Die Regierung in Ankara geht zur Tagesordnung über und ergreift nach dem Referendum die notwendigen Maßnahmen auf ihrem Weg zum Präsidialsystem. Schon bald ist mit einer massiven Einschränkung der Gewaltenteilung und -verschränkung zu rechnen. Die Verfassungsänderung stattet den Präsidenten mit weitreichenden exekutiven Vollmachten aus – er kann nun hohe Staatsbeamte direkt ernennen und über die Besetzung des Obersten Gerichts entscheiden, ohne das Parlament zu befragen.
Dass beim Referendum angesichts der Skepsis in national-konservativen Bevölkerungsteilen und des Konjunktureinbruch nur ein knappes Ja rauskam, hat Gründe, die darüber hinausgehen. Zunächst ist Erdoğans Taktik, die Volksbefragung zu einer Art Akklamatio
agung zu einer Art Akklamation für seine Person und Regierung zu stilisieren, aufgegangen. Während der Wahlkampagne wurde kaum eine Debatte über den Inhalt der Verfassungsrevision geführt, stattdessen die bisherige „Leistung“ der Regierung und Erdoğans hervorgehoben. Viele verstanden das Referendum als Aufforderung, diese Bilanz gutzuheißen oder abzulehnen.Zudem fanden die Kampagnen und das Referendum selbst unter dem Ausnahmezustand und bei einer Behinderung der Opposition statt. Während der national-islamische Machtblock bei seinen Auftritten großzügig auf die staatlichen Infrastrukturen und Mittel zurückgreifen konnte, fanden Vertreter der Opposition kaum Gehör in den Mainstream-Medien. Ihnen wurde Nähe zum Terrorismus unterstellt, und sie wurden bei der Organisation von Veranstaltungen behindert. Es fand kein fairer Wahlkampf statt und der gescheiterte Putschversuch sowie die chaotischen Zustände danach sorgten für eine Atmosphäre, welche das Bekenntnis zu Erdoğan Sicherheitspolitik und zu ihm persönlich als starker Führungsfigur begünstigten. Schließlich beklagten Bürger und zivilgesellschaftliche Akteure Wahlfälschungen, die bei dem knappen Ergebnis ausschlaggebend gewesen sein könnten. Solidarisierung bei Deutsch-TürkenIm Gegensatz zur Türkei fiel die Zustimmung der Deutsch-Türken für die Verfassungsänderung stärker aus, was bis zur Stunde in der Öffentlichkeit und in den Medien für Irritationen sorgt. Gefragt wird, warum viele Deutschtürken ihr Heil bei Erdoğan sehen, der während der Wahlkampfphase gegenüber Deutschland einen klaren Konfrontationskurs einschlug. Zwei Gründe scheinen ausschlaggebend gewesen zu sein. Unbehagen unter den Deutsch-Türken über die Positionierungen deutscher Politiker gegen die Verfassungsänderung, worin viele eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten und eine Verletzung der türkischen Souveränität sahen. Doch gab es wohl auch das Bedürfnis, aus Trotz mit einem Ja zu votieren. Nicht zuletzt die Absage von Verfassungsmeetings türkischer Politiker dürfte einen Solidaritätseffekt unter Türkeistämmigen ausgelöst haben.Kritik am Abstimmungsverhalten der in Deutschland lebenden Türken ist verständlich, nur sollte sie nicht dazu führen, dies als Ausdruck mangelnder Integrationsbereitschaft zu deuten oder gar als Vorwand für eine Ausgrenzung zu missbrauchen.Sowohl die, die an der Wahl teilnahmen, als auch diejenigen, die mit einem Ja gestimmt haben, machen nur einen Teil der türkeistämmigen Mitbürger aus. Ob sich dieser Wahlerfolg nun als Pyrrhussieg für Erdoğan herausstellen wird, wie einige Kommentatoren es prognostizieren, bleibt abzuwarten. Das knappe Ergebnis wird es für ihn schwierig machen, den nationalkonservativen Machtblock aufrechtzuerhalten. Wahrscheinlich ist, dass er statt einer Politik der Aussöhnung und des Ausgleichs weiter auf Machtsicherung durch Polarisierung setzen wird. Erdoğan hat bereits ein neues Referendum über die Einführung der Todesstrafe und die Beitrittsgespräche in Aussicht gestellt. Zudem wurde der Ausnahmezustand um weitere drei Monaten verlängert.Frage der RationalitätDoch können die Gesellschaft und Wirtschaft eine angespannte politische Atmosphäre noch verkraften? Nur die prekäre Wirtschaftslage, schwächelnde Konjunktur und Einbruch in der Tourismusbranche könnten Erdoğans Politik der Polarisierung Grenzen setzen. Eine Fortsetzung des repressiven Kurses wird die Türkei von Europa wegrücken und für ein negatives Investitionsklima sorgen, was auch die Zustimmung für Erdoğan schwächt, der sich in zwei Jahren erneut zu Wahl stellen muss. Auch ein Zuschlagen der Tür zur EU würde die türkische Außenpolitik arg in Bredouille bringen. Für eine Türkei, die mit der EU bricht, wird es äußerst schwierig sein, für sich eine Führungsrolle als nahöstliche Ordnungsmacht zu beanspruchen und sich als Energiekorridor zwischen Asien und Europa anzubieten.Es bleibt abzuwarten, ob Erdoğan sich weiterhin über innen- und außenpolitische Rationalität hinwegsetzend mit einer kompromisslosen Politik der Machtsteigerung fortfährt und so an die Wand fährt, oder doch eine politische Korrektur vornimmt wie beispielsweise im Falle der pragmatischen Annäherung an Russland und Israel. Ein Reform- und Demokratiekurs ist freilich wegen der Allianz mit den Nationalisten nahezu ausgeschlossen, eine Kooperation mit der kurdischen Bewegung auch nicht einfach zu bekommen. Dass er aufgrund seiner Machtfülle politische Fehlentwicklungen nicht mehr der „bevormundenden“ Bürokratie anlasten kann, wird ihm das Regieren jedenfalls nicht einfacher machen.