Den Durchbruch schaffte die Ärztin Hakima Himmich, Vorsitzende der 1988 gegründeten ersten nichtstaatlichen AIDS-Beratungsstelle in Nordafrika (Association Marocaine de Lutte contre le SIDA/ALCS), 1993, als sie ihr Projekt im Fernsehen vorstellen konnte. Die Sendung lief zwar nur auf dem kodierten Kanal 2M, der eher der marokkanischen Oberschicht zugänglich ist, war aber auch dort ein Novum. 1991, als die Schauspielerin Touria Jabrane als erste Frau in der gleichen Sendung auftreten sollte, wurde sie kurz zuvor von zwei unbekannten Männern entführt, die ihr den Kopf rasierten und sie beschimpften.
Himmichs Fernsehauftritt wurde von der königsnahen Presse ignoriert, aber in den oppositionellen Zeitungen unter dem Begriff »Kulturrevolution« gefeiert. Zu
Kulturrevolution« gefeiert. Zum ersten Mal nahm sich eine Frau das Recht, 90 Minuten lang im Fernsehen über AIDS zu sprechen - und nutzte das direkt für eine herbe Kritik an Gesundheitsminister Abderrahim Harrouchi und dem ersten Fernsehkanal, der nicht bereit war, Aufklärungsspots zu senden. 1992 war Himmich für ihre Arbeit von der Zeitschrift Première heure zur Frau des Jahres ernannt worden. Die marokkanische Presse hatte das Thema »AIDS« erst nach langem Zögern aufgegriffen. Nur die feministischen Zeitschriften 8 Mars und Kalima veröffentlichten schon Mitte der achtziger Jahre einige Artikel über AIDS und männliche Prostitution. Kalima wurde daraufhin verboten.Neben Himmich engagieren sich bei der ALCS außer weiteren Ärzten die Journalistin Latifa Imane sowie ehrenamtliche Helferinnen - von der gelangweilten Ehefrau aus bürgerlichem Milieu bis zur enttäuschten linken Politaktivistin und zur gestrengen Nonne.Wie in den meisten islamischen Ländern wird AIDS in Marokko als Geißel der westlichen Welt gedeutet, die sich aufgrund hoher moralischer Standards in der muslimischen Welt nicht verbreiten könne. Als Allheilmittel gegen AIDS wird die strikte Einhaltung islamischer Vorschriften empfohlen und im akuten Notfall zu einer Pilgerfahrt nach Mekka geraten. Der Vorschlag, Kondome zu benutzen und safer sex zu praktizieren, hieße einzugestehen, daß die Realität nicht dogmatischen Ansprüchen genügt.In Marokko stieg nach offiziellen Angaben die Zahl der AIDS-Erkrankungen seit 1989 von 32 auf 400 Fälle. Die WHO geht von zehnmal so vielen Patienten aus. Da die AIDS-Aufklärung viele Tabuthemen anspricht - vor allem Homosexualität und Prostitution - will die ALCS in ihren fünf Regionalbüros Freiraum für eine unabhängige Beratung schaffen, bei der niemand juristische oder soziale Risiken befürchten muß. Da die Analphabetenrate in Marokko bei Männern etwa 36 Prozent und bei Frauen etwa 60 Prozent beträgt, setzt der Verein auf Dia-Vorträge, Video-Clips und Hörspiele.Anders als im Norden profitiert die AIDS-Beratung in der arabischen Welt nicht vom selbstbewußten Auftreten Homosexueller. Im Gegenteil, die ALCS kann und will nicht als Teil einer aktiven Schwulen- und Lesbenbewegung gesehen werden. Ein Homosexueller riskiert in Marokko Gefängnisstrafen zwischen sechs Monaten und drei Jahren. De facto wird dieses Gesetz zwar nicht angewandt, aber selbst die ALCS hat Schwierigkeiten, Kontakt zu Homosexuellen aufzunehmen. Beide Seiten fürchten den marokkanischen Polizeistaat.Aufklärung wird so durch Tabus erschwert. 1990 befragte die ALCS in einem der Armenviertel Casablancas 106 weibliche Prostituierte, die meisten zwischen 20 und 40 Jahre alt: 91 Prozent kannten die Krankheit AIDS, aber nur 40 Prozent wußten, daß sie auch durch heterosexuellen Geschlechtsverkehr übertragen wird. Von diesen 40 Prozent glaubten 15 Prozent, der HI-Virus könne nur durch ausländische Freier übertragen werden. Zwar wußten die Frauen, daß AIDS eine schwere Krankheit ist, aber nur jede 20. glaubte, selbst zur Risikogruppe zu gehören. Die meisten Frauen hatten etwa 20 Freier pro Woche - ein Fünftel davon Ausländer. Keine benutzte regelmäßig und ohne Aufforderung Kondome, oft nur, wenn die Klienten sie selbst mitbrachten. Wichtigste Informationsquelle über AIDS waren die Klienten und Freunde der Prostituierten - ein Fünftel der Frauen hatte Informationen über Fernsehen und Radio erhalten.Nach dieser Erhebung boten drei Sozialarbeiterinnen der ALCS zweimal wöchentlich eine Gesundheitsberatung im entsprechenden Viertel an, um Zugangsbarrieren abzubauen und Ansprechpartnerinnen unter den Prostituierten zu finden. Mit Hilfe einer 32jährigen Marokkanerin gewann die ALCS an Akzeptanz und konnte für den verstärkten Gebrauch von Kondomen werben. Außerdem ließ die Assoziation gemeinsam mit einigen Frauen aus dem Viertel für Analphabetinnen ein Video aufnehmen, mit dem Alltagssituationen nachgespielt wurden und der Schutz vor AIDS eine Rolle spielte. Da den Behörden das Ganze jedoch eher anrüchig erschien, erhielt die ALCS keine staatliche Genehmigung, die Kassette zu verteilen.Auf politischer Ebene fordert die ALCS inzwischen eine offizielle Anerkennung der Prostitution. Des weiteren soll der Staat allen BürgerInnen öffentliche Beratungsstellen, Familienplanungszenten, Aufklärungsprogramme im Fernsehen und in den Schulen anbieten. Für die Journalistin Hinde Taarji ist die Tatsache, daß eine Präsidentin die ALCS führt, beispielhaft für den Beitrag von Frauen beim Entstehen einer sich emanzipierenden Gesellschaft und ein Indiz für eine spürbare Aufbruchsstimmung in ihrem Land.Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum Moderner Orient in Berlin. 1997 erschien ihr Buch Staat, Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft in Marokko beim Orient-Institut in Hamburg, 267 Seiten, 54,- DM. Weitere Artikel zu diesem Thema: Ulla LessmannMehr Milch, mehr Obst