Berlin, Herbst 2021, in einem Paralleluniversum: Die Verhandlungen zwischen SPD, Grünen und Linken schreiten voran. Gewiss: Nachdem die Sozialdemokratie mit 23 Prozent durchs Ziel gegangen ist, die Grünen mit 19 und die Linkspartei mit 10 Prozent, während die Union 24, die FDP 11 und die AfD 9 Prozent bekam, gäbe es auch andere Konstellationen. Die Welt klagt über den „doppelten Tabubruch“, die Linke einzubinden und zugleich mit dem Gewohnheitsrecht der Zweitstimmensiegerin auf die Regierungsspitze zu brechen. Doch die Bevölkerung sieht das laut Spiegel-Umfrage anders. Zu lange habe sich Rot-Grün-Rot schon angekündigt, resümiert das Nachrichtenmagazin.
Genug geträumt. Die Pleite der Linken enthebt Rot und Grün der Mühe,
und Grün der Mühe, sich zu einem solchen Bündnis auch nur zu äußern. Nun muss die Linke aus ihrem Desaster lernen, und bisher klingt das nicht gut: In der Partei kursieren bereits zwei prominentere Vorstöße, jetzt den Endkampf mit Sahra Wagenknecht zu suchen – einer von einer Gruppe migrantischer Parteimitglieder, der andere vom Bundesgeschäftsführer Jörg Schindler. Ansonsten gibt es verstreute „inhaltliche“ Wortmeldungen, die auf mehr „Klimaprofil“ und weniger NATO-Kritik abzielen.Nun ließe sich natürlich schon zu jenen so simplen wie erwartbaren beiderseitigen Schuldzuweisungen viel sagen. Und mehr noch zu der Vision, grüner als die Grünen werden zu wollen. Längerfristig wird eine Art Parteireform nötig sein – und auch jene „Programmdebatte“, wie sie an dieser Stelle vergangene Woche Moritz Kirchner empfahl (der Freitag 40/2021). Doch auf kürzere Sicht braucht die Linke nichts weniger als diese Debatte. Derzeit würde jede grundsätzlich „inhaltliche“ Debatte mit jenen Aversionen und Machtkämpfen so toxisch reagieren, dass nicht viel zum Reformieren übrig bliebe.Hat der verlorene Wahlkampf nicht gezeigt, dass das konkrete Problem zunächst woanders liegt als bei den „Inhalten“? Nämlich auf der Ebene zwischen Personal und Programm, also in der Strategie? Die dauererregte Partei war so sehr mit ihrem internen Dauerkatastrophen-Management beschäftigt, dass sie es nicht zuwege brachte, frühzeitig – spätestens anno 2020 – die Landschaft nüchtern daraufhin zu sondieren, mit welchem „Inhalt“ sie sich in diese klug einbauen könnte.Richtig war es, auf eine Regierungsbeteiligung zu setzen. Wer Forderungen hat, muss irgendwann eine Umsetzungsperspektive bieten – und die Chancen standen gut, weil die Überfigur Angela Merkel ihre Nachfolge nicht geregelt hatte. Kaum einen Gedanken scheint die Linke-Führung aber daran verschwendet zu haben, wie sich ein solches Bündnis praktisch vorbereiten ließe. Seine Schwierigkeit besteht ja weit weniger auf inhaltlicher Ebene, wie vor der Wahl selbst die bürgerlichen Zeitungen feststellten. Sondern als emotionales Problem, zumal zwischen der Sozialdemokratie und ihrer verfeindeten Stiefschwester. Und stand nicht im Vorwahljahr die Chance auf eine rot-rote Lockerungsübung so sichtbar im Raum wie ein pinker Elefant?Seit April 2020 sagten Linke-Chef Bernd Riexinger und das Vorsitzpaar der SPD zu einem zentralen Thema das Gleiche: Die Kosten der Corona-Krise seien durch eine Vermögensabgabe zu finanzieren. Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken – gegen Olaf Scholz gewählt – wurden dafür intern angegriffen. Wäre das nicht eine Gelegenheit gewesen, eine Brücke zur SPD-Basis zu bauen? Man hätte – etwa über den gut vernetzten Berliner Kultursenator Klaus Lederer – versuchen können, eine Art Prominenten-Plattform anzustoßen, die parteifern genug ausgesehen hätte, dass sich auf ihr die SPD- neben die Linken-Führung hätte stellen können und auch für progressive Grüne Platz gewesen wäre – besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen. Daraus hätte so etwas wie eine praktische Basis für Rot-Grün-Rot werden können. Doch stattdessen ließ die Linke