Erst das Verbot macht das Sexuelle groß

Im Gespräch Der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch über neue Lustlosigkeit, alte Perversion und die Paradoxien der Liebe im Kapitalismus

Freitag: In einer kürzlich veröffentlichten Umfrage bekannten 20 Prozent der Befragten, in einer Liebesbeziehung ohne Sex auskommen zu können, und immerhin zwölf Prozent gaben an, dass ihnen Sex nicht oder nicht so wichtig sei. In psychologischen Zeitschriften wird immer wieder geklagt, auch bei Paaren, unabhängig von der sexuellen Orientierung, nehme das sexuelle Desinteresse zu. Ist die neue Lustlosigkeit ausgebrochen, und halten Sie das für ein alarmierendes Zeichen? Volkmar Sigusch: Alarmierend finde ich das nicht, weil ich denke, das hat es immer gegeben, nur leben wir jetzt in einer Kultur, in der man sich zu seiner Lustlosigkeit bekennen kann. Man muss sich nicht mehr dafür schämen, wie das sicher noch zu Zeiten der so genannten sexuellen Revolution gewesen wäre.

Sexualität wird also nicht mehr mit Glückserwartungen überfrachtet und insofern normalisiert?Normalisierung ist in diesem Zusammenhang gar kein schlechtes Stichwort. Man muss sehen, dass die Überhöhung der Sexualität, wie wir sie kennen, vor 200 oder 300 Jahren installiert, man kann sagen, mit Hilfe der entsprechenden Wissenschaften sogar konstruiert worden ist. Mittlerweile haben sich realistischere Erwartungen durchgesetzt, wir haben gelernt, was man von Sexualität bekommen kann - und oft ist es erschütternd wenig, es ist schmerzhaft oder sogar beängstigend. Deshalb kann man aus verschiedensten Motiven zur Auffassung kommen, dass man eben keine Sexualität will.

In den sechziger und siebziger Jahren war Sex ein Synonym für Befreiung zur Lust. Mittlerweile hat man das Gefühl, dass der Zwang zur Lust eine Last geworden ist.Das Bombardement von sexuellen Außenreizen - praktisch jede Reklame arbeitet damit - ist tatsächlich zu einer Belästigung geworden. Und die ständige Aufforderung, sexuell aktiv zu sein, kann schon zur Last werden. Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als die Pille aufkam und junge Mädchen genötigt wurden, Geschlechtsverkehr zu haben, obwohl die daran überhaupt noch kein Interesse hatten. Das hat sich mittlerweile geändert, die Menschen ordnen sich bestimmten Gruppen mit bestimmten Neigungen zu, der Druck auf den Einzelnen ist geringer geworden.

Ist der Frust mit der Lust eine Erfahrung, die vor allem die einstigen, nun in die Jahre gekommenen Träger der sogenannten sexuellen Revolution machen? Das heißt, handelt es sich eher um eine Enttäuschungsgeschichte oder hat sich auch bei Jugendlichen die Haltung zur Sexualität verändert?Für die Jugendlichen kann man recht verbindliche Aussagen machen, weil es dafür Langzeituntersuchungen gibt und aus den verschiedenen Studien Vergleiche abzuleiten sind. Wir haben festgestellt, dass die Sexualität bei den jungen Leuten nicht mehr diesen Drang, diesen Triebcharakter hat. Und es ist eindeutig so, dass die Mädchen heute - statistisch gesprochen - das Heft in der Hand haben und darüber entscheiden, wie weit das Paar geht, was passieren darf. Dadurch hat sich die jugendliche Sexualität "enttrieblicht". Davon abgesehen hat wohl kein Mensch heute mehr die Vorstellung der Achtundsechziger, dass man über die Sexualität die ganze Gesellschaft stürzen und verändern kann.

Den bekennenden Asexuellen steht der florierende Markt des Potenzmittels "Viagra" gegenüber. Das scheint erst einmal ein Widerspruch.Bei den Asexuellen ist es, glaube ich, nicht ganz falsch, an Frauen zu denken, die nie ein Sexualleben hatten. Jedenfalls scheinen mir das die Briefe oder e-Mails zu beweisen, die ich von Frauen erhalte, seitdem das Thema Asexualität in den Medien diskutiert wird. Darin klagen die Schreiberinnen, dass sie nie Interesse an Sex hatten und der Beischlaf eher ihrem Mann zuliebe ausgeübt wurde und ähnliches ...

