Die vergangenen Wochen in Frankreich waren von abscheulichen Angriffen geprägt. Am 16. Oktober wurde Samuel Paty, ein Mittelschullehrer, kurz nach Verlassen seines Arbeitsplatzes von einem 18-jährigen Mann ermordet. Der Lehrer war ins Visier des Attentäters gerückt, nachdem er in seinem Unterricht Karikaturen des Propheten Mohammed gezeigt hat. Wenige Tage später, am 29. Oktober, wurden drei Besucher*innen und Angestellte der Basilika Notre-Dame in Nizza von einem 21-jährigen Mann getötet. Diese Verbrechen, ihre Brutalität und ihre Auswirkungen haben uns zutiefst erschüttert.
Inmitten des kollektiven Schocks hätten wir uns als französische Abgeordnete gewünscht, dass die Regierung zu Geschlossenheit, Einheit und Solidarität aufruft -- und sich auch kritisch mit der Art und Weise, wie sie den Terrorismus bekämpft, auseinandersetzt. Stattdessen wurden wir Zeug*innen einer groß angelegten politischen Offensive gegen die Vereinigungs- und Meinungsfreiheit, die sich insbesondere gegen Muslim*innen richtete. Diese Kampagne ist ein Angriff gegen uns alle.
Die Opfer waren noch nicht einmal begraben, als die französische Regierung und verschiedene Medienexpert*innen begannen, diese tragischen Todesfälle zu benutzen, um französische Muslim*innen zu kriminalisieren. Was bisher als rechtsextreme Rhetorik galt, ist in den letzten Jahren zum normalen Bestandteil des politischen Diskurses und der Medien geworden.
Diese schrecklichen Ereignisse (und die vielen davor) werden zum Vorwand genommen, um repressive Aktionen gegen Muslim*innen sowie gegen Organisationen, die als muslimisch wahrgenommen werden, zu rechtfertigen.
Die französische Regierung sollte ihre Ressourcen auf potenziell terroristische Gruppen oder Einzelpersonen konzentrieren, für die es klare Indizien für drohende Gewalttaten gibt, und sich den Wurzeln des Hasses zuwenden. Stattdessen hat die Regierung wahllos Razzien in muslimischen Vereinen, Bildungseinrichtungen, Organisationen und Wohltätigkeitsorganisationen durchgeführt und mehrere Moscheen geschlossen. Der Innenminister hat eine Überprüfung und mögliche Schließung von mehr als 50 religiöse Einrichtungen angekündigt.
Umfassende Einschüchterungskampagne
Die prominente muslimische Hilfsorganisation Baraka City wurde bereits aufgelöst. Jetzt versucht die Regierung die Organisation gegen Islamophobie in Frankreich (CCIF) aufzulösen -- eine Menschenrechtsorganisation, die Opfer von Diskriminierungs- und Hassverbrechen juristisch unterstützt. Die Einschüchterungskampagne der Regierung richtet sich auch gegen bekannte Zeitungen (wie Mediapart), politische Parteien (wie La France Insoumise) und sogar ehemalige Abgeordnete und Wissenschaftler*innen, die es in der Vergangenheit gewagt haben, gegen Islamophobie Stellung zu beziehen.
Es ist mittlerweile wohlbekannt, dass die betroffenen muslimischen Organisationen nichts mit den Morden zu tun hatten. Aber die Motivation hinter dem repressiven Vorgehen der französischen Regierung liegt auf der Hand. Die Regierung hat durch ihren Innenminister Gerald Darmanin klar zum Ausdruck gebracht, dass mit diesen Aktionen "eine Botschaft" übermittelt werden soll. Es ist eine Botschaft an die in Frankreich lebenden Muslim*innen und an alle, die bereit sind, sich für sie einzusetzen.
Die Regierung muss sich jedoch fragen, welche Botschaft sie sendet. So bekräftigt sie einerseits, dass Frankreich wegen seinen Werten angegriffen worden sei und dass man diesen Werten verbunden bleiben wolle. Gleichzeitig greift die Regierung den Rechtsstaat, die Meinungsfreiheit, und die akademische Freiheit an. Was für eine Botschaft versucht die französische Regierung zu senden, wenn sie die Verfolgung und den Polizeigewahrsam von Kindern, manche erst 10 Jahre alt, verteidigt. Es ist für uns klar, dass dieses Verhalten der französischen Regierung den Terrorist*innen in die Hände spielt.
