Eine schimpfliche Feigheit hält uns alle zurück

Aus der Rede zur Verleihung des Ludwig-Börne-Preises Fürchten wir unseren eigenen, profitablen Schlaf der Vernunft

Börne-Forscher bedauern zuweilen, dass ihr Gegenstand beinahe nur noch durch das Medium Heine betrachtet wird. Mit dessen ironischer, stellenweise auch verleumderischer Denkschrift über Börne hat Heine unter den zwei Streithähnen das letzte Wort behalten, im Leben und in der Literatur. Vermutlich haben die beiden sich gerade deshalb als Konkurrenten empfunden, weil sie sich in der beißenden Kritik so ähnlich waren, weil Deutschland beide um den Schlaf brachte. Heine gibt dem jüdischen Schriftsteller Börne nur die Note: gut; dem deutschen Patrioten aber das Attribut: groß.

So ist das Mindeste, was am Fall Börne gegenwärtig geblieben ist, dass man als Jude sehr wohl deutscher Patriot sein kann. Weniger bekannt scheint mir, dass Börnes Liebe zu den deutschen Landen eine sehr gebrochene war, deren Ambivalenz manchen von uns heute recht vertraut sein dürfte. Der geborene Löb Baruch musste sich ständig gegen Angriffe wehren, er sehe den "herrlich deutschen Rosengarten mit schmutzig-gelben Augen an", er würde alles Deutsche verächtlich, alles Französische aber unter der Maske der Freiheit wünschenswert machen.

In Ludwig Börnes letztem Text Menzel, der Franzosenfresser, der als sein politisches Vermächtnis gilt, konterte er: "Ich habe nicht den deutschen Patriotismus allein, ich habe auch den französischen und jeden anderen verdammt, und ich habe ihn nicht für eine Narrheit erklärt, sondern für mehr, für eine Sünde." Die Vaterlandsliebe sei zwar ein angeborenes und darum natürliches Bedürfnis nach Zusammengehörigkeit, die Machthaber hätten den Völkern "um sie aneinander zu hetzen und wechselseitig zu unterdrücken" aber aufgeschwatzt: "Das Ausland hassen, heiße sein Vaterland lieben". Deshalb ist Patriotismus für Börne nur solange eine Tugend, solange er in seinen Schranken bleibt, darüber hinaus wird er ein Laster.

Treitschke befand später: "Durch das beständige Zetern und Spotten ging sein deutsches Nationalgefühl, das ohnehin nie eine starke, naturwüchsige Empfindung gewesen war, ganz zugrunde, und er versank in ein radikales Weltbürgertum, das dem Landesverrat sehr nahe stand." Als Waffe gegen "Nestbeschmutzer" ist der Patriotismus in allen Zeiten gern missbraucht worden. Börne drehte den Spieß um und nutzte ihn zum Kampf um die Freiheit im eignen Land. Er liebte Deutschland, weil es unglücklicher gewesen sei als andere Nationen. Er liebte nicht aus Stolz, sondern aus Sorge. Aus einer Art Mitleiden, das selber krank macht. Ist dies nicht auch für unsereins eine sehr nachvollziehbare Haltung? Es ist wohl so etwas wie eigennütziger Gemeinsinn, wenn Autoren sich mit Leidenschaft bemühen, die politischen und sozialen Verhältnisse durchschaubar zu machen.

Patriotismus bedeutet für mich ein durch gemeinsame Sprache, Kultur und Gesetzgebung vermitteltes Gefühl von gesteigerter Zuständigkeit. Von engagierter Einmischung. Kritisieren heißt, sich verantwortlich fühlen. Das Diskreditieren von scharf begründeten Analysen als feindliche Gesinnung verkennt, dass sich den Mühen und Risiken der Auseinandersetzung nur stellt, wer sich der Gesellschaft verbunden genug fühlt, sie verbessern helfen zu wollen.

