Es droht Faschismus

Offener Brief Emmanuel Macrons freiheitsfeindliche Kampagne gegen muslimische Menschen ist ein Angriff auf die gesamte französische Gesellschaft, kritisieren Mandatsträger*innen
Was hier im Namen des Säkularismus getan wird, ist in Wirklichkeit eine Stigmatisierung, Dämonisierung und Entmenschlichung der muslimischen Bürger*innen
Was hier im Namen des Säkularismus getan wird, ist in Wirklichkeit eine Stigmatisierung, Dämonisierung und Entmenschlichung der muslimischen Bürger*innen

Foto: Kiran Ridley/Getty Images

Die vergangenen Wochen in Frankreich waren von abscheulichen Angriffen geprägt. Am 16. Oktober wurde Samuel Paty, ein Mittelschullehrer, kurz nach Verlassen seines Arbeitsplatzes von einem 18-jährigen Mann ermordet. Der Lehrer war ins Visier des Attentäters gerückt, nachdem er in seinem Unterricht Karikaturen des Propheten Mohammed gezeigt hat. Wenige Tage später, am 29. Oktober, wurden drei Besucher*innen und Angestellte der Basilika Notre-Dame in Nizza von einem 21-jährigen Mann getötet. Diese Verbrechen, ihre Brutalität und ihre Auswirkungen haben uns zutiefst erschüttert.

Inmitten des kollektiven Schocks hätten wir uns als französische Abgeordnete gewünscht, dass die Regierung zu Geschlossenheit, Einheit und Solidarität aufruft -- und sich auch kritisch mit der Art und Weise, wie sie den Terrorismus bekämpft, auseinandersetzt. Stattdessen wurden wir Zeug*innen einer groß angelegten politischen Offensive gegen die Vereinigungs- und Meinungsfreiheit, die sich insbesondere gegen Muslim*innen richtete. Diese Kampagne ist ein Angriff gegen uns alle.

Die Opfer waren noch nicht einmal begraben, als die französische Regierung und verschiedene Medienexpert*innen begannen, diese tragischen Todesfälle zu benutzen, um französische Muslim*innen zu kriminalisieren. Was bisher als rechtsextreme Rhetorik galt, ist in den letzten Jahren zum normalen Bestandteil des politischen Diskurses und der Medien geworden.

Diese schrecklichen Ereignisse (und die vielen davor) werden zum Vorwand genommen, um repressive Aktionen gegen Muslim*innen sowie gegen Organisationen, die als muslimisch wahrgenommen werden, zu rechtfertigen.

Die französische Regierung sollte ihre Ressourcen auf potenziell terroristische Gruppen oder Einzelpersonen konzentrieren, für die es klare Indizien für drohende Gewalttaten gibt, und sich den Wurzeln des Hasses zuwenden. Stattdessen hat die Regierung wahllos Razzien in muslimischen Vereinen, Bildungseinrichtungen, Organisationen und Wohltätigkeitsorganisationen durchgeführt und mehrere Moscheen geschlossen. Der Innenminister hat eine Überprüfung und mögliche Schließung von mehr als 50 religiöse Einrichtungen angekündigt.

Umfassende Einschüchterungskampagne

Die prominente muslimische Hilfsorganisation Baraka City wurde bereits aufgelöst. Jetzt versucht die Regierung die Organisation gegen Islamophobie in Frankreich (CCIF) aufzulösen -- eine Menschenrechtsorganisation, die Opfer von Diskriminierungs- und Hassverbrechen juristisch unterstützt. Die Einschüchterungskampagne der Regierung richtet sich auch gegen bekannte Zeitungen (wie Mediapart), politische Parteien (wie La France Insoumise) und sogar ehemalige Abgeordnete und Wissenschaftler*innen, die es in der Vergangenheit gewagt haben, gegen Islamophobie Stellung zu beziehen.

