Lebens-Wende 1961-1989
Vor 15 Jahren, am 9. November 1989, gegen Mitternacht, verzeichnete der Lagebericht der Ost-Berliner Volkspolizei, dass alle Grenzübergänge zwischen den beiden Stadthälften geöffnet seien. Gegen 1.00 Uhr galt das auch für die Kontrollpunkte im Berliner Umland. Die Regierungen in Ost und West waren gleichermaßen überrascht. Nach mehr als 28 Jahren fiel die Berliner Mauer.
Am 13. August 1961, als die Grenze zu Berlin (West) durch die DDR geschlossen wird, lebt die 61-jährige Gertrud Krause in dem kleinen Ort Priort in Brandenburg.
Geboren am 9. November 1900, hatte sie schon als 14-Jährige in den Berliner OSRAM-Werken zu arbeiten begonnen. Als ab 1943 Nacht für Nacht Bomben auf Berlin fallen, wird Gertrud von ihrem Ehemann Karl Krause aus Sicherheitsgründen - auch wegen des überlebenswichtigen Anbaus von Kartoffeln - auf die kleine Parzelle der Familie nach Priort geschickt. Nach Kriegsende will sie in der kleinen Ortschaft bleiben. Kurz bevor am 7. Oktober 1949 die DDR gegründet wird, erhält Gertrud die notarielle Bestätigung, dass sie mit dem Grundstück in Priort von ihrem Ehemann - man lebt inzwischen getrennt - beschenkt worden ist.
Gertruds Tochter Irmgard ("Irmi"), die in Westberlin lebt, wird in den folgenden Jahren mit Gartenäpfeln und geschlachteten Hühnern aus dem Brandenburgischen versorgt. Von ihren Fahrten nach "drüben" kehrt Gertrud oft mit ihrer Enkeltochter an der Hand zurück, der die frische Luft von Priort gut tut. Großmutter und Enkelin sammeln Schädlinge vom genossenschaftlichen Acker, säen, ernten und dreschen mit der Dorfgemeinschaft - bis zum 13. August 1961. Von diesem Tag an schickt Gertrud fast täglich einen Brief von Ost nach West, bis sie im Frühjahr 1963 zu ihrer Tochter nach Westberlin übersiedeln darf. Wir dokumentieren in einer Auswahl Auszüge aus den kurz nach dem Mauerbau geschriebenen "Nachrichten aus Priort" in der Form, in der sie damals entstanden sind.
Frieda kommt ab und zu
Priort, 1. September 1961
Habe heute Euer liebes Päckchen und auch den lieben Brief erhalten. Habe mich sehr gefreut habt auch herzlichen Dank dafür. Du schreibst mir ich soll nicht so viel araaabeiten ich mache überhaupt nichts habe gar keine Lust dazu. Frieda kommt ab und zu mal rüber und guckt was ich mache. Sie hat mich schon öfter eingeladen zum Essen aber ich sage ihr gleich ich habe keinen Hunger sie ist mir zu sauber. Wenn ich sehe daß der Hund alle Töpfe ausleckt dann ist man satt. Liebe Irmi wenn mein Geld alle ist muss die Gemeinde für mich sorgen. Ich war schon zur Bürgermeisterei und habe mich gemeldet. Verhungern können sie mich ja nicht lassen.
Der hat was für mich übrig
12. September 1961
Heute Dienstag war der Bürgermeister bei mir wegen meiner Unterstützung. 100 M würde ich bekommen. Damit würde ich schon auskommen. Ich glaube der hat was für mich übrig. Der guckt mich immer so verliebt an. Und von Deinen Zigaretten hat er auch gleich alle geraucht. Aber drüben alles schlecht machen. Man kann ja nicht schreiben wie man gerne möchte. Man muss eben still halten. (...)
Liebe Irmi wenn am Sonnabend zu Deinem Geburtstag Besuch kommt grüße sie alle von mir. Und sie sollen an mich denken. Ich würde gerne tauschen. Frl. Raabe hat mir das Kleid von Dir fertig gemacht. Aus lauter Mitleid brauchte ich nichts zu bezahlen. Auch gut.
