Eine Armbanduhr, ein Fahrrad, ein Radio und eine Nähmaschine galten als die »vier Großen Errungenschaften« einer chinesischen Familie, als am 1. Oktober 1959 der zehnte Jahrestag der Volksrepublik begangen wurde. Ein bescheidener, aber respektabler Wohlstand nach einem Jahrzehnt Sozialismus im »Reich der Mitte«. Knapp zwei Jahre zuvor war unser Autor als Gaststudent nach Peking gekommen, um ein Studium an der berühmten Beida-Universität aufzunehmen. Zweieinhalb Jahrzehnte später am 1. Oktober 1984 - zum 35. Jahrestag der Staatsgründung - sollte noch einmal von »vier Großen Errungenschaften« die Rede sein. Jetzt firmierten Kassettenrecorder, Fernsehapparat, Waschmaschine und Kühlschrank als Zeichen eines durchschnittlichen Lebensstandards. Otto Mann berichtete inzwischen als Korrespondent darüber. Er schilderte ein Land, das den »Großen Sprung«, die Kulturrevolution und Mao Zedong überstanden hatte. Mitte der achtziger Jahre zielten Deng Xiaopings Reformen auf die »sozialistische Marktwirtschaft« - eine Absage an den Maoismus, um einen »Sozialismus chinesischer Prägung« aufzubauen. Das beschwor neue Zerreißproben herauf: Anfang Juni 1989 wurde die Demokratie-Bewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens blutig niedergeschlagen und Dengs Sozialismus-Modell weltweit diskreditiert.
Der Herbst 1957. Seit wenigen Tagen bin ich an der Peking-Universität eingeschrieben, werde zwei Jahre nur die Sprache lernen und dann an die Literaturfakultät gehen. Es ist Wochenende, und ich fahre mit dem O-Bus das erste Mal zur Wangfujing. Ob Chinese oder Ausländer, wer neu nach Peking kommt, sucht immer die bekannteste Einkaufsstraße der Stadt auf. Sie liegt östlich von der ehemals Verbotenen Stadt und dem Platz des Himmlischen Friedens. Am Peking-Hotel - mit seinen zehn Etagen das höchste Gebäude der Stadt - soll ich nach Norden abbiegen, dann würde ich schon sehen.
Als erstes versuche ich herauszubekommen, wonach es in der Wangfujing riecht, irgendwie exotisch, Weihrauch ist dabei, Knoblauch und verbrannte Holzkohle. Alles ist fremd hier. Die vielen Menschen in ihrem blauen Einheitsdress und die Fahrradrikschas. Taxis sind kaum zu sehen. Es gibt weniger als 30 davon, alle sowjetischer Bauart. Die meisten Fahrzeuge auf der Pekinger Prachtstraße sind gemächlich dahin rollende Eselskarren voller Ziegel oder Melonen. Der zweistöckige Dongan-Basar an der Nordseite riecht nach Sesam, Kohl und alten Büchern. Eine Fundgrube für echtes Ming-Porzellan, für Rollbilder aus der Song-Dynastie und antiquarische Bücher, denn noch ist China geschlossen für Raubritter und Spekulanten. Schräg gegenüber liegt das älteste Kaufhaus der Stadt, voll gestapelt mit billigen »Waren des täglichen Bedarfs« - nur Nahrungsmittel und Baumwollstoffe sind rationiert. Knapp zwölf Kilo Reis und ein Liter Öl im Monat sowie drei Fuß Stoff im Jahr, damit müssen die Einheimischen auskommen. Gleich um die Ecke stehen vor dem ältesten Theater Pekings Leute nach Karten für die Peking-Oper an. Turbulent und laut geht es zu, ganz im Gegensatz zur beschaulichen Idylle der Peking-Universität.
