Erfahrung ohne Öffentlichkeit

Im Gespräch Lars Henrik Gass, Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen, über die Veränderung von Kino und Gesellschaft im Zeitalter der DVD

FREITAG: Spekulationen über das Ende des Kinos gibt es seit zwei Jahrzehnten. Sie haben in letzter Zeit viel über die Bedingungen von Filmöffentlichkeit und die Veränderungen unserer Kultur durch neue Medien wie die DVD geschrieben. Gibt es denn jetzt eine Zuspitzung?
LARS HENRIK GASS: Serge Daney beschrieb schon Ende der siebziger Jahre, wie das Filmbild von etwas Visuellem abgelöst wird. Heute, durch den Siegeszug der DVD, sind die Konsequenzen viel deutlicher erkennbar, erst recht durch das Verhalten der Verleiher, die versuchen sich auf Kosten der Kinos von der derzeitigen Krise schadlos zu halten. Die Kinoauswertung eines Films wird immer kürzer, der Vertrieb läuft immer stärker über DVD. Und das ist nur der Anfang. Die DVD ist wahrscheinlich nur eine Übergangsform hin zu einer datenträgerlosen individuellen Auswertung. Was passiert mit dem Film, wenn ich ihn aus dem Kino, der Kollektivrezeption herausnehme und in den privaten Raum versetze? Er wird mittels Pausenmöglichkeit, Vorspulen, Überspringen einem individuellen Zeitbedürfnis und Zugriff unterworfen, der schon das vom Fernsehen her vertraute Zapping regiert. Der Film wird in dem Moment ein anderer sein, wenn ich ihn, allein in meinen privaten Raum, manipulieren und unterbrechen kann, statt im Kino, in diesem dunklen Raum, zu einer Wahrnehmung gezwungen zu sein, die nicht meine eigene ist.

Seit einiger Zeit bringt der Filmkritiker Enno Patalas wissenschaftliche DVD-Editionen von Klassikern wie "Metropolis" oder "Panzerkreuzer Potemkin" heraus. Man kann, während man den Film schaut, zugreifen auf Fußnoten, sehen und hören, was Filmmusikkomponisten oder Production-Designer sich bei ihrer Arbeit dachten. Patalas betont, keinerlei Probleme mit dieser Art des den Filmfluss brechenden Zugriffs zu haben, weil sowieso jeder einen eigenen Film sähe und von Filmen viele Versionen existierten, nicht die eine gültige.
Mit Sicherheit kann die DVD dazu beitragen, alten, unzugänglichen Filmen neue Sichtbarkeit zu verleihen. Beschädigt wird aber die Rezeption des Films. Jean Louis Schefer sagt, ein Film sei nicht Gegenstand von Denken, sondern selber ein Denken. Das Originäre am Kino ist, dass dieses andere Denken sich an ein Kollektiv richtet, das zur Betrachtung gezwungen ist. Dieses andere, alternative Leben, das ihm der Film zu bieten hatte, das erschloss sich ihm allein durch das Kino, dass ihm keine Wahl ließ. Dadurch, dass ich den Film in ein manipulierbares Derivat, eine DVD oder ähnliches, übersetze, wird die Kollektivrezeption mit weit reichenden Folgen zum Verschwinden gebracht. Selbst wenn man Walter Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit heute mit kritischem Abstand betrachtet, so muss man doch feststellen, dass er Kino nicht lediglich als ästhetisches, sondern als gesellschaftliches und politisches Phänomen versteht. Das neue Medium ermöglicht neue Wahrnehmungsformen und ist daher "fortschrittlich".

Ihre Verknüpfung von Kino und politischer Bewusstseinsbildung überrascht. Bei seinem Aufkommen ist der Kinozuschauer von intellektueller Seite als ein still gestellter, passiver Konsument gesehen worden. Die Vita Contemplativa, lange Zeit Privileg des Adels, das Zeit haben für Betrachtung und Reflexion, fällt den Massen zu. Nur, dass sie es auf analyseferne, oberflächliche Art praktizieren.
In den ersten Jahrzehnten der Filmtheorie war man sich zumindest darin einig, dass das Kino einen radikalen Angriff auf die klassischen Künste darstellt. Als einer der ersten erkannte Benjamin, welch gewaltiges gesellschaftliches Potential darin steckt, dass das Kino geeignet war, der Wirklichkeit ihren Kultstatus zu nehmen. Die Passivität und Zerstreuung des Kinozuschauers, dieses Sich-Ausliefern an ein anderes Denken, ist eine wirklich neue, bis heute einzigartige, kritische und vielleicht auch politische Form der Wahrnehmung.