Wenn Börne ein Patriot war, dann bin auch ich eine Patriotin. Das ist für mich eine kleine Überraschung, die mir in diesem assoziativen Gedankenstrom begegnet. Seitdem das Grundgesetz auch für mich gilt, war mir allerdings schon der Begriff des Verfassungspatriotismus lieb geworden. Kritik am Zustand der Demokratie und an der sich von den ursprünglichen Intentionen der Verfassung weit entfernt habenden Wirtschaftsordnung wird vom Grundgesetz nicht nur gedeckt, sondern geschützt, ja herausgefordert. Von solchen Bedingungen konnte Ludwig Börne nur träumen. Und auch für Ostdeutsche waren diese verheißungsvollen Freiheitsräume, neben den Wohlstandsverheißungen, entscheidend, um der Bundesrepublik wie einer Endstation Sehnsucht beizutreten. Inzwischen sind wir gemeinsam den Gefährdungen dieser Werte ausgesetzt. Nach meiner Beobachtung richtet sich die Nostalgie vieler Neubundesbürger gar nicht auf ein spätes DDR-Bild, sondern auf ihren frühen Traum von der Bundesrepublik.

Die schmerzliche Kluft zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit, speziell in Ostdeutschland, in meinen Texten immer wieder aufzuzeigen, war für mich der Weg, Fremdheit durch engagiertes Mitgestalten zu überwinden. Dabei konnte ich mich gelegentlich des Eindrucks nicht erwehren, als hätten die Ostdeutschen die verstaubten Zeiten des Radikalenerlasses im Crashkurs nachzuholen. Von so manchen selbsternannten Hütern der freiheitlich-demokratischen Grundordnung wurde diese als Synonym für den Status quo missbraucht, und Weiterdenkende sahen sich eingeschüchtert. Gegenstand anhaltender Medienkampagnen zu sein, ist eine ungewöhnliche Gewalterfahrung. Insbesondere, wenn die Glaubwürdigkeit von Argumenten dadurch entwertet werden soll, dass die Glaubwürdigkeit der argumentierenden Person in Frage gestellt wird.

Der Springer-Verlag musste sich zu meinen Gunsten schon zu mehreren Unterlassungserklärungen verpflichten, er hatte deshalb viele tausend Mark Prozesskosten zu zahlen. Der Konzern hat dennoch seinen Spaß daran, ohne mit mir je gesprochen zu haben, den gleichen Unfug als nebulöse Mutmaßungen immer weiter zu verbreiten. Ich habe die Verleumdungsfreiheit als Disziplinierungskeule empfunden, die vergessen machen soll, dass Machtfragen zu stellen nicht verboten ist.

Kann Börnes freiheitliches Vermächtnis als erfüllt angesehen werden? Zumindest in den Massenmedien gehören systemkritische Fragen nicht gerade zum Credo. Warum hat in unserem reichen Land die Hälfte der Bevölkerung so gut wie kein Privatvermögen? Und warum überlässt selbst die andere Hälfte die großen Brocken einer anonymen Minderheit? Warum gibt es hierzulande kein größeres Tabu als die Vermögensstatistik? Warum wird die Gesellschaft ärmer, wenn sie produktiver wird?

Börne wäre heute vermutlich nicht minder aufgebracht, als zu Zeiten der Demagogenverfolgung durch die in Frankfurt tagende "völlig toll gewordene Bundesversammlung". Er beschreibt den damals längst eingeführten Begriff Zeitgeist, als befände er sich auf einer Versammlung der IG Medien: Wenn wir verkündigen, was uns, jedem von seiner Partei aufgetragen, werden wir gelobt und belohnt; wenn wir eine falsche Botschaft bringen, werden wir getadelt und gezüchtigt. Gerade deshalb verlangt Börne nicht mehr und nicht weniger, als den Mut zum eigenen Denken: "Eine schimpfliche Feigheit, zu denken, hält uns alle zurück. Drückender als die Zensur der Regierungen ist die Zensur, welche die öffentliche Meinung über unsere Geisteswerke ausübt."

Da auch heute, trotz Abwesenheit eines staatlichen Zensors, über Personen hinausgehende Macht- und Eigentumsfragen nicht ernsthaft gestellt werden, drängt sich die Frage auf, ob die veröffentlichte Meinung die nun mal zu erledigende zensorische Arbeit ohne viel Aufhebens, mehr ehrenamtlich und aus alter Gewohnheit, mitübernommen hat.