Es ist mittlerweile wohlbekannt, dass die betroffenen muslimischen Organisationen nichts mit den Morden zu tun hatten. Aber die Motivation hinter dem repressiven Vorgehen der französischen Regierung liegt auf der Hand. Die Regierung hat durch ihren Innenminister Gerald Darmanin klar zum Ausdruck gebracht, dass mit diesen Aktionen "eine Botschaft" übermittelt werden soll. Es ist eine Botschaft an die in Frankreich lebenden Muslim*innen und an alle, die bereit sind, sich für sie einzusetzen.

Die Regierung muss sich jedoch fragen, welche Botschaft sie sendet. So bekräftigt sie einerseits, dass Frankreich wegen seinen Werten angegriffen worden sei und dass man diesen Werten verbunden bleiben wolle. Gleichzeitig greift die Regierung den Rechtsstaat, die Meinungsfreiheit, und die akademische Freiheit an. Was für eine Botschaft versucht die französische Regierung zu senden, wenn sie die Verfolgung und den Polizeigewahrsam von Kindern, manche erst 10 Jahre alt, verteidigt. Es ist für uns klar, dass dieses Verhalten der französischen Regierung den Terrorist*innen in die Hände spielt.

Als lokale Abgeordnete und Vertreter*innen des Rechtsstaates, können wir dabei nicht tatenlos zusehen. Die Grundfreiheiten stehen auf dem Spiel. Die Menschenrechte stehen auf dem Spiel. Und mit ihnen die gesamte Französische Republik.

Rassistisch, verfassungswidrig und kontraproduktiv

Wir fühlen uns verpflichtet, die staatlichen Repressionen öffentlich und international anzuprangern und sie als das zu bezeichnen, was sie tatsächlich sind: rassistisch, verfassungswidrig und kontraproduktiv. Wir können nicht zulassen, dass sich eine bereits katastrophale Situation noch weiter verschlimmert, und wir werden nicht untätig bleiben, während die französische Regierung in den Faschismus abrutscht. Was hier im Namen des Säkularismus getan wird, ist in Wirklichkeit eine Stigmatisierung, Dämonisierung und Entmenschlichung der muslimischen Bürger*innen.

Diese Regierungskampagne ist Teil eines umfassenderen Plans die muslimische Communities in Frankreich in einen Ausnahmezustand zu versetzen. Schon im September kündigte Präsident Macron einen Gesetzesentwurf gegen das an, was er "Separatismus" nennt. In völliger Verletzung des französischen Laizité-Prinzips enthält der Gesetzentwurf gegen "Separatismus" Maßnahmen, die es dem Staat erlauben, über die Ernennung islamischer Geistlicher zu entscheiden, eine Steuer auf die islamische Pilgerfahrt zu erheben und muslimische Organisationen willkürlich zu schließen. Zudem kündigte der Innenminister einen neuen Straftatbestand an: Eine Anfrage nach eine*r*m gleichgeschlechtlichen Arzt*in oder eine Meinungsverschiedenheit mit eine*r*m Lehrer*in kann sie bis zu 75.000 Euro Geldstrafe kosten und sie für fünf Jahre ins Gefängnis bringen.

Gleichzeitig wurde ein Gesetz verabschiedet, das die akademischen Freiheiten einschränkt. Ein weiteres Gesetz, das es verbietet Polizeibeamt*innen zu filmen, wird demnächst verabschiedet. Die Situation in Frankreich ist ernst. Diese Obsession mit Muslim*innen und dem Islam führen das Land in den Faschismus. Das muss ein Ende haben.

Wir weigern uns zu schweigen

Seit mehr als zwei Jahrzehnten schlagen wir in Frankreich Alarm. Doch sobald wir uns gegen Rassismus und Islamophobie stellen, werden wir durch absurde Anschuldigungen der Komplizenschaft mit dem Terrorismus zum Schweigen gebracht. Wenn wir uns gegen Rassismus aussprechen, werden wir von jenen, die von der Stigmatisierung und Ausgrenzung von Minderheiten profitieren, als islamistische Linke denunziert. Daher wenden wir uns nun mit der Bitte um Hilfe an die internationale Gemeinschaft, an aufgeklärte Politiker*innen, an Menschenrechtsverteidiger*innen, an internationale Organisationen und an die moralischen und kulturellen Persönlichkeiten unserer Zeit.

