin 5.000 oder 100.000 demonstrieren.

Sie haben den Vorschlägen der Hartz-Kommission im vergangenen Jahr zugestimmt. In einer öffentlichen Diskussion am vergangenen Montag in der PDS-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung haben Sie die Agenda 2010 wegen ihrer "falschen Kerndiagnose" deutlich kritisiert. Das klingt widersprüchlich.
Da gibt es keine Widersprüche. Bei den Hartz-Vorschlägen ging es nicht um Leistungskürzungen im Sozialbereich. Schnellere und bessere Vermittlung und Ausbau der Qualifizierung halte ich weiter für richtig. Ich habe immer gesagt, dass das Arbeitslosengeld II nicht zur Leistungskürzung gegenüber der Arbeitslosenhilfe führen darf. Aber genau das soll nun mit den vorgelegten Gesetzen geschehen. Dagegen wende ich mich, deshalb habe ich den Vorlagen nicht zugestimmt. Die Agenda 2010 geht von der falschen Diagnose aus, dass die Lohnnebenkosten die Bremse für mehr Beschäftigung seien. Wenn sie gesenkt würden, steige die Beschäftigung. Dabei gibt es nicht einmal eine klare Definition der Lohnnebenkosten. Die statistische Entwicklung zeigt, dass dieser Betrag nicht gestiegen, sondern gefallen ist. Aber die gesamte Republik glaubt, die Lohnnebenkosten seien gestiegen. Dieser von den Arbeitgeberinteressen geleitete Begriff dominiert und hat sich verselbstständigt. Auch die Lohnquote in Deutschland, der Anteil der Löhne am gesellschaftlichen Einkommen, ist in den vergangenen 15 Jahren von 73 auf 66 Prozent gesunken. Die Einkommen aus Kapitaleinnahmen und Vermögen und Ähnlichem sind dagegen gestiegen. Nur deren Belastung ist zurückgegangen durch die Steuerreformen.

Nun heißt es aber auch, die Sozialkassen insgesamt seien leer.
Auch hier spielen in der Diskussion Interessen eine Rolle. Die deutschen Sozialkosten wurden und werden bis heute für die Finanzierung der deutschen Einheit missbraucht. Die gleichen Politiker, die dafür verantwortlich sind, beklagen sich bis heute darüber, dass die Sozialkassen leer sind. Die Arbeitnehmer haben die deutsche Einheit bezahlt, nicht die Vermögenden. Die Sozialversicherungsbeiträge könnten morgen schon gesenkt werden, wenn die weiter notwendigen Transferleistungen von West- nach Ostdeutschland über die Steuern finanziert würden. Bei der Rente kämen so allein zehn Milliarden Euro raus. Aber weiter wird behauptet, die Sozialkosten seien unermesslich gestiegen. Da geht es drunter und drüber. Es gibt ein Kriterium für die Kosten der Sozialpolitik: Das ist die soziale Leistungsquote, der Anteil der Sozialleistungen am Bruttoinlandsprodukt. Deutschland liegt damit in Europa im unteren Mittelfeld. Vor 1989 betrug diese Quote in der Bundesrepublik etwa 30 Prozent. Heute beträgt sie für das gesamte Deutschland immer noch 30 Prozent, in Ostdeutschland allerdings 48 Prozent als Ergebnis der hohen Arbeitslosigkeit.