Der Osten wird neuerdings gern als Milliardengrab verdammt. Wäre es nicht ergiebiger, den asozialen Reichtum als Billionengrab zu enttarnen? Der Verweis auf die im Grundgesetz verankerte Sozialpflichtigkeit von Eigentum ist schon ein revolutionärer Akt. Wer es noch wagt, Umverteilung von Vermögen, Land und Arbeit zu fordern, gerät leicht unter Kommunismusverdacht. Dabei findet Umverteilung täglich statt - wir sehen ohnmächtig zu, wie Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden. Ironie der Fehlergeschichte: Für die Angleichung der Lebensverhältnisse im Osten gibt es keine kapitalismusinterne Lösung mehr.

Der Realsozialismus war letztlich nicht revolutionsfähig - aber das immerhin hatte er begriffen. Partiell lernfähig war er schon - und das, vermengt mit dem Wunschdenken, die emanzipatorischen Potenzen des Gemeineigentums würden eines Tages auch die geistigen Spielräume erfassen, ließ sich leicht verwechseln. Glasnost postulierte, dass es ohne Demokratie nicht weitergeht. Perestroika zeigte: mit auch nicht. Diesmal griff die gefährdete Macht nicht wie gewohnt störrisch zu den noch reichlich vorhandenen Waffen, sondern ging vor dem Mehrheitswillen gewaltfrei in die Knie. Diese Selbstüberwindung sollte man ihr immerhin nicht absprechen.

Und wie steht es heute um die Lernfähigkeit der freiheitlichen Ordnung? Mit Demokratie könnte es weitergehen. Was wir aber seit Jahren erleben, ist eine schleichende Entdemokratisierung. Auch Demokratien sind nichts Starres, müssen ihre Spielregeln veränderten Bedingungen anpassen. Wer will, dass die Demokratie bleibt, kann nicht wollen, dass sie bleibt, wie sie ist. ...

Spätestens auf den Weltsozialforen im brasilianischen Porto Alegre und im indischen Mumbai habe ich begriffen: Es ist eine Weltordnung entstanden, die den Interessen der Mehrheit auf diesem Planeten diametral gegenüber steht. Immer noch halten wir es für rechtmäßig, dass die armen Länder jedes Jahr das Sechsfache der erhaltenen Entwicklungshilfe durch Zinsen und Schuldentilgung zurückzahlen. Selbst unsere postulierte Uneigennützigkeit entpuppt sich als profitable Geldanlage. Deutschland gehört - wie der größte Teil Europas - trotz aller Probleme zu den Gewinnern der Globalisierung. Ja, Patriotismus und Weltoffenheit bedingen einander. Wir halten einen vorderen Platz im internationalen Waffenhandel, dessen Profit - man glaubt es kaum - so hoch ist, wie das Einkommen der Hälfte der Weltbevölkerung.

Ein Europa, in dem wir uns über die von der gemeinsamen Geschichte gebrochenen Biographien näher kommen, lohnt alles Engagement. Wenn es aber darauf hinausläuft, und einiges spricht dafür, dass sich im wesentlichen doch wieder nur die Märkte und die Investoren näher kommen, und dieses Gut durch die Militarisierung der europäischen Außenpolitik verteidigt werden soll, so ist Gegenwehr geboten. Die EU-Verfassung will Aufrüstung erstmalig zur Pflicht erheben. Eine "Europäische Agentur für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten" wird eingerichtet. Über die Möglichkeiten von Abrüstung und zivilen Fähigkeiten forscht offenbar niemand. Und das in einer Situation, in der in den USA gerade sämtliche internationale Abrüstungsabkommen zertrümmert werden. Im Bund mit der EU-Staatengemeinschaft könnte Deutschland zu einer weltweit operierenden Interventionsmacht werden, die "im Dienste ihrer Interessen" ohne Legitimation durch das gewählte Europa-Parlament und ohne ausdrückliche Erwähnung eines UN-Mandates zu Kriegen befugt ist. Selbst EU-Abgeordnete sind sich nicht sicher, ob damit der Vorbehalt des Bundestages unterlaufen wird, vermuten dies aber. Da würde nicht einmal mehr die demokratische Form gewahrt. Da ist Krieg wieder dort, wo er immer war. Der Bürger wird zu all dem nicht befragt. Er ist entmachtet.