Als gewählte Abgeordnete der französischen Republik, als Vertreter*innen des Volkes und in dem Bestreben, eine Gesellschaft aufzubauen, die für alle gerechter, sicherer und respektvoller ist, weigern wir uns zu schweigen.

Wenn wir schweigen, wird das Land, das wir alle lieben und das uns allen am Herzen liegt, tiefer in den Strudel aus Rassismus und Hass geraten, und zwar zum alleinigen Nutzen der Rechtsextremen und der Terrorist*innen.

Es ist an der Zeit, das internationale Bewusstsein für die Situation in Frankreich zu schärfen. Es ist an der Zeit, das Wort zu ergreifen und Stellung zu beziehen. Es ist an der Zeit, die französische Regierung an genau jenen Menschenrechtsstandards zu messen, für die sie zu stehen in der Welt vorgibt und die sie zu Hause vernachlässigt.

Denn wenn das Land, in dem die Erklärung der Menschenrechte geboren wurde, sich – wieder – in einen faschistischen Staat verwandelt, wird die gesamte Europäische Union ihre dunkelsten Stunden noch einmal durchleben.

Die Unterzeichner*innen

(In alphabetischer Reihenfolge)

Nasteho Aden, Stadträtin in Stains

Florence Ait-Salah-Lecervoisier, Stadträtin in Orly

Halim Alout, Stellvertretender Bürgermeister von Le Bourget

Adel Amara, Stadtrat in Villiers-sur-Marne

Majide Ammad, Stellvertretender Bürgermeister für Kleinkinder und Senioren in Villetaneuse

Aylin Argun, Stadträtin der Opposition in Deville-les-Rouen

Walid Badi, Stadtrat in Ivry-sur-Seine

Malick Barry, Stadtrat für Jugend in Bobigny

Zakaria Benhamra, stellvertretender Bürgermeister, zuständig für sozialen Zusammenhalt und Stadtpolitik in Noisy-le-sec

Wiam Berhouma, stellvertretender Bürgermeister, zuständig für die Entwicklung und Förderung der Kultur, die Weitergabe von Erinnerungen und die Volksbildung in Noisy-le-sec

Ghaïs Bertout-Ourabah, adjoint au maire à la citoyenneté à Ivry-sur-Seine

Mehdi Bigaderne, stellvertretende Bürgermeisterin, zuständig für städtische Verträge, Vereine und Sozialzentren in Clichy-sous-bois

Estelle Boufala, Stadträtin von Ivry-sur-Seine

Faycal Bougria, Stellvertretender Bürgermeister für Jugend in Villetaneuse

Adel Boukhalfa, Stadtrat von Soissons

Mohamed Bourichi, Gemeinderatsmitglied in Longjumeau

Mathieu Caillaud, Stadtrat in Saint-André-de-Cubzac

Brahim Charafi, Stadtrat in Saint-Étienne-du-Rouvray

Kasthury Christy, Stadträtin in Pierrefitte-sur-Seine

François Malik Charron, Stadtrat in Saint-Gelais

Virginie Cincet, Stadträtin in Villiers-sur-Marne

Kadejat Dahou, Stadträtin in Saint-Jean-de-la-Ruelle

19. Nicolas Daumont-Leroux, Stadträtin für Ferienzentren in Fontenay-sous-bois

Samy Debah, Stadtrat in Garges-lès-Gonesse

Sori Dembele, Stadtrat in Villiers-le-Bel

Emma Deveau, Verantwortliche Stadträtin für Gedenken, Veteranen und Tourismus in Bobigny

Jeremy Devers, Stadtrat in Maule

Malamine Diagouraga, Stadtrat in Bondy

Kessa Diarra, Stadträtin von Ivry-sur-Seine

Mamadou Drame, Stellvertretender Bürgermeister für Sport in Fresnes

Mamadou Dramé, conseiller municipal à Villiers-sur-Marne

Delphine Fenasse, Stellvertretende Bürgermeistern für Kinder in Fontenay-sous-bois

