Blickt man auf Frankreich, erinnert einiges an die Agonie der IV. Republik. Deren Regierungen riefen angesichts kolonialistischer „Pazifizierungsmissionen“ in Indochina und Algerien während der 50er Jahren im Inneren den Notstand aus und suspendierten Grundrechte. Zugleich spielten sie sich als Retter des Westens gegen den Kommunismus auf. Bald war zu erkennen, dass es sich dabei um letzte Zuckungen der IV. Republik handelte und um das Requiem zum Abschied von einer vermeintlich „zivilisatorischen Mission“ Frankreichs. Mit den Römischen Verträgen (1957) und der Verfassung der V. Republik (1962) machte das Land seinen vorläufigen Frieden mit Europa.
Doch musste man dabei stets unterscheiden zwischen sonntäglich-feierlichen Versöhnungsgest
hnungsgesten eines Charles de Gaulle und Konrad Adenauer, später eines Helmut Kohl und François Mitterrand auf dem Schlachtfeld von Verdun, und der alltäglich-profanen Arbeit für eine wirkliche europäische Integration. Darin blieb Frankreich immer zurückhaltend und auf nationale Vorbehalte im Detail bedacht. Die Bundesrepublik hingegen agierte forsch im Tempo und rigide bei der Durchsetzung ihrer Interessen im Ganzen. Das Wort vom deutsch-französischen Motor europäischer Integration hatte nur in den 70er Jahren ein wirtschaftspolitisches Fundament, als Präsident Giscard d’Estaing und Kanzler Helmut Schmidt regierten. Sie einigten sich unter anderem auf das Prinzip flexibler Wechselkurse als Vorläufer eines eigenständigen europäischen Währungssystems. In der Agrarpolitik jedoch beharrte Frankreich auf einer ökonomisch und ökologisch problematischen Subventionspolitik und setzte sich damit durch. Spätestens seit der Banken- und Schuldenkrise kann von einem deutsch-französischen Tandem der Integration nicht mehr die Rede sein.Im Windschatten des Maastrichter und des Lissabonner Vertrags sowie der darin festgelegten Verschuldungsvorgaben regierten Berlin und die Brüsseler EU-Zentrale direkt in die Pariser Haushaltspolitik hinein, was in Frankreich den nationalen „Souveränisten“ zu einigem Auftrieb verhalf. Deren Spektrum reichte von rechts außen über die Konservativen und die Kommunisten wie den Parti de Gauche bis in die Reihen der Sozialisten. Nachhaltig profitiert hat von der Finanz- und Integrationskrise allerdings nur der rechtspopulistische Front National (FN) unter Vater und Tochter Le Pen: Der Stimmenanteil des FN stieg kontinuierlich und lag nun in Runde eins der Regionalwahlen vom Wochenende bei knapp 30 Prozent.Dem europäischen Staatenverbund verheißt der Triumph der kategorisch europafeindlichen Partei einen herben Rückschlag, denn knapp 30 Prozent für den FN in Frankreich bedeuten mehr und anderes für die EU als der Erfolg von Konservativen und Rechtspopulisten im Baltikum, in Polen, Ungarn und Kroatien oder Dänemark und Finnland.Wenn sich Marine Le Pen 2017 für das Präsidentenamt bewirbt, kann die Wahl ausgehen wie 2002. Damals trat Jacques Chirac gegen Vater Le Pen an, weil der sozialistische Kandidat Lionel Jospin im ersten Wahlgang nur Dritter wurde und nicht ins Stechen kam, das Chirac mit 82 Prozent der Stimmen gewann. Würde Marine Le Pen tatsächlich in ein ähnlich aussichtsloses Rennen ziehen? Käme es dazu, dürfte jeder Gegenkandidat im Namen der „Rettung von Nation und Republik“ versuchen, eine große Mehrheit für sich zu gewinnen. Daraus ergäbe sich eine gefährliche Konstellation für die EU. Der Druck von rechts würde alle Parteien in eine nationalstaatliche Dynamik im Kampf gegeneinander und gegen ein vereintes Europa versetzen. Sicher bedroht der Vormarsch des FN und ähnlicher Rechtsaußen-Parteien anderswo die EU nicht direkt. Kein Land kann es sich leisten, den Staatenbund zu verlassen. Aber ein national orchestrierter Trend höhlt die EU insofern aus, als er jene Kräfte lähmt, die sich einer wirtschaftlichen und politischen Integration verschrieben haben, um einen sozialen Ausgleich zwischen Armen und Reichen zu fördern. EU-Politik könnte sich in der bloßen Verwaltung des Status quo erschöpfen.Die Relativierung des FN-Vormarschs mit dem Hinweis, dass bei einer Wahlbeteiligung von etwa 50 Prozent lediglich ein Viertel der Franzosen für den FN votiert habe, kann nur Traumtänzer beruhigen. Die Wahlabstinenz ist nicht zuletzt ein Indiz für gravierende soziale Defizite der französischen Innenpolitik; eine Schieflage, die auch der europäischen Integration schadet. Wie in anderen Ländern rekrutiert sich in Frankreich die große „Partei“ der Nichtwähler aus den sozial Ausgegrenzten, Abgehängten und Chancenlosen. Dabei werden die Nichtwähler noch verstärkt von den millionenfach in die Banlieue verbannten Einwanderern und deren Nachkommen, die auf dem Papier längst Franzosen geworden, aber Staatsbürger zweiter Klasse geblieben sind. Der Rechtspopulismus kostümiert sich zwar überall national und Fähnchen schwingend, aber im Kern zeigt er soziale Konflikte an und zehrt davon. Wer dem Front National etwas entgegensetzen will, muss dort ansetzen – in den Nationalstaaten wie in der EU. Der demonstrative militärische Schulterschluss Deutschlands mit Frankreich ist dagegen nur ein mediales Narkosemittel, das niemandem wirklich aus der Krise hilft, der EU schon gar nicht.