Der Kurs der rotgrünen Koalition scheint mit der Agenda 2010 festgeschrieben. Wie wird es weitergehen und welche Alternativen sehen Sie?
Als Saarländer bin ich ja von Geburt an Optimist. So wie es bisher läuft, kann es nicht weitergehen. Die hohe Wahlenthaltung in der letzten Zeit, die stärkste seit 1949, müsste bei allen Politikern die Alarmglocken schrillen lassen. Wenn so viele wie am Wochenende in Berlin auf die Straße gehen und ihren Unmut zeigen, dann hat das Gründe. Die SPD verliert Wähler in Massen. Alle Bundestagsparteien sind verwechselbar geworden. Das geht vor allem zu Lasten der SPD, weil sie sich angepasst hat. Das ist des Pudels Kern. Aber es gibt Alternativen. Es ist längst nachgewiesen, dass steigende Einkommen im unteren Bereich zu mehr Nachfrage führen, während Einkommenswachstum im oberen Bereich die Sparquote erhöht. Das Problem der deutschen Wirtschaft ist die schwache Binnenkonjunktur, während sie weiterhin weltweit die höchste Exportquote hat. Die Sozialleistungen wie die Lohnersatzleistungen dürfen nicht weiter abgesenkt werden. Wer einen Niedriglohnsektor fordert, kennt den deutschen Arbeitsmarkt nicht. Es gibt diesen Sektor längst: Etwa 2,2 Millionen Vollerwerbstätige verdienen weniger als die Hälfte des Durchschnittslohns. Ein ausgebildeter Schlosser, der nur noch Arbeit als Nachtwächter findet, kann nicht von drei Euro pro Stunde leben. Das wäre der Weg in die Amerikanisierung des Arbeitsmarktes. In den USA gibt es die "working poor". Das ist unvereinbar mit der deutschen und europäischen Sozialstaatskultur. Weiter verschärfte Zumutbarkeitsregelungen für Arbeitslose führen am Ende zum Arbeitszwang.

EU-Länder mit einer hohen weiblichen Erwerbsquote haben eine höhere Geburtenrate und gleichzeitig eine bessere Beschäftigungssituation. Sollten wir uns nicht stärker am positiven Beispiel der skandinavischen Länder orientieren?
Eine solche Entwicklung wäre eine Zielvorgabe und eine ernstzunehmende Alternative für die deutsche Debatte. Doch hier wird über zu senkende Lohnnebenkosten, über Niedriglohnsektor und längere Arbeitszeit diskutiert. Jeden Tag wird eine neue Sau durchs Dorf gejagt. Besser wäre es, wenn der öffentliche Sektor sich seiner Verantwortung für mehr Beschäftigung stellen würde. Mehr Ganztagsschulen, Kinderbetreuungsangebote und Universitäten - das wäre ein echtes Zukunfts- und Modernisierungsprogramm. Es würde das Handwerk und den Mittelstand fördern, weil man in den Kommunen und Regionen endlich wieder investieren könnte.

Damit dürften Sie allerdings bei Ihrer Parteiführung keine Chance haben. Olaf Scholz, der Generalsekretär der SPD, will den Begriff soziale Gerechtigkeit in eine ganz andere Richtung umdeuten.
Der Begriff ist in der SPD nicht klar definiert. Seit einigen Monaten gibt es nun eine heftige Debatte darum. Für mich bedeutet soziale Gerechtigkeit, dass alle Menschen ein würdiges Leben führen können. Dazu gehören die Teilhabe an Arbeit und Bildung sowie die Absicherung von Lebensrisiken wie Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit. Für die Bevölkerung ist das ein Schlüsselbegriff. Hat sie den Eindruck, die soziale Gerechtigkeit werde nicht gewahrt, wendet sie sich von denen ab, die sie verletzen. Wer glaubt, dieser Begriff sei verstaubt, wird sein blaues Wunder erleben. Es gibt eine starke Verbindung zwischen sozialer Gerechtigkeit und gefestigter Demokratie im westdeutschen Sozialstaat seit 1949. Als Kind habe ich gehört: Armut ist immer die Mutter von Gewalt. Soziale Gerechtigkeit ist die sozioökonomische Voraussetzung für eine stabile Demokratie. Die hohe Wahlenthaltung ist ein Warnzeichen. Geht es so weiter mit dem Sozialabbau, wird es gefährlich für die Demokratie in Deutschland.

Das Gespräch führte Tilo Gräser


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