»Bewegung gegen die vier Übel« - und Hundert Blumen blühen
Der ausgedehnte Campus war schon lange vor Gründung der Volksrepublik die Elite-Schmiede des Landes. Die malerische Wasserturm-Pagode, die weidengesäumten Seeufer und die vielen palastartigen Hörsäle und Pavillons sind Markenzeichen disziplinierter Gelehrsamkeit. Um 5.30 Uhr fangen die Lautsprecher zu plärren an und begleiten die obligatorische Frühgymnastik von 10.000 Studenten und Dozenten auf dem Gelände. Später erklingen patriotische Lieder oder es werden Artikel aus der Volkszeitung verlesen. Sonst herrscht Stille. Für mich gibt es acht Stunden Sprachunterricht am Tage, mit Lehrtexten in Englisch oder Russisch. Die Welt da draußen scheint hier weit entfernt. - Aber die Idylle ist trügerisch. Schon nach wenigen Wochen werde ich Zeuge der ersten yundong. Diese »Bewegungen« oder »Kampagnen« sollen die Massen mobilisieren und erfassen alle Bereiche des Lebens. Diesmal geht es gegen die »vier Übel«: Ratten oder Mäuse, Spatzen, Fliegen und Mücken. In den Hutongs, den Wohnvierteln vor der Universität, sind Kinder und Alte wochenlang mit der Fliegenklatsche anzutreffen und rotten systematisch aus. Die erlegten Fliegen werden sorgfältig abgezählt und reihenweise auf Doppelseiten der Volkszeitung geklebt. Dafür gibt es ein paar Yuan vom Nachbarschaftskomitee, das den erfolgreichen Verlauf der yundong nach oben meldet. Ratten und Mäuse werden in Haufen gesammelt und per LKW abtransportiert.
Laut und fröhlich geht es bei der Vogeljagd zu. Tagelang ist Peking mit einem Netz von Menschen überzogen, die nichts anderes als großen Lärm machen. Sie scheppern mit Töpfen und Eimern oder schwenken Bambusstangen, um die Vögel in der Luft zu halten. Die überstehen das höchstens zehn Minuten und fallen dann nach einem Herzkollaps vom Himmel - Spatzen und Finken, Meisen und Elstern. Die Zeitungen vermelden stolz, wieviel Tonnen Gefiederte alltäglich eingesammelt werden und wieviel Getreide dieses »Übel« sonst verspeist hätte. Wie stets liegt die Beida, unsere Universität, bei der Planerfüllung weit vorn, auf Kosten der Lehrveranstaltungen. Erstmals wird deutlich, wohin Ignoranz und Dogmatismus führen, nach wenigen Tagen hat Peking auch keine Singvögel mehr. Das hat man kurz darauf als Fehler erkannt, aber nicht öffentlich bedauert, denn die Partei hat immer recht.
Der Spatz allerdings gehört zu den am längsten politisch Verfolgten. Er wird erst im Frühjahr 1999 rehabilitiert und als wichtiges Glied eines geschlossenen Öko-Systems unter Schutz gestellt.
Als weit folgenschwerer soll sich eine politische Kampagne erweisen, die in dieser Zeit auf Touren kommt. In der Beida wird es unruhig. Immer öfter fallen Vorlesungen aus, weil »Kampfversammlungen« abgehalten werden. Um kritische Intellektuelle auf seine Seite zu ziehen, hatte Mao Zedong im Frühsommer 1957 eine patriotische Erziehungsbewegung losgetreten, in der »Hundert Blumen blühen und Hundert Schulen miteinander wettstreiten« sollten. Mehr Toleranz wurde versprochen, und die geistige Elite sah sich aufgefordert, Sorgen und Klagen vorzubringen.
Die Reaktion ist so verheerend, die Kritik an der geistigen Enge und erdrückenden Allmacht der Partei so vernichtend, dass Mao umschwenkt und die erste große Terrorkampagne entfesselt - die Bewegung gegen »rechte Abweichler«. Wer sich kritisch geäußert hat, ist nun Staatsfeind und vogelfrei. In der Universität werden die anstößigen Wandzeitungen von Schmähschriften gegen die »Rechten« abgelöst. Es wird wieder leise gesprochen, nur die »Kritik-Versammlungen gegen die Rechten« lärmen auf dem Campus. Der Sprachdrill für die Auslandsstudenten geht weiter, aber für die chinesischen Studenten fallen die Vorlesungen immer häufiger aus. Kolonnenweise rücken ganze Jahrgänge zur »Erziehung auf dem Lande« aus. Erst Wochen, später Monate lang.