ihre beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung bestellte Modellrechnung, nach der eine Abgabe für nicht einmal das reichste Bevölkerungsprozent in 20 Jahren 310 Milliarden einbrächte, im November 2020 in den Kurzmeldungen verpuffen.Beste Chancen vergeigtSo wurde nicht nur eine Chance auf eine konkrete Annäherung in Sachen Mitte-Links versemmelt. Sondern auch ein Ansatz dafür, das gesellschaftliche wie innerparteiliche Spaltungspotenzial der Pandemiepolitik ein Stück weit nach vorn aufzulösen. Wie gesagt: An „Inhalt“ mangelte es hier nicht. Wer hartnäckig googelt, findet etwa das Papier „Solidarisch aus der Krise“, in dem man viel Richtiges liest. Doch wer erfuhr davon? Die Strategieschwäche korrespondiert mit einer seltsamen Kampagnenunfähigkeit. Auf ungute Weise ergänzen sich ein bürokratischer Politikstil, dem außer Plakaten nicht viel einfällt, und ein poststudentischer Fetisch für „Bewegungen“, die das Außenbild der Partei stark prägen, aber zuweilen Urnengift sind. Im Ergebnis verzettelt man sich – und neigt zu einem negativen Auftritt.Eine Partei wie die Linke muss auch diversen progressiven, minoritären Agenden Raum bieten. Doch ihre überzogene Orientierung an „Bewegungspolitik“ förderte die internen Steitigkeiten. Annalena Baerbock liegt – nicht erst seit gestern – in Sachen Migration auf einer Linie mit Sahra Wagenknecht, wenn nicht rechts davon. Und doch behaupten viele Progressive die Unwählbarkeit der Linken „wegen Wagenknecht“. Auch weil zu viele Partikular-Agenden zu einflussreich sind, wurde die Regierungsbeteiligung zunächst hauptsächlich in Hinsicht darauf diskutiert, bei was man nicht mitmacht – während es gegen Ende dann so aussah, als werde eine panische Führung fast jede Kröte schlucken. Das Wahlvolk will aber das Positive hören: Was genau will man denn durchsetzen?Neben dem Mindestlohn bot sich dafür die Mietpolitik an – was erkannt wurde, auch wenn hier nach dem Scheitern des Berliner Deckels ein konzentrierterer, sachkundiger wirkender Auftritt geholfen hätte. Ein drittes naheliegendes Thema wurde indes verschlafen: die Rente.Echt jetzt? Gähn! Mitnichten. Unabhängig von Gender und Herkunft lernen im vierten Lebensjahrzehnt sehr viele, die weder erben noch verbeamtet sind, die jährlichen Drohbriefe der Rentenversicherung zu fürchten. Strategisch hat das Thema den Vorteil, dass die Mitte-links-Parteien hier alle seit Jahren zumindest ähnlich blinken – nämlich freie Berufe und Verbeamtete ins System zu holen. Mit der Union geht das nicht, und vermutlich auch nicht mit der FDP. Wie wäre es da gewesen, wenn die Linke genau das zu ihrem Regierungsprojekt erklärt und sorgfältig vorbereitet hätte: den Einstieg in eine echte Einheitskasse à la Österreich? Dort sind die Durchschnittsrenten um Hunderte Euro höher. Die Partei hätte nicht länger nur wie eine Kraft gewirkt, die vielleicht das Schlimmere verhindert – sondern wie eine, die etwas konkret Lebensveränderndes bringt.Zudem hätte die Partei ja eine Person, die das Bohren eines solchen bürokratischen Bretts organisieren und verkaufen könnte. Mit einem frühzeitig zugeordneten, konkreten und hervorgehobenen Job hätte sich vielleicht Sahra Wagenknecht konstruktiv einbinden lassen.Die Linke braucht zumindest jetzt keine Programmdebatte, sondern eine pragmatische Priorisierung ihres ausufernden Forderungspools nach den Kriterien der Machbarkeit und des strategischen Werts, eine – schreckliches Wort – „projektbezogene“ Neuaufstellung.Womit wir in unsere Presseschau aus Fantasia-Schland zurückschalten, wo die kluge Vorbereitung des Mitte-links-Bundes durch die kleinste Partnerin in hohen Tönen gelobt wird. Dass die Zeit aus Verlagskreisen erfahren haben will, dass Wagenknecht im Frühjahr kurz davor gestanden habe, mit einem weiteren Buch gegen die „Lifestyle-Linke“ zu polemisieren, ist dort hingegen nur eine skurrile Randnotiz.