Eine Ungerechtigkeit, die zum Himmel schreit

Dokument der Woche Aus dem Abschlussdokument der II. Generalversammlung der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz vor 40 Jahren

Über die Situation der lateinamerikanischen Menschen gibt es viele Studien. In allen wird das Elend beschrieben, das große Menschengruppen in die Randzonen des Gemeinschaftslebens drängt. Dieses Elend als Massenerscheinung ist eine Ungerechtigkeit, die zum Himmel schreit.

Vielleicht hat man nicht oft genug gesagt, dass die unternommenen Anstrengungen im allgemeinen nicht imstande gewesen sind, den Respekt vor der Gerechtigkeit und deren Verwirklichung in allen Bereichen der betreffenden nationalen Gemeinschaften zu sichern. Die Familien finden oftmals keine konkreten Erziehungsmaßnahmen für ihre Kinder. Die Jugend verlangt ihr Recht auf Zugang zu Universitäten oder höheren Bildungseinrichtungen der intellektuellen oder berufsfachlichen Weiterbildung. Die Frau verlangt ihre rechtliche und tatsächliche Gleichstellung mit dem Mann. Die Landarbeiter verlangen bessere Lebensbedingungen oder - soweit sie Erzeuger sind - bessere Preise und Absatzsicherung. Die wachsende Mittelschicht fühlt sich durch das Fehlen von Zukunftschancen betroffen. Die kleinen Handwerks- und Industriebetriebe stehen unter dem Druck größerer Interessen, und nicht wenige große Industriebetriebe Lateinamerikas geraten mehr und mehr in die Abhängigkeit von Weltunternehmen. Wir können das Phänomen einer fast allgemeinen Frustration, das ein Klima der Kollektivangst hervorbringt, in dem wir bereits leben, nicht übersehen.

Das Fehlen der soziokulturellen Integration hat in der Mehrheit unserer Länder die Überlagerung von Kulturen verursacht. Im Wirtschaftsbereich wurden Systeme eingeführt, die ausschließlich die Möglichkeiten der Schichten mit hoher Kaukraft in Betracht ziehen.

Diese fehlende Anpassung an die Eigenart und an die Möglichkeiten unserer Bevölkerung verursacht seinerseits eine häufige politische Instabilität und die Verfestigung rein formeller Institutionen. Zu alldem muss noch ein Mangel an Solidarität hinzu gefügt werden, was im individuellen und sozialen Bereich zu wirklichen Sünden führt, deren Kristallisation in den ungerechten Strukturen offensichtlich wird, die die Lage Lateinamerikas kennzeichnen.

Es wird keinen neuen Kontinent geben ohne neue Menschen, die im Lichte des Evangeliums wirklich frei und verantwortlich zu sein wissen

Die lateinamerikanische Kirche hat eine Botschaft für alle Menschen, die in diesem Kontinent "Hunger und Durst nach Gerechtigkeit" haben. Derselbe Gott, der den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis schafft, hat die Erde, "in allem, was sie enthält, zum Nutzen aller Menschen und Völker bestimmt; darum müssen diese geschaffenen Güter in einem billigen Verhältnis allen zustatten kommen" (zitiert aus dem II. Vatikanischen Konzil: Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute, "Gaudium et Spes", Nr.69). Er gibt den Menschen die Macht, die Welt mitverantwortlich umzugestalten und zu vervollkommnen. Es ist derselbe Gott, der in der Fülle der Zeit seinen Sohn sandte, der Mensch wurde, um alle Menschen aus aller Knechtschaft zu befreien, in der sie die Sünde, die Unwissenheit, der Hunger, das Elend und die Unterdrückung - mit einem Wort - die Ungerechtigkeit und der Hass gefangen halten, die ihren Ursprung im menschlichen Egoismus haben.

Darum brauchen wir Menschen alle für unsere wirkliche Befreiung eine grundlegende Bekehrung mit dem Ziel, dass das "Reich der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens" zu uns kommt. Der Ursprung aller Verachtung des Menschen, aller Ungerechtigkeit muss im inneren Ungleichgewicht der menschlichen Freiheit, die in der Geschichte eines fortwährenden Bemühens um Verbesserung bedarf, gesucht werden. Die Originalität der christlichen Botschaft besteht nicht direkt darin, die Notwendigkeit eines Strukturwandels zu bejahen, sondern darin, auf die Bekehrung des Menschen zu drängen, die hernach diesen Wandel fordert. Wir werden keinen neuen Kontinent haben ohne neue und erneuerte Strukturen, es wird vor allem keinen neuen Kontinent geben ohne neue Menschen, die im Lichte des Evangeliums wirklich frei und verantwortlich zu sein wissen ...

Die christliche Suche nach Gerechtigkeit ist eine Forderung der biblischen Lehre. Wir Menschen sind alle bescheidene Verwalter der Güter. Auf der Suche nach der Erlösung müssen wir den Dualismus vermeiden, der die irdischen Aufgaben von der Heiligung trennt. Obwohl von Unvollkommenheiten umgeben, sind wir Menschen der Hoffnung. Wir glauben, dass die Liebe zu Christus und unseren Brüdern nicht nur die große, von der Ungerechtigkeit und Unterdrückung befreiende Kraft sein wird, sondern auch die soziale Gerechtigkeit inspiriert, die als Lebenskonzept und Impuls zur integralen Entwicklung unserer Völker verstanden wird.