In Ihren Texten scheint es, als betrete mit den neuen Medien ein neues, sehr einsames Subjekt die historische Bühne. Öffentlichkeit verschwindet. Können Sie einmal definieren, was Öffentlichkeit ausmacht?
Ich denke, dass man die von mir beschriebene Entwicklung im Zusammenhang mit einem Verfall von politischer Kultur insgesamt betrachten muss. Das Subjekt vor einem DVD Player ist das gleiche wie das politische Subjekt der westlichen Demokratien, das alle vier, fünf Jahre sein Kreuz machen darf. Das ist eine Wahl, die eigentlich keine ist, eine Öffentlichkeit, die keine mehr ist.

Klassische Öffentlichkeit ist, dass Menschen sich leibhaftig treffen, ihre Erfahrungen austauschen, sich über ihre Wirklichkeit verständigen, ein gemeinsames Bewusstsein herstellen. Würden Sie sagen, diese Herstellung von gemeinsamem Selbstbewusstsein wird durch neue Medien verunmöglicht?
Was aktuell im Internet an Gemeinschafts-Phänomenen zu beobachten ist, versucht individuellen Anliegen und Bedürfnissen nach Kommunikation zu entsprechen; das ist gut und wichtig, aber auch ein wenig exhibitionistisch. Auch in den prominenten Foren wie Youtube trifft der Befund zu, dass mir eine Wahl mehr suggeriert wird, als dass sie stattfindet. Ständig geht es bloß darum, Best-Of-Listen von allem Möglichen zu erstellen. Vergleiche ich das mit der kinospezifischen Kollektivrezeption, in der ich mich einer Wahrnehmung auslieferte, dann wird hier das Subjekt reduziert auf eine entpolitisierte Form der Teilnahme.

Es scheint, die von neuen Medien bedingte Vereinzelung entspricht vorhandenen Bedürfnislagen. Kritische, verantwortliche Selbstreflexion des Einzelnen oder der Gesellschaft ist anstrengend. Die Attraktivität neuer Medien besteht darin, davon zu entlasten, zu suggerieren, über alles zu verfügen.
Man kann sagen, der öffentliche Raum ist dadurch bestimmt, dass Öffentlichkeit nicht mehr vorkommt. Zur Öffentlichkeit gehört ja, dass sich ein Kollektiv kommunikativ erfährt. Sich anders als auf sich selbst zurückgefallen zu erleben, ein gemeinsames, Verhältnisse veränderndes Handeln, politische Selbstorganisation, das wird nicht mehr in einem Kollektiv wahrgenommen. Während einer WM wird das Kollektiv auf gewisse Intensitäten, auf Nation hin ausgerichtet, aber, bei aller Wertschätzung von Fußball, das sind eher Phänomene, in denen das Kollektiv regrediert, nicht um Formen alternativer Wahrnehmungen.

Mit PC und DVD wachsen jüngere Generationen ganz selbstverständlich auf. Für die ist Ihre Emphase fürs Kino womöglich unverständlich, Fossil aus der Kreidezeit.
Ich stelle tatsächlich fest, meine Position ist eine sehr traditionelle. Gleichwohl ist sie nicht konservativ. Neulich hatte ich ein Gespräch mit einer Kollegin, die die Auffassung vertritt, ihre Experimentalfilme lieber in einem Foyer mit 300 Leuten zeigen zu wollen als in einem Kino, wo nur 30 Leute sie sehen. Ich bin vollkommen anderer Auffassung. Mit diesem Schritt begibt man sich in diesen sehr zeitgemäßen Kulturbetrieb hinein, in dem alles irgendwie bunt und bewegt ist, wo man sich allerdings fragen muss, ob ein alternativer Wahrnehmungsentwurf überhaupt noch Geltung erlangt. In Oberhausen haben wir immer am Kinosaal festgehalten, am projizierten Bild, am höchsten technischen Darbietungsniveau, gewährleistet, dass ein Film seinen Wahrnehmungsentwurf, seine spezifische Wirkung entfalten kann und seine eigene kleine Öffentlichkeit schafft.