... das klingt aber ganz nach 19. Jahrhundert, damals war die weibliche Frigidität das Thema der Medizin. Die Frauenforschung hat diesen Männermythos dann gründlich dekonstruiert.Vielleicht wiederholt sich ja manches nur. Zu Beginn meiner Karriere ging man davon aus, dass jede Frau einen Orgasmus haben sollte. Wenn man das dann öffentlich verbreitete, riefen plötzlich Hunderte von Frauen an, die einen Orgasmus haben wollten. Seit 15 oder 20 Jahren melden sich bei uns nun junge Männer, die bekennen, kein Verlangen zu verspüren. Das gab es bis dahin gar nicht. Die Sache mit Viagra ist wohl eine Sache der älteren Männer, bei denen das Mittel einerseits die Erektion verstärkt und andererseits die Versagensangst mindert. Die Jüngeren probieren es aus und kommen dann zum Schluss: "Es geht auch ohne", wie das ein junger Mann in meiner Praxis einmal treffend formulierte.

Sie meinen also, es gibt gar keine tatsächliche Veränderungen der Lustkurven, sondern es ändert sich nur die öffentliche Wahrnehmung?Ja, genau. Und vielleicht gibt es heute sogar weniger Lustlose und Asexuelle als vor 50 Jahren. Aber heute organisieren sie sich, heute erfahren wir es, während man sich früher darüber ausschwieg.

Mangelt es uns nicht auch an moralischen Geländern und Verbotsschildern, um die Lust zu steigern?Unser Problem ist tatsächlich, dass es keine allgemein-verbindlichen moralischen Ideen mehr gibt, hinter denen sich eine Mehrheit versammeln könnte, Männer wie Frauen, Kinder wie Erwachsene. Und theoretisch lässt sich wohl nachweisen, dass das Verbot das Sexuelle groß macht, der Vatikan ist das beste und letzte Beispiel. Der neue Papst setzt das fort, was ich - gerade mit Blick auf Aids in Afrika und das Benutzen von Kondomen - einfach unverantwortlich finde. Die Kultur reagiert konträr, indem sie versucht, noch die letzte sexuelle Perversion zu kommerzialisieren. Da tritt in einer Talk-Show dann beispielsweise ein Sadist auf und demonstriert dem Publikum, wie man einen Partner so verletzt, dass man die Wunden hinterher nicht mehr sieht.

Die Pille hat uns die Sexualität ohne Fortpflanzung beschert und das, was wir sexuelle Revolution zu nennen pflegen. Mittlerweile wird die Fortpflanzung technisch zunehmend von der Sexualität abgekoppelt. Es ist anzunehmen, dass das Folgen für die sexuellen Lebensweisen hat.Tatsächlich steht bei immer mehr Männern und Frauen die Liebes- oder Sexualbeziehung als solche im Vordergrund und nicht das Kinderkriegen. Und wenn Sie einmal die Klonierungstechniken weiterdenken, bedeutet das, dass Fortpflanzung ohne Zweigeschlechtlichkeit möglich wird. Wir könnten also auf eine Gesellschaft zusteuern, die nur noch ein Geschlecht kennt. Ich halte das nicht wirklich für machbar, aber aus der Welt ist das Klonen so wenig zu schaffen wie die Kernspaltung. Die Zweigeschlechtlichkeit hat symbolisch enorm verloren, weil sie technisch überwunden ist.

Technisch unterstützte eindeutige Eingeschlechtlichkeit und kulturell vieldeutige Vielgeschlechtlichkeit also?Das hängt miteinander zusammen. Unter den Objektiven - Foucault würde sagen: Dispositiven -, also in den Bereichen, die bereits entschieden sind, kann sich eine kulturelle, also auch sexuelle Buntscheckigkeit entwickeln, die den Machtstrom aber nicht tangiert. Sie können ja in einer Demokratie auch alles sagen, ohne dass sich irgendjemand daran stört. Es hat einfach keine Auswirkung.

Die Entwicklung der sexuellen Verhältnisse scheint auch in Zusammenhang mit der allgemeinen Tendenz zur Entkörperlichung zu stehen. Die sexuell konnotierten Events - von der Raver-Party bis zu den diversen Liebes-Paraden - haben nichts mehr mit der alten Körperlichkeit der Sexualität zu tun, sondern nur noch mit körperlicher Inszenierung. Und sie sind nicht mehr per se auf einen Anderen gerichtet.Der Körper ist das schwächste Glied in der Kette der Sexualität. Er verwelkt, er ist hinfällig, er hat Schwächen und ihm sind - auch sexuelle - Grenzen gesetzt. Die Phantasie kann über diese Grenzen des Körpers hinaus denken, sie ist allmächtig. Eben das wird heute inszeniert. Insofern sind Events wie die Love-Parade nicht nur ein Ausdruck der Entkörperlichung, sondern im Gegenteil auch ein Aufschrei gegen die Verramschung des Körpers.

