Molekulargastronomie Hervé This-Benckhard erforscht, welche chemischen und physikalischen Reaktionen in den Töpfen und auf den Schneidbrettern ablaufen - und hat selbst Pariser Chefköche überzeugt, dass sie von ihm noch lernen können.
Es war an einem Sonntagabend, irgendwann um 1990", erinnert sich Hervé This-Benckhard, "es ging um ein Roquefort-Soufflé." Die Zubereitung dieser französischen Köstlichkeit sollte das Leben des Chemikers für immer verändern. Im Rezept hieß es, dass man "im gegebenen Moment immer zwei Eigelb auf einmal" hinzuzufügen habe. Der Hobbykoch ignorierte die Empfehlung, gab alle sechs Eigelb auf einmal dazu - und das Ergebnis war mittelmäßig.
Am Sonntag darauf probierte er es noch einmal. Diesmal wollte er es besonders gut machen und fügte immer nur ein Eigelb hinzu. Das Ergebnis war schmeckbar besser. Dritter Sonntag und trotz Unwillens der des Soufflés überdrüssigen Familie ein dritter Versuch - diesmal je zwei, wie im Rezept vo
Rezept vorgesehen. Und siehe da, welch´ Wunder: Das Soufflé gelang perfekt. Der Wissenschaftler im Koch wollte prompt ergründen, warum das so war und stürzte sich "Hals über Kopf in das große Abenteuer der Molekulargastronomie".Dabei war alles im Grunde vorgezeichnet: Die Familie des studierten Chemikers und Literaturwissenschaftlers kommt aus dem Elsass, also einer der traditionellen Feinschmeckergegenden Frankreichs. Die Kunst des Kochens lernte This-Benckhard von seiner Mutter: Bereits mit sechs produzierte er angeblich die erste Torte; mit sieben verfügte er zu Hause über ein kleines Labor. Und während des Studiums stellte er fest, dass man in der Physik und in der Chemie ja eigentlich ähnliche Werkzeuge verwendet wie beim Kochen.Als sich Hervé This-Benckhard vor mittlerweile zehn Jahren der naturwissenschaftlichen Betrachtung der Kochvorgänge verschrieb, war er nicht der erste Naturwissenschaftler mit intensiven gastronomischen Interessen. Erst wenige Jahre zuvor hatte sein Oxforder Kollege Nicholas Kurti mit dem Aufsatz The Physicist in the Kitchen so etwas wie den Grundlagentext der modernen Molekulargastronomie verfasst. Und Kurti war es auch, von dem jener legendäre Satz stammt, den Hervé This-Benckhard immer wieder gerne zitiert: "Es ist absurd, dass wir über die Temperatur im Zentrum der Sonne mehr wissen als über jene im Inneren eines Soufflés."Der neue Forschungszweig etablierte sich rasch: 1992 fand in Sizilien das erste internationale Arbeitstreffen über molekulare und physikalische Gastronomie statt. Beim vierten Treffen 1999 ebenda ging es um "Essen und Geschmack" - mit dabei war unter anderem auch der französische Nobelpreisträger für Chemie aus dem Jahre 1987, Jean-Marie Pierre Lehn. Ein anderer Laureat, Pierre-Gilles de Gennes (Chemie 1991), hatte Hervé This an die renommierteste Adresse der französischen Wissenschaft geholt, das von Franz I. 1530 gegründete Collège de France.Dort können die besten Wissenschaftler Frankreichs in völliger Freiheit ihren Forschungen nachgehen - und sie quasi vor dem Volk vortragen, denn der Besuch der Vorlesungen ist allen zugänglich. Der Begründer der Elektrodynamik, André-Marie Ampère und der Chemie-Nobelpreisträger Frédéric Joliot Curie lehrten hier ebenso wie der Philosoph Michel Foucault oder, bis heute, der Soziologe Pierre Bourdieu. Der Literaturwissenschaftler Roland Barthes wurde vor dem Collège überfahren - nach einem Essen mit François Mitterrand.In einem abgelegenen Flügel im zweiten Stock des hellen Baus nahe dem Boulevard Saint-Michel befindet sich das von Jean-Marie Pierre Lehn geleitete Laboratorium für die Chemie molekularer Interaktionen. Das Zimmer von Hervé This war früher die Arbeitsstätte seines Chefs, der das künstliche Östrogen und damit die Pille miterfunden hat. Im dunkel möblierten Raum sieht es so aus, als ob seit einigen Jahren nicht mehr gründlich geputzt, dafür aber um so mehr experimentiert würde.Von Letzterem ist auszugehen: Seit der Molekulargastronom am Collège de France forscht, hat er Hunderte von Rezepten nachgekocht und analysiert - stets auf der Suche nach ihren