Sie sehen Filmfestivals als ideale Öffentlichkeit des Films. Was passiert beziehungsweise sollte dort passieren?
Auch bei den Festivals sehe ich die Gefahr, dass sie als Teil der Kulturindustrie agieren, Inhalte auf immer einfachere Darreichungsformen reduzieren, keine wirkliche Auseinandersetzung befördern. Hatten Festivals früher eine dezidiert markorientierte Rolle, spielen sie heute Inhalte ab, die keine weitere Auswertung erfahren; sie sind deren Endstation. Zugleich nimmt die Anzahl der Festivals rapide zu. All das versetzt die Festivals eigentlich in eine neue Rolle, der sie bislang allerdings unzureichend folgen, nämlich zu leisten, was bislang Aufgabe von Kino und Fernsehen war: der Gesellschaft eine Begegnung mit Inhalten zu ermöglichen, die sonst nirgendwo zugänglich sind. Man müsste das gesamte Fördersystem, die gesamte Auswertungspraxis von Film neu ausrichten, sagen, nicht Kino und Fernsehen, sondern Festivals stellen den zentralen Kommunikationsmodus für Filme dar.

Nun sind Festivals von kulturpolitischen Interessen, Mäzenatentum und Verwaltungslogik mitbestimmt. Wie könnten sie unter den herrschenden Bedingungen zum inhaltsbestimmten, gesellschaftliche (Selbst-) Reflexion ermöglichenden Ort werden?
Ich denke, dass die Festivals etwa durch andere Standards der Vorführung reagieren müssen. Mit Vorführung ist nicht allein die Projektion gemeint, sondern die Kontextualisierung von Arbeiten, dass dem Publikum etwas an die Hand gegeben wird, um ein historisches oder aktuelles Werk zu verstehen. Es geht darum, kulturelle Bildung zu ermöglichen, nicht abzuspielen. Eine gewisse Reduktion, einen gewissen Purismus, wie er bei der Duisburger Filmwoche praktiziert wird, wo der Diskussion eines Filmes der gleiche Rang eingeräumt wird wie dem Film selbst, finde ich gut. Die Situation, wie wir sie häufig auf Festivals erleben, ist, dass man sich, wie auch sonst in der Informationsgesellschaft, zu verlieren droht, so dass Strategien der Fokussierung wirklich Not tun. Auch wir in Oberhausen stecken hier noch im Anfang. Wir befinden uns in einer historischen Umbruchsituation, in der wir fragen müssen, wie Festivals neue gesellschaftliche Aufgaben wahrnehmen, Öffentlichkeit erzwingen können. Und der rapide Zuwachs an Festivals zeigt doch, dass es in der Gesellschaft ein Bedürfnis nach anderen Inhalten gibt, nach einer alternativen Wahrnehmung.

Wie für Oper und Theater wären fürs Kino gesellschaftliche Schutzräume zu organisieren, Zoos, Museen für Kunstformen, unterdrückte, verdrängte, Wahrnehmungen, Sehnsüchte, Gerechtigkeitsforderungen, die dort, einigermaßen in Ruhe gelassen von Antrieben des Marktes, einen Ort haben. Das hieße zugleich, unsere Gegenwart, von neuen Filmen verhandelt, würde direkt ins Museum gestellt.
Mit der Musealisierung geht natürlich immer die Gefahr einher, dass Kunst ihre gesellschaftliche Notwendigkeit verliert. Deshalb halte ich Festivals für eine großartige Möglichkeit, die Musealisierung des Kinos zu verhindern, wie es auch gängige Theaterpraxis gegenüber den Texten sein sollte. Es ist wichtig, soziale Räume zu bewahren, in denen eine abweichende Wahrnehmung von Realität möglich bleibt.

Das Gespräch führte Michael Girke

Lars Henrik Gass, geboren 1965 in Kaiserslautern, ist seit Oktober 1997 Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen. Er studierte Literatur- und Theaterwissenschaften sowie Philosophie und schrieb seine Dissertation über die französische Schriftstellerin und Filmemacherin Marguerite Duras. Von 1996 bis 1997 war er Geschäftsführer des Europäischen Dokumentarfilm Instituts in Mülheim an der Ruhr.

Die Kurzfilmtage Oberhausen finden dieses Jahr vom 3.-8. Mai statt.


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