Ihr neues Buch "Neosexualitäten" handelt nicht nur von der Liebe, sondern auch von sexuellen Perversionen, die man gemeinhin nicht der liebenden Zuwendung zuschlägt. Die Perversion als dunkler Schatten der Liebe oder als strahlender Stern im Dunkel partnerschaftlicher Langeweile?Beides. Die Perversion in einer Beziehung kann Fluch sein, aber eben auch das Reizmittel, das eine Beziehung über Jahrzehnte erhält.

Ich bin überrascht, dass Sie auf dem Begriff "Perversion" bestehen, weil damit ja eindeutig abweichendes, pathologisches Verhalten gemeint ist und stigmatisiert wird.Das hängt damit zusammen, dass ich Kliniker bin, der über Jahrzehnte hinweg die katastrophalen Verläufe perversen Verhaltens beobachtet hat. Das ist für die Betroffenen selbst oft genug eine absolute Katastrophe, die bis zum Tod führen kann. Das "Paraphilie" oder "Präferenzstörung" zu nennen, wie das mittlerweile fast alle meine Kollegen tun, halte ich für eine Verharmlosung der Krankheit und eine Verhöhnung der Patienten - und übrigens auch der Opfer.

Es gibt in diesem "devianten" Bereich also auch "Reste", die von der Gesellschaft oder vom Markt nicht integrierbar sind?Ja, das sind beinahe Universalien. Das läuft über die Jahrhunderte hinweg und offenbar auch durch alle Kulturen hindurch. Das ist auch von den Prozessen der neosexuellen Revolution, die ich beschreibe, nicht erfasst.

Bei der Pädophilie, von der sich die Gesellschaft extrem abgrenzt, scheint es aber auch Schwankungen zu geben. Man hat heute gelegentlich den Eindruck, dass es weniger um den Schutz der Kinder als um Selbstschutz geht im Sinne, die eigenen Neigungen im Zaum zu halten.Der Blick in die Geschichte lehrt, dass sich die Verhältnisse hier sehr verändert haben. Zu Zeiten Goethes war es keine Seltenheit, dass anerkannte Männer wie Lichtenberg ein zwölfjähriges Mädchen von der Straße zu sich nahmen und am Ende sogar heirateten. Zumindest die Altersgrenzen haben sich verschoben. Ich denke aber, dass die Gefahr des Missbrauchs und auch der reale Missbrauch in den Familien und im familialen Nahbereich bei uns so groß ist, dass wir alle Angst davor haben, die Wahrheit zu erfahren, weil sie ein ohnehin zerfallendes Fundament, die traditionelle Familie, erschüttern würde. Deshalb ist die Konzentration auf die kleine und in sich sehr differenzierte Gruppe der Pädophilen eine abwehrende, verleugnende Projektion.

Was passiert, wenn der alte Gott Sex von seinem Olymp gestoßen wird und die Menschen das Interesse an ihm verlieren? Sie geben eine beunruhigende Antwort.Wenn die Sexualität an symbolischer und realer Bedeutung verliert, tritt etwas anderes an ihre Stelle. Leute, die die ganze Woche über gut funktionieren, erleben am Wochenende dann plötzlich, dass sie ihren "Kick" bekommen, wenn sie einmal so richtig draufschlagen können. Darin sehe ich eine große Gefahr.

Der Kapitalismus richtet die Menschen und ihre Sexualität bis zur Unkenntlichkeit zu; andererseits stellt er wie keine andere Gesellschaftsform Freiräume für neue sexuelle Lebensweisen bereit. Sie nennen das paradox. In paradoxalen Systemen kann man es sich intellektuell gemütlich machen, weil sie nicht auflösbar sind. Aber wie soll man in ihnen leben? Mir wurde immer der Vorwurf gemacht, ich sei ein Kulturpessimist und ein unverbesserlicher Adornit. Deshalb habe ich diesem Buch vorangestellt, dass die gewachsene Liebe - jenseits der blinden Verliebtheit - das Kostbarste ist, was wir haben. Nun wird geschrieben, ich sei altersweise geworden und habe die Liebe entdeckt. Wenn man über Liebe und Sexualität spricht, auch als Forscher, kann man nicht aus seiner eigenen Haut, der Gegenstand ist zu persönlich. Gleichzeitig bin ich auch ein Anhänger der Kritik der Politischen Ökonomie und tue nicht so, als ob wir nicht mehr im Kapitalismus lebten. Deshalb ist es mir wichtig zu sagen, dass die Liebe das Einzige ist, was man nicht herstellen und nicht kaufen kann. Der Fetischcharakter, den die Liebe in unserer Gesellschaft natürlich auch hat, wird dadurch in Schach gehalten - vorausgesetzt, die Liebe gelingt.

Das Gespräch führte Ulrike Baureithel

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