»Die Hauptquartiere stürmen« - Ottern gezücht und Große Kulturrevolution
Hinter den Uni-Mauern bin ich mit der Architektur der Tausende von Schriftzeichen beschäftigt, die ich zu lernen habe. Die Politik ist da irgendwo draußen. Aber es gärt im Lande. Einige Professoren sind plötzlich nicht mehr da. Angesehene Leute sehen sich auf einmal als »Rechte« beschimpft. Ende 1957 sind über 300.000 Intellektuelle stigmatisiert. Auf Kampfmeetings werden sie öffentlich geschmäht, dann ins Gefängnis gesteckt oder in abgelegene Provinzen verbannt, um »von den Massen zu lernen«. Ihre Karrieren sind ruiniert. Viele sterben in den berüchtigten Arbeitslagern von Xinjiang oder Gansu. Manche begehen Selbstmord. Der Großteil wird erst in den frühen Achtzigern rehabilitiert. Manche bleiben für immer im Exil.
Aber es sollte noch schlimmer kommen. Die Hungerjahre von 1958/59 mit dem größenwahnsinnigen »Großen Sprung nach vorn«; der groteske Personenkult um den »Großen Steuermann«; die Kampagne, in der die Partei alles Metall einsammeln und in bäuerlichen »Hochöfen« zu »Stahl« einschmelzen ließ; der Beginn des katastrophalen Experiments mit den Volkskommunen - ein Vorspiel für die verheerendste Kampagne der Mao-Herrschaft. - Im August 1966 bin ich wieder in der Wangfujing. Auf Lastkraftwagen dicht gedrängt, werden Leute durch die Stadt gefahren, die hohe spitze Papiermützen tragen. Darauf sind mit schwarzer Tusche ihre politischen Sünden gepinselt. Bei einem wurden zwei Paar Lederschuhe gefunden - ein deutliches Zeichen dafür, dass er den »kapitalistischen Weg« eingeschlagen hat. Ein anderer ist beim Geige spielen überrascht worden, wo doch die Anbeterei der westlichen Kultur parteischädigend, also verboten ist. Wie zur Hinrichtung werden die als »dekadente Bourgeois« Abgestempelten durch die Stadt gefahren und öffentlich zur Schau gestellt - als Abschreckung für die Massen. Ihnen wird »das Gesicht genommen« - hierzulande schon immer eine der schlimmsten Strafen.
Seit der Bewegung gegen die »Rechten« hat Mao wieder den Klassenkampf auf die Fahnen geschrieben. Mit einem grotesken Personenkult lässt er sich als die »röteste Sonne« oder den »Großen Steuermann« feiern. Er schwimmt auf einer Woge des verordneten patriotischen Taumels. Nur die »Kapitalistenclique« im Politbüro scheint die absolute Herrschaft des roten Mandarins zu bedrohen. Derartige Schimpfworte liegen für Staatspräsident Liu Shaoqi und KP-Generalsekretär Deng Xiaoping sowie Generäle aus der Zeit des »Langen Marsches« bereit, die sich vorsichtig gegen den Größenwahn Maos zu wehren suchen. Ebenso schlimm sind die »Revisionisten« dran, also alle jene, die dem sowjetischen Sozialismusmodell anhängen und aus der Sicht Maos die Partei zu unterwandern drohen. Im August 1966 ruft er persönlich mit einer Wandzeitung dazu auf, »die Hauptquartiere zu stürmen« und seine Widersacher in der Partei zu bekämpfen. Bald darauf werden Liu Shaoqi, Deng Xiaoping und nahezu die gesamte Parteiführung entmachtet und verbannt. Wochen lang ziehen Kolonnen von jugendlichen »Rotgardisten« über den Platz des Himmlischen Friedens und huldigen Mao und seinem Dogma. Als ich zwei Monate später wiederkomme, rät man mir, das Hotel nicht zu verlassen. Die Massen machten Revolution, und das sei mitunter gefährlich.
