Epos Tour

Sportplatz Drei Wochen dauert die Tour de France, sie besteht aus zwanzig Etappen, die durch ganz Frankreich führen, wozu sowohl die Alpen als auch die Pyrenäen ...

Drei Wochen dauert die Tour de France, sie besteht aus zwanzig Etappen, die durch ganz Frankreich führen, wozu sowohl die Alpen als auch die Pyrenäen gehören. Doch es ist mehr als nur die französische Geographie, die radfahrend sich erschlossen wird. "Die Tour verfügt über eine echt Homerische Geographie", schrieb schon 1957 der französische Semiologe Roland Barthes. "Wie in der Odyssee ist das Rennen zugleich eine Rundreise mit Prüfungen und eine vollständige Erforschung der irdischen Grenzen." Jede einzelne Etappe bildet für Barthes "die Einheit eines Romankapitels", genauer: "Es handelt sich tatsächlich um einen epischen Zeitverlauf, um eine Addition von absoluten Krisen und nicht um das dialektische Fortschreiten eines einzigen Konflikts im tragischen Verlauf." Das Thema dieses großen Romans, der sich alljährlich im Juli in Frankreich entwickelt, ist, dass der Fahrer "in der Natur eine lebendige Umgebung (findet), mit der er in der Beziehung von Ernährung und Unterwerfung steht." In diesem Jahr wird sich der Roman - in seiner 88. überarbeiteten und aktualisierten Neuauflage - über 3456 Kilometer erstecken. Das erste Kapitel, auch offiziell "Prolog" genannt, fand am vergangenen Samstag in Dünkirchen statt, ein einfaches, Spannung erzeugendes Einzelzeitfahren über 8,2 Kilometer, das die Besten mit beinahe 53 Stundenkilometern im Durchschnitt bewältigten. Auch in diesem Jahr wird die moderne Odyssee mit Doping-Razzien zu rechnen haben. Der Staat, verkörpert durch eine kommunistische Sportministerin, wird versuchen, den mythischen Charakter der Tour zu beweisen oder zu widerlegen - je nach Blickwinkel. "Elemente und Gelände werden personifiziert", schreibt Barthes, "denn der Mennsch misst sich mit ihnen, und wie in jedem Epos ist es wichtig, dass der Kampf gleiche Kräfte gegenüberstellt: Der Mensch wird also naturalisiert, die Natur humanisiert." Der für die Tour de France naturalisierte Mensch ist plötzlich einer, der über einen reinen und sauberen Körper verfügt, wie es die Gegner des Dopings verlangen. Legte Karl Marx noch Wert darauf, dass sich der Mensch vom Tier unterscheide, weil er seine Lebensmittel von Menschenhand produziere, so beharrt das Epos Tour de France darauf, dass die Fahrer natürlichen Ursprungs sind, natürliche Nahrung zu sich nehmen und sich überhaupt den Naturkräften als gleichwertige Gegner entgegenstellen.

Doch das Epos Tour ist, bei aller Beschwörung von Naturkräften und bei allem Verlangen, dass die Akteure über kräftige Körper ohne evolutionshistorischen Bezug verfügen, immer eine kapitalistisch geprägte Angelegenheit gewesen. Seine Gründung verdankt die Tour einer Werbeidee der Zeitschrift L´Auto, deren Nachfolgerin L´Equipe wurde. Die Tour wuchs von Jahr zu Jahr, sie wurde Ausdruck der Globalisierung des Sports und damit auch der Globalisierung der Märkte. Die Etappen der Tour reduzierten sich, wie auch die Länge der Arbeitstage historisich verkürzt wurde; die Intensität der Belastung freilich verstärkte sich für die Fahrer. 1997 erschienen in etlichen französischen Zeitungen ganzseitige Anzeigen: "Um Hunderte von Millionen Menschen auf der ganzen Welt ein immer größeres und leidenschaftlicheres Spektakel erleben zu lassen, haben die vier großen Namen, die den Club du Tour de France bilden, ihre Kräfte vereint, damit auch 1997 die schöne Liebesgeschichte weitergeht." Die vier großen Namen waren die Hauptsponsoren Coca Cola, Fiat, die Supermarktkette Champion und die Bank Crédit Lyonnais, die Liebesgeschichte war ihr Geschäftsinteresse. Die Frankfurter Allgemeine beschrieb den ökonomischen Hintergrund des Mythos Tour de France deutlich: "Es ist das Unternehmen Tour, das an seinen Legenden arbeitet. Sie sind Teil ihrer corporate identity, Erinnerungen gehören zum Marketing." Das Epos unterliegt, wie literarische Werke auch, den Marktgesetzen und muss sich verwerten. Die Tour de France ist mit all ihrem Symbolgehalt, der sich jedes Jahr im Juli materialisiert, eine gigantische Erzählung des 20. Jahrhunderts. Ob sie nennenswert ins 21. Jahrhundert hineinwirken wird, entscheidet sich in den nächsten Jahren. Roland Barthes jedenfalls gibt ihr gute Chancen: "Die Tour besitzt eine zweideutige Moral: die ritterlichen Verpflichtungen mischen sich unaufhörlich mit den brutalen Mahnungen des reinen Erfolgsdenkens." Die Tour de France als Epos - wer´s nicht glaubt, kann es freilich auch mit Rudolf Scharping halten: "Die Tour ist überhaupt eine unglaubliche Belastung".

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