"Unruhen in Hamburg; in Braunschweig das Schloß angezündet und den Fürsten verjagt; Empörung in Dresden", jubelte Börne in einem Brief aus Paris. "Wie hat man es nur so lange ertragen? Es ist eine Frage, die mir der Schwindel gibt. Einer erträgt es, noch einer, noch einer - aber wie ertragen es Millionen?"

Sie werden es nicht ertragen. Dies wäre die Utopie eines vom Kopf auf die Füße gestellten Zeitgeistes: Ein Begriff, der sich über die Jahrhunderte gehalten hat, obwohl er doch haltlos ist. Die Zeit hat eine Dimension, aber keinen Geist. Der herrschende Zeitgeist ist nicht der Geist der Zeit, sondern der Geist der Herrschenden. Also der privilegierten, gebildeten und besitzenden Minderheit. Ein Zustand jenseits demokratischer Ideale. Wissen kann sich vervielfältigen, ohne der Verdummung Einhalt zu gebieten. Aufgeklärt sein heißt, Ursache und Wirkung kennen, in Zusammenhängen denken, hinter den Oberflächen Interessen durchschauen. Aufgeklärt sein heißt, politisiert sein. Nicht durch Dogmen, sondern durch Analyse. Ein ins Positive gewendeter Zeitgeist wäre erstmalig ein Geist der aufgeklärten Mehrheit.

Ludwig Börne lehnte die irrationale, unmenschliche Gewalt von Revolten ab, Revolution sei etwas anderes als Kopfabhacken. Moderneres Vokabular unterstellt, verlangte er von revolutionären Befreiungstheorien nicht zu Totalitarismus und Terrorismus zu führen, sondern umgekehrt, eben davon zu erlösen. Die "sicherste Art, den Krieg der Armen gegen die Reichen zu verhindern", befand Börne, wäre "sie an der Gesetzgebung teilnehmen zu lassen". Voraussetzung sei, dass jeder Umwälzung "eine Umwandlung der öffentlichen Meinung vorhergegangen sein muss". Der Radikaldemokrat Börne wollte das Volk nicht ändern, aber aufwecken: Der Mensch ist älter als der Bürger, der Mensch muss sich bessern, dann folgt ihm der Bürger nach. Kein neuer Mensch, aber ein aufgeweckter alter, also anderer. Wenige Jahre nach Börnes Tod befand Karl Marx, "dass die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen."

Die digitalisierte Kommunikation schafft dafür so günstige Bedingungen wie nie zuvor. Nicht nur das Internet, sondern eines Tages vielleicht auch ein alternativer Weltfernsehsender könnten sich dem Ziel verpflichten: Habenichtse aller Länder, vereinigt euch. Nachdem die sozialen Bewegungen sich formiert und vernetzt haben, könnten sie international handlungsfähig werden. Was hieße, einen globalen Sozialvertrag einzufordern. Erstmalig wird die Demokratie auch die Wirtschaft ergreifen müssen. Bei der Ausgleichung des Vermögens käme es darauf an, "die Zerstörung zu verhüten, die dem Räuber so wenig als dem Beraubten frommt". Börne sah nicht nur die Armen deformiert, sondern auch die Reichen. Denn ohne soziales Fundament keine zivile und demokratische Freiheit, nirgends und für niemanden.

Fürchten wir nicht "das zornige Erröten der Völker", wie Börne es hoffnungsvoll beschwor. Fürchten wir den herrschenden Zeitgeist, fürchten wir unseren eigenen, profitablen Schlaf der Vernunft. Erfüllen wir Börnes Vermächtnis, indem wir von uns behaupten können: Wir treiben, weil wir werden getrieben.

Der Autorin wurde am vergangenen Sonntag in Frankfurt/M. der Ludwig-Börne-Preis verliehen.


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