Geheimnissen bzw. deren physikalischen und chemischen Erklärungen. Er hat so unter anderem auch die ideale Temperatur zum "Kochen" von weichen Eiern ermittelt (69 Grad Celsius - dann werde das Eiweiß nicht zäh, das Eigelb jedoch gerade fest.) Oder erforscht, wie man das perfekte Spiegelei kocht. Dazu braucht es erstens geklärte Butter (siehe Rezept). Und das Wissen, dass nur das an das Eigelb angrenzende Eiweiß zu salzen ist - um ein gleichmäßig gegartes Spiegelei zu erhalten."Pourqoui ça, Monsieur This?" Nüchtern betrachtet, seien Hühnereier nichts anderes als eine Mischung aus Proteinen und Wasser. "Beim Spiegelei erscheinen die Proteinmoleküle wie lange, vielfach gewundene Fäden, deren Struktur durch schwache intramolekulare Bindungen zwischen ihren Atomen bedingt ist. Salz oder Säure begünstigen das Garen von Proteinen in wässriger Lösung, weil ihre elektrisch geladenen Atome, die Ionen, sich zu jenen Proteinatomen hingezogen fühlen, die eine komplementäre Ladung haben. In Anwesenheit dieser Ionen haben es die Proteine leichter, sich zu entfalten, einander anzunähern und sich zu verbinden." Da nun die Proteine des dotterfernen Eiklars eher gerinnen als jene des dotternahen, salzt man eben dieses - voilà.This wäre kein Franzose, wenn er sich mit solchen Niederungen kulinarischen Tuns zufrieden geben würde. Zu den von ihm entschlüsselten kulinarischen Geheimnissen zählen unter anderem auch die Spanferkel-Herstellung (der Kopf muss ab, damit der Dampf schnell entweichen kann und die Kruste unbehelligt bleibt), pochierte Forellen (Thermometer verwenden, nicht über achtzig Grad Celsius erhitzen) oder cremiges Speiseeis (die Grundmischung vor dem Rühren auf null Grad Celsius abkühlen, um Kristallbildungen zu vermeiden).This hat aber auch neue Gerichte erfunden, ganz gemäß einer Sentenz seines großen Landsmanns Jean Anthelme Brillat-Savarin (1755-1826), der meinte: "Die Entdeckung eines neuen Gerichts ist für die Menschheit von größerem Nutzen als die Entdeckung eines neuen Gestirns." Brillat-Savarin, der wahrscheinlich größte Gastrosoph aller Zeiten, arbeitete weiland übrigens selbst mit einem Chemiker zusammen, um den wichtigsten Aromastoff des Fleisches zu bestimmen. Hervé This-Benckhard wichtigste Entdeckung ist die Neuerfindung der "Ente à l´orange", eines komplizierten und zeitaufwendigen Klassikers der französischen Küche - und zwar unter Zuhilfenahme neuer gastrochemischer bzw. -physikalischer Erkenntnisse sowie - schluck! - der Mikrowelle und einer Injektionsnadel (siehe Rezept).Trotz seiner mitunter profanen Methoden ist This, für den laut eigener Aussage der Blätterteig so bedeutend ist wie für andere Forscher der Urknall, in den höchsten Küchenkreisen Frankreichs ein angesehener Mann. Er trifft sich regelmäßig mit Pariser Spitzengastronomen; die Akademie der Künste und Wissenschaften vom Geschmack hat ihm eine Auszeichnung verliehen, und er ist stimmberechtigtes Mitglied der Nationalen Küchenakademie. Für die Franzosen, denen die Mayonnaise die Staatsreligion ersetzt, wie der Chefzyniker Ambrose Bierce einmal spottete, sind das wichtige Institutionen.This, der übrigens nachgerade Mayonnaisenspezialist ist und nebenbei die populärwissenschaftliche Zeitschrift Pour la Science redigiert, ist längst unter die Autoren gegangen. In seinen Kochbüchern der etwas anderen Art finden sich nicht nur nachkochbare Rezepte, sondern eben auch naturwissenschaftliche Erklärungen dafür, welche chemischen und physikalischen Reaktionen in den Töpfen und auf den Schneidbrettern ablaufen. Auch auf Deutsch liegen zwei seiner drei Werke vor; auf der Festplatte seines Laptops warten die Manuskripte von neun weiteren auf ihre Veröffentlichung.Maître This verfolgt mit seinen Forschungen und populären Vermittlungsbemühungen so letztlich einen aufklärerischen Ansatz. Es gehe auch darum, sich in gewisser Weise vom Kochbuch-Nachkochen zu emanzipieren. "Wenn Sie die allgemeinen Phänomene hinter den Rezepten kennen - die Prinzipien des Bratens, Dämpfens, Schmorens etc. -, dann können Sie auch Ihre eigenen Kreationen erfinden. Denn schon mit wenig Wissen lässt sich in der Küche Neues kreieren."Bestimmte Geheimnisse altbewährter Rezeptvorschläge hat der Molekulargastronom Hervé This-Benckhard allerdings bis heute nicht entschlüsselt. Warum man beispielsweise beim Roquefort-Soufflé am besten zwei und zwei Eier dazugibt, ist ihm noch immer ein Rätsel.Hervé-This-Benckhard: Rätsel der Kochkunst. Naturwissenschaftlich erklärt. Springer-Verlag, Heidelberg (...) 