Auch in der Wangfujing jagen sie »Kuh-Gespenster« und »Otterngezücht«. Das kann jeder sein, der ein Musikinstrument besitzt, einen Verwandten im Ausland hat oder auch nur von seinem Nachbarn denunziert wird. Täglich treffen Sonderzüge mit johlenden Oberschülern in der Hauptstadt ein und »verteidigen die Revolution« gegen alles, was nicht den sozialistischen Normen des Großen Vorsitzenden entspricht. Gemälde aus der Song-Dynastie, Konfuzius oder die Peking-Oper werden als dekadent abgestempelt, aber auch Beethoven und die gesamte europäische Literatur. Zehn Jahre lang herrschen Gewalt und Chaos - sie werfen China in seiner Entwicklung um 20 Jahre zurück.
»Reich sein ist glorreich« - der Lange Marsch zur Marktwirtschaft
1984 ist die Wangfujing noch immer die beliebteste Bummelmeile Pekings. Anders als in den übrigen Ostblockstaaten quellen die Geschäfte über. Längst sind die Lebensmittelmarken abgeschafft, die Mangeljahre Geschichte. Kühlschränke und Waschmaschinen, Farbfernseher und Fotoapparate ge hören zur Grundausstattung der meisten städtischen Haushalte. Der Aufbruch in die Konsumgesellschaft hat begonnen. Meine Freunde aus der Studentenzeit sagen mir, dass sie ihn Deng Xiaoping zu verdanken haben. Nachdem Mao 1976 gestorben und die von seiner Frau Jiang Qing angeführte ultralinke »Viererbande« zerschlagen war, hatte man Deng zum dritten Mal in seiner Karriere rehabilitiert. Der kurzgewachsene Mann aus der Pfefferprovinz Sichuan ist zum Symbol der Erneuerung Chinas geworden. Die frühen achtziger Jahre stehen im Zeichen seiner Reform- und Öffnungspolitik. »Reich sein ist glorreich«, hat er verkündet und damit die kollektivistische Gleichmacherei Maos hinter sich gelassen. Der Lange Marsch zur Marktwirtschaft hat begonnen und zugleich der langsame Tod der Ideologie.
Zum 35. Jahrestag der Volksrepublik am 1. Oktober 1984 ist die Wangfujing festlich geschmückt, aber nicht mehr mit roten Fahnen und Losungen, sondern mit greller Reklame und Blumenterrassen. Auf dem Platz des Himmlischen Friedens haben sich Hunderttausende versammelt. Kurz vor zehn Uhr wird die Menge still. Auf die Minute rollt die schwarze offene Limousine mit Deng Xiaoping auf den Platz. Stehend nimmt er den Salut der Armee entgegen und winkt. Dann beginnt die größte Militär- und Massenparade, die der Platz je erlebt hat. Als Korrespondent kann ich das Spektakel von der Tribüne an der Nordseite des Platzes beobachten. Hinter mir hängt noch immer das Großporträt Mao Zedongs. Vor mir auf der Mittelachse ist das Foto Sun Yatsens montiert. Der Führer der chinesischen Republik von 1911wird flankiert von Marx und Engels auf der einen und Lenin und Stalin auf der anderen Seite. Jubel brandet auf, als die Parade beginnt, erst das Militär, dann die Symbole der Reformen aus Blech und Pappmaché.
Im September 1999 wird die Wangfujing nach mehrmonatiger Rekonstruktion als Pekings erste Fußgängerzone freigegeben. Der neue Dongan-Basar am Nordende und die Oriental-Plaza am Südende gehören zu den größten Einkaufspalästen Asiens. Im alten Kaufhaus, wo es früher den Reis und das Mehl auf Marken gab, kann man sich jetzt eine neue Wohnung auf Raten einrichten und mit Kreditkarte bezahlen. Den 50. Jahrestag hat sich die Partei viel kosten lassen, darunter ein neues Flughafenterminal, mehrere Stadtautobahnen und eine neue Metro-Linie. Noch weniger Politik, einigen Wohlstand und mehr persönliche Freiräume gibt es inzwischen - aber keine politischen Reformen. Die Partei versucht den Spagat zwischen Alleinherrschaft und Marktwirtschaft und führt ihn am 1. Oktober auf dem Platz des Himmlischen Friedens vor - mit der gigantischsten Militärparade in der Geschichte und der Demonstration der wirtschaftlichen Errungenschaften.
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