Der Nieselregen hat an diesem letzten Novembertag des Jahres 1999 die Strassen blank gewaschen, feiner Nebel durchzieht die Stadt. Verschlafene Menschen haben sich in Regenjacken gehüllt und stehen schon vor Sonnenaufgang auf den Kreuzungen rund um das Kongress zentrum. Auf selbstgemalten Plakaten heisst es "Arrest the corporate criminals", und "WTO-No". Eine Punkerin mit blauen Haaren hat ein mindestens fünf Meter hohes Skelett aus Holz um die Hüfte geschnallt. Am Kongresszentrum selbst postieren sich unterdessen zwei Dutz end Polizisten in Kampfuniformen. Offenbar soll hier später für offizielle WTO-Delegierte eine Gasse gebildet werden. Mit allen Mitteln - daran lassen die Beamten keinen Zweifel. Auf der anderen Straßenseite parkt ein LKW mit einer Lautsprecheranlage - ein dunkelblauer Wagen der Teamsters, der legendären Transportarbeiter-Gewerkschaft. "Fight the power" dröhnt es über die Straße, und etwa 200 Demonstranten wärmen sich tanzend im Rhythmus auf. Die Kreuzung liegt in einem von 13 Blockade-Distrikten rund um die WTO-Tagung - vom Direct Action Network (DAN) in monatelanger strategischer Vorbereitung am Reißbrett aufgeteilt.
Der 22-jährige Gerald Coolidge ist von Beruf Fahrradkurier. Aber statt wie sonst Depeschen und Päckchen in downtown Seattle auszuliefern, ist er heute Blockade-Koordinator. "Eine Art menschliches Funkgerät", erklärt er und wendet sich einer Mitstreiterin zu: "Am Cavanaughs Hotel steht FBI, dort müssen hochrangige Delegierte untergebracht sein." Die DAN-Frau bittet daraufhin per Megaphon um Verstärkung Richtung Hotel, und zirka 20 Studenten ziehen nach kurzer Beratung los. Gerald verschnauft. Er trägt eine Radlerhose, Handschuhe und einen orangefarbenen Helm. Sonst arbeitet er zehn Stunden pro Tag für rund 100 Dollar. "Heute läuft ohnehin nichts", erklärt er den Einnahmeverzicht, außerdem wolle er bei den Protesten gegen die WTO beteiligt sein. Vor allem ärgern ihn die "unverschämten Manager-Gehälter bei den Bonzenfirmen". Und er freue sich schon auf die Gewerkschafter, meint er beim Aufsteigen aufs Rad, "wenn die kommen, dann geht bei der WTO nichts mehr".
Zwei Stunden später tummeln sich Tausende auf dem 500-mal-500-Meter-Areal am Tagungsgebäude. Bombastisch anzusehen sind die Riesenpuppen des Art and Revolution-Kollektivs aus San Francisco: ein flammenresistenter, blauer Wal in Original-Walgröße blockiert fast allein eine Kreuzung, eine haushohe Hexe kehrt die WTO aus. Zwischendrin schlängeln sich Menschen, die sich grüne Kostüme von Meeresschildkröten - "turtles" - umgeworfen haben. Damit verknüpft ist der Hinweis auf das Aussterben der "turtles", seit die WTO ein entsprechendes Tierschutzgesetz ausgehebelt hat. Und schließlich erscheint in ironischem Stechschritt die "Infernalische Geräusch-Brigade", ganz in schwarz, mit Bärenmützen, Springerstiefeln, Trommeln und grünen Holzgewehren. "Wir wollten etwas ganz Unamerikanisches machen", erklärt in einer Trommelpause der 31-jährige "Che". Er habe Architektur in Mexiko studiert und lebe in den USA. Vom "postmodernen Intellektualismus der Ex-Linken" habe er genug. Sein Satz: "Visualize corporate breakdown" wird sich später an eine Wand gesprüht wiederfinden - neben einer der zahlreich eingeschlagenen Scheiben der Bank of America.
Die Cops werden zu jenem Zeitpunkt die friedlichen Sitzblockaden mit Tränengas, Gummigeschossen, Geräuschgrananten und einer üblen Knüppelei aufgelöst haben. Ergebnis: freier Zugang für die WTO-Abgeordneten, Entsendung der National Guard. Zum ersten Mal seit dem II. Weltkrieg wird wieder der Ausnahmezustand über das wohlhabende, sonst recht verschlafen-liberale Seattle verhängt.
Ortwechsel: die Demonstration des Gewerkschaftsdachverbands AFL-CIO sammelt sich im Sportstadium, rund 30.000 Teilnehmer. Unglaublich, aber wahr - die Spitze, sonst eng verbündet mit dem Weißen Haus, ist persönlich erschienen: AFL-CIO-Präsident John Sweeney, Teamsters-Chef James Hoffa und die Vorsitzenden der Textil-, Stahl- und Hafenarbeiter. Was vor Jahren wegen eines verkrusteten Apparates noch undenkbar war, ist heute möglich: ein südafrikanischer Minenarbeiter zitiert vom Podium herunter unter donnerndem Applaus Marx und fordert die Vereinigung aller Arbeiter weltweit. Ein mexikanischer Gewerkschafter läßt die Zapatisten hochleben. Der Präsident der Angestelltengewerkschaft donnert gar gegen "das System des Konzernkapitalismus, das vom Wald in Brasilien bis hin zur Bücherei in New Jersey alles vermarktet".
Der AFL-CIO hat aus seiner Niederlage gelernt, die ihm die Clinton-Regierung vor fünf Jahren mit dem NAFTA-Freihandelsabkommen bereitet hat. Die Rhetorik hochrangiger AFL-CIO-Spitzen überrascht selbst eingefleischte Altlinke. "Die nationalistischen Tiraden", freut sich der Radiokommentator Doug Henwood, "sind weitgehend verschwunden". Auch kulturell durchzieht den ehemals stiernackigen Verband offenbar ein frischer Wind. Inmitten einer Gruppe von Boeing-Monteuren tanzen barbusig mehrere Frauen der Lesbian Avengers (lesbische Rächerinnen) aus San Francisco. "Meine Brustwarzen stehen in Solidarität mit den arbeitenden Menschen weltweit", ruft eine von ihnen und lacht. Die Männer mit den orangefarbenen Caps der Maschinenschlosser-Gewerkschaft lächeln, einige tanzen sogar mit. Jemand macht ein Gruppenphoto. Früher, meint Henwood, hätten die Männer sexistische Sprüche losgelassen und wutentbrannt ausgespuckt.
Als sich der Zug - eine der größten US-Gewerkschaftsdemonstrationen seit 50 Jahren - in Bewegung setzt und Richtung Kongress zentrum marschiert, ziehen bereits die ersten Tränengasschwaden die Hochhäuser hoch. "Teamsters and turtles - together at last" (Teamsters und Schildkröten - endlich zusammen) liest sich ein rührendes Transparent. Dass die Gewerkschaftermassen in das Geschehen dann doch nicht eingreifen, um den attackierten Blockierern gegen die Polizei zu Hilfe zu kommen, sondern vorher abdrehen, sei ein Skandal gewesen, kommentiert später ein amerikanischer Kollege. Doch Doug Henwood winkt ab - "Revolutionsromantik, was die an Bündnisbereitschaft erkennen ließen, war schon bemerkenswert. Das traditionelle Verhältnis des Verbandes zu den Demokraten hat Risse ..."
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