1996, 242 S., EURO 20,50 Hervé This-Benckhard: Kulinarische Geheimnisse. 55 Rezepte - naturwissenschaftlich erklärt. Springer Verlag, Heidelberg 1998. 333 S., EURO 20,50 Die Gesamttaschenbuchausgabe ist gerade im Piper Verlag, München erschienen. Vorspeise: Roquefort-Soufflé Zutaten: 80 g Roquefort 30 g Butter 50 g Mehl 6 Eigelb, 6 Eiweiß 25 cl Milch Salz, 1 Messerspitze Muskat, 1 Prise Cayennepfeffer 1. In einem kleinen Topf 80 g Roquefort und 30 g Butter bei milder Hitze schmelzen lassen. 2. Den Topf auf dem Feuer lassen und 45 g Mehl unterrühren. 3. Mit einem Viertel Liter kochender Milch verdünnen. Die Masse glatt rühren, dann salzen. Mit Muskat und Cayennepfeffer würzen. 4. Den Topf vom Feuer nehmen, die Masse etwas abkühlen lassen, dann die 6 Eigelb - am besten paarweise - zugeben. 5. Die 6 Eiweiß mit einer Prise Salz steif schlagen. Je steifer der Schnee, desto besser wird das Soufflé. Als Richtlinie für Festigkeit gilt: Eischnee sollte ein ganzes Ei in der Schale tragen können, ohne dass es einsinkt. 6. Den Eischnee unter die Roquefort-Masse heben. Das a und o des Soufflés sind die Bläschen des Eischnees. Sie müssen erhalten bleiben - also möglichst schonend unterheben. 7. Die Masse unverzüglich in eine gebutterte und bemehlte Form geben. Bis auf 2 Drittel der Höhe auffüllen. 8. Bei mittlerer Hitze (170 Grad Celsius) 20 Minuten backen. Hauptspeise: Ente à la Brillat-Savarin Zutaten für 6 Personen: 6 Entenkeulen 10 cl Cointreau Salz, Pfeffer, Thymian, Lorbeerblätter 20 g Butter 1. Den Cointreau mit etwas Salz in einer Schüssel verrühren; die kleingeschnittenen Gewürze beigeben und darin ziehen lassen. Weil der Cointreau ein Orangenlikör ist, braucht es für diese Ente à l´orange keine Orangen wie im Originalrezept. 2. Die Entenkeulen bei starker Hitze mit geklärter Butter in einer Pfanne anbräunen. Warum keine normale Butter? Ganz einfach: weil die aufgrund der Proteine bei zu starker Hitze unweigerlich schwarz wird. Um Butter zu klären, lässt man normale Butter bei milder Hitze einfach langsam schmelzen, dann entfernt man den Schaum auf der Oberfläche und gießt die Flüssigkeit vorsichtig vom Bodensatz ab, der aus Wasser und den ausgefällten Proteinen besteht. Warum das Fleisch nicht gleich in die Mikrowelle? Weil es sonst fad und unaromatisch würde: Mikrowellen erhitzen vor allem die wasserhältigen Zonen und daher von innen heraus. Gebratenes Fleisch hingegen ist deshalb so schmackhaft, weil an der Oberfläche des Fleisches durch die Erhitzung die so genannte Maillard-Reaktion stattfindet, die Aromamoleküle entstehen lässt. 3. Die gut gebräunten Entenkeulen mit Küchenkrepp abtupfen. Das Fett braucht man ab jetzt nicht mehr! 4. Die Cointreau-Mischung filtern und - jetzt kommt´s - in eine möglichst dicke Injektionsspritze füllen. Damit an mehreren Stellen in die Entenkeulen spritzen. 5. Die Entenkeulen einige Minuten in die Mikrowelle geben. Nachspeise: Madeleines Zutaten (für ein Dutzend Madeleines) 100 g Butter 100 g Puderzucker 40 g Mehl 40 g geriebene Mandeln 3 Eiweiß 1 EL Orangenblütenwasser Die Butter klären und abkühlen lassen. Das Mehl mit dem Zucker durchsieben. Die geriebenen Mandeln darunter mischen. Die Eiweiß steif schlagen. Die Mandel-Mehl-Zucker-Mischung zum Eischnee geben. Leicht schlagen, dann die geschmolzene Butter und das Orangenblütenwasser einarbeiten. Den Teig in Madeleineförmchen verteilen, eine Stunde im Kühlschrank ruhen lassen, dann 15 Minute bei mittlerer Hitze backen (190 Grad Celsius). Quelle: Hervé This-Benckhard: Kulinarische Geheimnisse. 55 Rezepte - naturwissenschaftlich erklärt
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