Unser pastoraler Auftrag ist hauptsächlich ein Dienst der Inspiration und der Gewissensbildung der Gläubigen, um ihnen zu helfen, die Verantwortung ihres Glaubens in ihrem persönlichen und gemeinschaftlichen Leben wahrzunehmen. Diese II. Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopats zeigt unter Berücksichtigung des Werturteils der jüngsten Dokumente des kirchlichen Lehramtes über die wirtschaftliche und soziale Situation der Welt von heute, die für den lateinamerikanischen Kontinent volle Gültigkeit haben, die wichtigsten Anforderungen auf. ...

Das Unternehmenssystem und die derzeitige Wirtschaft entsprechen einer irrigen Auffassung von Eigentumsrecht an den Produktionsmitteln

Diese II. Generalversammlung richtet sich an alle, die mit täglicher Anstrengung die Güter schaffen und Dienste verrichten, die die Existenz und Entwicklung des menschlichen Lebens ermöglichen. Wir denken besonders an die Millionen lateinamerikanischer Männer und Frauen der Landarbeiter- und Arbeiterschicht. In ihrer Mehrheit leiden sie, ersehnen und bemühen sie sich um einen Wandel, der ihre Arbeit menschlicher und würdiger macht. Ohne die ganze menschliche Bedeutung der Arbeit zu verkennen, betrachten wir sie hier insofern als Zwischenstruktur, als sie die Funktion darstellt, die der beruflichen Organisation auf dem Gebiet der Produktion ihren Ursprung gibt.

In der heutigen Welt findet die Produktion ihren konkreten Ausdruck in den industriellen und landwirtschaftlichen Unternehmen, der fundamentalen und dynamischen Basis des gesamten wirtschaftlichen Prozesses. Das lateinamerikanische Unternehmenssystem und somit die derzeitige Wirtschaft entsprechen einer irrigen Auffassung von Eigentumsrecht an den Produktionsmitteln und von dem eigentlichen Ziel der Wirtschaft.

An die Unternehmer, ihre Organisationen und an die politischen Autoritäten richten wir aus diesem Grund einen dringenden Appell, die Wertung, Haltungen und Mittel im Hinblick auf Zielsetzung, Organisation und Führung der Betriebe radikal zu ändern. All jene Unternehmer, die als einzelne oder durch ihre Organisationen Anstrengungen unternehmen, die Betriebe nach den Richtlinien der Soziallehre der Kirche zu orientieren, verdienen Ermutigung.

Von all dem wird wesentlich abhängen, ob der soziale und wirtschaftliche Wandel in Lateinamerika seinen Weg zu einer wirklich humanen Wirtschaft nehmen wird. Andererseits wird dieser Wandel für einen wirklichen Entwicklungs- und Integrationsprozess in Lateinamerika grundlegend sein. Wenn auch viele Arbeiter ein Bewusstsein von der Notwendigkeit diese Wandels erwerben, so durchleben sie zugleich eine Situation der Abhängigkeit von den unmenschlichen wirtschaftlichen Systemen und Institutionen. Für viele von ihnen grenzt diese Situation nicht nur an physische, sondern auch an berufliche, kulturelle, bürgerliche und geistige Sklaverei.

Mit der Klarheit, die aus dem Wissen um den Menschen und um seine Erwartungen kommt, müssen wir erneut betonen, dass weder Kapitalhäufungen noch die Einführung moderner Produktionstechniken, noch wirtschaftliche Planungen wirksam im Dienst des Menschen stehen werden, wenn nicht die Arbeiter - unbeschadet der "erforderlichen einheitlichen Werkleitung" - mit der ganzen Darstellung ihres menschlichen Seins durch die "aktive Beteiligung aller an der Unternehmensgestaltung" einbezogen sind. Das betrifft auch die Ebenen der Makro-Ökonomie, die im nationalen und internationalen Bereich entscheidend sind.

Die Sozialisierung, verstanden als soziokultureller Prozess der wachsenden Personalisierung und Solidarität, veranlasst uns anzunehmen, dass alle Sektoren der Gesellschaft - in diesem Fall aber besonders der sozioökonomische Sektor - die Gegensätze durch Gerechtigkeit und Brüderlichkeit überwinden müssen, um sich in Antriebskräfte der nationalen und kontinentalen Entwicklung zu verwandeln. Ohne diese Einsicht wird sich Lateinamerika vom Neo-Kolonialismus, dem es unterworfen ist, nicht befreien und sich folglich auch nicht in Freiheit mit seinen ihm eigenen Charakteristika im Kulturellen, Sozialpolitischen und Wirtschaftlichen verwirklichen können.

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Angesichts der Notwendigkeit einer umfassenden Wandlung lateinamerikanischer Strukturen halten wird innerhalb dieses Wandels die politische Reform für erforderlich. Die Ausübung der politischen Autorität und deren Entscheidungen haben als einzige Zielsetzung das Gemeinwohl. In Lateinamerika stützen diese Ausübung und diese Entscheidungen offensichtlich häufig Systeme, die dem Gemeinwohl entgegenwirken oder privilegierte Gruppen begünstigen. Die Autorität sollte durch juristische Normen die Rechte und unveräußerlichen Freiheiten der Bürger und das freie Zusammenspiel der Zwischenstrukturen wirksam und fortlaufend sichern. Der Mangel an politischen Bewusstsein in unseren Ländern macht die erzieherische Aktion der Kirche unentbehrlich. Ihr Ziel ist es, dass die Christen ihre Teilhabe am politischen Leben als Gewissenspflicht und als Akt der Nächstenliebe in ihrem edelsten und wirksamsten Sinn für das Leben der Gemeinschaft ansehen.

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