Wenn der Friedens-Vertrag
17. September 1961
Ich werde wohl arbeiten gehen müssen obwohl Dr. Libau es mir verboten hat. Aber was will ich machen mein Geld wird ja weniger wenn nichts dazu kommt. Ich darf nur noch 12,00 M die Woche ausgeben. Denn ich weiß ja nicht wann ich die Unterstützung bekomme und dann ist es Wohlfahrtsunterstützung. Es geht mir nicht so gut wie Ihr es vielleicht annehmt. (...) Scheine um nach Berlin zu fahren gibt es vielleicht wenn der Friedens-Vertrag da ist. Ich gehe zu niemandem ich bin ganz für mich. Ab und zu kommt Frieda mal rüber, die hat jetzt auch Sorgen. Ihr Max kommt jeden Abend voll wie ein Eimer nach Hause und dann ist er ein Stinktier ganz furchtbar.
Schon sieben Wochen
21. September 1961
Habe heute wieder Deinen lieben Brief und Dein liebes Päckchen mit großer Freude erhalten. Ich freue mich immer wie ein Kind zu dem der Weihnachtsmann kommt. Der Käsekuchen - hat mir auch sehr gut geschmeckt. (...)Ich staune selber immer daß es so schnell geht. Die Päckchen gehen durch die Kontrolle sind aber nicht geöffnet. Frieda ist schon neidisch am liebsten würde sie mir eins auswischen aber da hat sie kein Glück. Sie sagt immer verkauf mir doch ein bißchen Kaffee oder Kakao ich sage ihr immer gleich die richtige Antwort ich habe doch keine Handelsware sie können bei mir eine Tasse trinken aber nicht mehr. Hast Du meine Briefe alle bekommen? Ich frage bloß an weil Onkel Max sie öfter mitgenommen hat er meinte vom Ostbahnhof geht die Post schneller. Ich traue dem Burschen auch nicht. Der ist auch alle Tage voll wie ein Eimer. Liebe Irmi sei so gut und schicke mir 1 Paar Strümpfe aus meinem Kasten und zwei Päckchen Gurken-Doktor. Ich habe ein paar Gurken die möchte ich einmachen. (...)
Nun sitze ich schon sieben Wochen allein hier in Priort und wer weiß wie lange noch es ist einfach schrecklich. Frau Pospich die ist zu mir sehr nett schenkt mir öfter ein paar Eier.
Mach mich fromm
Priort, 8. Oktober 61
Meine Unterstützung bekomme ich noch nicht die haben alle keine Ahnung wie man so etwas macht. Jetzt will mir Hanne Schreiber helfen die weiß Bescheid denn die war ja lange genug auf der Bürgermeisterei. Da heißt es wieder weiter warten. Die Strecke hier hinten bei uns ist nun bald fertig es wurde ein 2tes Gleis gelegt die haben alle gearbeitet wie die Verrückten damit die Strecke fertig wird zum Geburtstag. Toll was.
Ein neuer Bahnhof kommt auch noch ganz in unsere Nähe. Ja ja Priort macht sich und ist eine Reise wert. Aber trotzdem beten die Leute alle. Lieber Gott mach mich fromm daß ich bald nach Spandau komm.
Adventskränzchen
26. November 1961
Na ich schicke mit gleicher Post das Adventskränzchen ab. Hoffentlich vertragen sich die Tanne aus dem Schwarzwald mit meiner Tanne aus der DDR. Schließlich muß ja das Kränzchen einsehen, daß die Tanne aus dem Schwarzwald gar nicht so schlecht ist.
Nur die gewissen Herren
1. Dezember 1961
Ich verstehe nicht daß meine Päckchen so lange dauern. Die sind ja 4 Tage unterwegs. (...) Daß es Dir liebe Irmi wieder besser geht beruhigt mich sehr. Das macht wohl der Koks den Ihr beide immer trinkt. Ihr werdet doch nicht in die Fußstapfen von Eurem Opa treten. Der sagt ja auch immer Schnaps hält gesund. Hat er sich denn schon wieder mal sehen lassen. Sonst ist in Priort nichts mehr los. Es ist alles so anders geworden. Weil jeder vor dem anderen Angst hat. Nur die gewissen Herren tragen die Nase hoch und denken was kann mir denn schon passieren (...) Es ist nicht mehr schön wenn ich doch bloß das Glück habe und zu Euch kann.
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