Als lokale Abgeordnete und Vertreter*innen des Rechtsstaates, können wir dabei nicht tatenlos zusehen. Die Grundfreiheiten stehen auf dem Spiel. Die Menschenrechte stehen auf dem Spiel. Und mit ihnen die gesamte Französische Republik.
Rassistisch, verfassungswidrig und kontraproduktiv
Wir fühlen uns verpflichtet, die staatlichen Repressionen öffentlich und international anzuprangern und sie als das zu bezeichnen, was sie tatsächlich sind: rassistisch, verfassungswidrig und kontraproduktiv. Wir können nicht zulassen, dass sich eine bereits katastrophale Situation noch weiter verschlimmert, und wir werden nicht untätig bleiben, während die französische Regierung in den Faschismus abrutscht. Was hier im Namen des Säkularismus getan wird, ist in Wirklichkeit eine Stigmatisierung, Dämonisierung und Entmenschlichung der muslimischen Bürger*innen.
Diese Regierungskampagne ist Teil eines umfassenderen Plans die muslimische Communities in Frankreich in einen Ausnahmezustand zu versetzen. Schon im September kündigte Präsident Macron einen Gesetzesentwurf gegen das an, was er "Separatismus" nennt. In völliger Verletzung des französischen Laizité-Prinzips enthält der Gesetzentwurf gegen "Separatismus" Maßnahmen, die es dem Staat erlauben, über die Ernennung islamischer Geistlicher zu entscheiden, eine Steuer auf die islamische Pilgerfahrt zu erheben und muslimische Organisationen willkürlich zu schließen. Zudem kündigte der Innenminister einen neuen Straftatbestand an: Eine Anfrage nach eine*r*m gleichgeschlechtlichen Arzt*in oder eine Meinungsverschiedenheit mit eine*r*m Lehrer*in kann sie bis zu 75.000 Euro Geldstrafe kosten und sie für fünf Jahre ins Gefängnis bringen.
Gleichzeitig wurde ein Gesetz verabschiedet, das die akademischen Freiheiten einschränkt. Ein weiteres Gesetz, das es verbietet Polizeibeamt*innen zu filmen, wird demnächst verabschiedet. Die Situation in Frankreich ist ernst. Diese Obsession mit Muslim*innen und dem Islam führen das Land in den Faschismus. Das muss ein Ende haben.
Wir weigern uns zu schweigen
Seit mehr als zwei Jahrzehnten schlagen wir in Frankreich Alarm. Doch sobald wir uns gegen Rassismus und Islamophobie stellen, werden wir durch absurde Anschuldigungen der Komplizenschaft mit dem Terrorismus zum Schweigen gebracht. Wenn wir uns gegen Rassismus aussprechen, werden wir von jenen, die von der Stigmatisierung und Ausgrenzung von Minderheiten profitieren, als islamistische Linke denunziert. Daher wenden wir uns nun mit der Bitte um Hilfe an die internationale Gemeinschaft, an aufgeklärte Politiker*innen, an Menschenrechtsverteidiger*innen, an internationale Organisationen und an die moralischen und kulturellen Persönlichkeiten unserer Zeit.
Als gewählte Abgeordnete der französischen Republik, als Vertreter*innen des Volkes und in dem Bestreben, eine Gesellschaft aufzubauen, die für alle gerechter, sicherer und respektvoller ist, weigern wir uns zu schweigen.
Wenn wir schweigen, wird das Land, das wir alle lieben und das uns allen am Herzen liegt, tiefer in den Strudel aus Rassismus und Hass geraten, und zwar zum alleinigen Nutzen der Rechtsextremen und der Terrorist*innen.
Es ist an der Zeit, das internationale Bewusstsein für die Situation in Frankreich zu schärfen. Es ist an der Zeit, das Wort zu ergreifen und Stellung zu beziehen. Es ist an der Zeit, die französische Regierung an genau jenen Menschenrechtsstandards zu messen, für die sie zu stehen in der Welt vorgibt und die sie zu Hause vernachlässigt.
Denn wenn das Land, in dem die Erklärung der Menschenrechte geboren wurde, sich – wieder – in einen faschistischen Staat verwandelt, wird die gesamte Europäische Union ihre dunkelsten Stunden noch einmal durchleben.
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