Samia Fettal, stellvertretende Bürgermeisterin für Jugend und Jugendrechte in Noisy-le-Sec

Boukary Gassama, stellvertretender Bürgermeister für Jugend und Solidarität zwischen den Generationen in Ivry-sur-Seine

Timothée Gauthiérot, Gemeinderatsmitglied zuständig für digitale Technologie und Bildung durch Sport in Noisy-le-Sec

Elias Geoffroy, Elias Geoffroy, Stadtrat, zuständig für die dezentrale Entwicklungszusammenarbeit in Alfortville

Linda Hella, Stadträtin und Gemeinderätin von Jouy-le-Moutier Cergy-Pontoise

Camille Henrion, Stadtrat in Villenave D'Ornon

Dawari Horsfall, Stadtrat in Massy

Amadou Ka, Stadtrat in Creil

Nourdine Khaled, Stadtrat in Ivry-sur-seine

Karima Khatim, Stadtrat in Blanc-Mesnil

Anaïs Köse, für den Schulerfolg verantwortliche Stadträtin und Studentin in Grigny

Nassim Lachelache, stellvertretender Bürgermeister für Gesundheit und Zugang zu medizinischer Versorgung in Fontenay-sous-bois

Nacera Larabi, Stadträtin für alternative Medizin in Fontenay-sous-bois

Guillaume Latrille, Stadtrat in Villenave d'Ornon

Mirabelle Lemaire, Stadträtin in Plessis-Trévise

Stéphanie Lynseele, Gemeinderätin für La Queue-en-Brie

Coumba Macalou, Stadträtin in Ivry-sur-Seine

Jean-Jacques Mailler, Stadtrat in Champigny-sur-Marne

Ratiba Meddas, Stadträtin in Ivry-sur-Seine

Brahim Messaci, Stadtrat in Orly

Abdelfattah Messoussi, stellvertretender Bürgermeister, zuständig für die Wohnqualität in Stains

Kaddour Metir, stellvertretender Bürgermeister, zuständig für Stadtpolitik in Fresnes

Hamza Mokhtari, Stadtrat, zuständig für Digitales und Glasfasertechnik in Chennevières-sur-Marne

Margot Moronvalle, Stadträtin in Vitry-sur-Seine

Mehrez Mraidi, Stad- und Gemeinderätin in Ivry-sur-Seine

Assia Nait-Bahloul, stellvertretende Bürgermeisterin für frühe Kindheit in Fontenay-sous-bois

Alice Noret, Stadträtin in Clichy-la-Garenne

Karine Olivier, Stadträtin in St-Pardoux-Soutiers

Bernard Prieur, stellvertretender Bürgermeister für Demokratie und die Bürgerversammlung in Ivry-sur-Seine

Mathieu Raffini, Stadtrat in Saint-Denis de La Réunion

Jérémy Robineau, Stadtrat in Niort

Ahcene Saadi, stellvertretende Bürgermeisterin, für das Quartier Secteur du Sud-Ouest, Beschäftigung und Praktikum in Villejuif

Bahri Sebkhi, Stadtrat in Ivry-sur-Seine

Naïma Sellam, Stadträtin von Clichy la Garenne

Fodié Sidibe, Stadtrat in Stains

Chahidati Soilihi, Stadtrat des 14. und 15. Arrondissements von Marseille

Bakary Soukouna, Stadtrat in Saint-Denis

Guillaume Spiro, stellvertretender Bürgermeister von Ivry-sur-Seine

Mamadou Sy, Stadträtin in Champigny-sur-Marne

Azzédine Taïbi, Bürgermeister von Stains

Faiza Tayeb, Stadträtin in Alfortville

Elsa Toure, stellvertretender Bürgermeister für Jugend und den Kampf gegen Diskriminierung in Corbeil-Essonnes

Laura Youkana, Stadträtin von Fresnes

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