Die unzuverlässigsten Atomkraftwerke der Welt stehen laut offizieller Statistik der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) nicht etwa in Asien oder Russland, sondern mitten in Europa – in Belgien. An die Störfälle in den Atomkraftwerken Tihange und Doel, verbunden mit einem ständigen Hoch- und Runterfahren der Reaktoren, hat man sich fast schon gewöhnt. Und dennoch: Die vielen Störfälle erzeugen ein ständiges Gefühl der Angst, dem man besser nicht zu viel Raum gibt. Man hofft lieber, dass der Super-GAU auch die nächsten Male ausbleibt. Doch die latente Gefährdung lässt sich umso schwerer verdrängen, je kürzer die Distanz zu den maroden Meilern ist. Nicht zufällig wurde Aachen, das nur 85 km von Tihange
nge entfernt liegt, innerhalb eines Jahres zu einem neuen Zentrum des Anti-Atom-Protestes. Plakate mit der Forderung „Stop Tihange“ findet man dort überall.Die Menschen in Aachen fürchten vor allem die gefährlichen Risse in den Druckbehältern der Reaktoren – über 3.000 bis zu 18 cm lange Risse hatte man zuletzt im Herzstück von Tihange 2 entdeckt, sowie etwa 13.000 in Doel 3. Dass einer der beiden versprödeten Reaktordruckbehälter plötzlich birst, was einen Super-GAU zur Folge hätte, wird mit jedem Betriebstag wahrscheinlicher. Zumindest gibt es dafür viele Anzeichen. Der Betreiber Engie Electrabel und die belgische Atomaufsichtsbehörde FANC behaupten zwar, die Risse seien bei der Herstellung der Stahlteile entstanden, es handele sich um unbedenkliche Wasserstoffeinschlüsse, deren Größe sich nicht mehr verändere.Geschönte TestergebnisseIn den Abnahmeprotokollen der Stahlhersteller sind solche Unregelmäßigkeiten allerdings nicht vermerkt. Mit der Thematik vertraute Materialwissenschaftler halten es für wahrscheinlicher, dass sich die Risse während der Betriebszeit bildeten. In diesem Fall, so warnen sie, könnte das beanspruchte Material durch plötzliche Ausweitung auch nur eines Risses ohne Vorzeichen brechen.Auf Anweisung der FANC hat der Betreiber so genannte vergleichende Zerstörungstests durchgeführt, um die Festigkeit des Materials zu prüfen. Jörg Schellenberg vom „Aachener Aktionsbündnis gegen Atomenergie“ bezweifelt allerdings die Seriosität dieser Tests. Der geprüfte Stahl sei mit dem aus Doel und Tihange gar nicht vergleichbar, da er aus dem Jahr 2012 stamme. Nachdem die präparierte französische Materialprobe der Belastung im Test nicht standhielt, habe man kurzerhand die Versuchsparameter geändert. Man wertete die stabilere Probe aus Deutschland als repräsentativ und die aus Frankreich als Ausreißer. „Das ist völlig unseriös und verantwortungslos“, kommentiert Schellenberg. „Man kann nicht im Nachhinein ein Testergebnis schönrechnen, nur weil es einem nicht passt.“ Die Reaktorsicherheitskommission in Köln sieht das ähnlich. Sie hält die letzte Modulation des Tests für unzulässig, da die Sicherheitsmargen fehlten.In Aachen proben derweil Katastrophenschützer den atomaren Ernstfall, Nordrhein-Westfalens Innenministerium ordert im großen Stil Jodtabletten. Wie prekär die Situation in Tihange und Doel ist, erkannte im vorigen Jahr auch Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD). Im April forderte sie die belgische Regierung auf, die beiden Meiler „bis zur Klärung offener Sicherheitsfragen“ vom Netz zu nehmen. Umso unverständlicher ist, dass sich ihr Ministerium nicht veranlasst sieht, die Brennstofflieferungen aus Deutschland an die maroden Atomkraftwerke zu unterbinden. Die Forderung nach einem Exportstopp für Brennelemente aus der Atom-Fabrik in Lingen an das AKW Doel stellten Atomkraftgegner aus Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen bereits Anfang des Jahres. Auch die Urananreicherungsanlage in Gronau trage zum Weiterbetrieb der Schrottmeiler bei, kritisierten sie. Auf Grundlage ihrer Recherchen enthüllte der WDR im Frühjahr, dass dort angereichertes Uran in Tihange 2 zum Einsatz kommt. Die Proteste gegen die beiden Uranfabriken und die inkonsequente Haltung der Bundesregierung fanden im Oktober ihren Höhepunkt in einer überregionalen Demonstration in Lingen.Es macht fast den Eindruck, als versuche Hendricks, dem Thema bewusst aus dem Weg zu gehen. Die dürftigen Stellungnahmen aus ihrem Haus enthielten über Monate die immer gleiche Aussage: Es gebe keine rechtliche Handhabe, die Brennstab-Lieferungen zu unterbinden. Die Rechtsanwältin Cornelia Ziehm, die im Auftrag der atomkraftkritischen Ärzteorganisation IPPNW ein Gutachten und eine Stellungnahme verfasste, kommt zum gegenteiligen Ergebnis: Ein Stopp deutscher Kernbrennstoffe an grenznahe Risikomeiler sei nicht nur möglich, sondern nach dem Atomgesetz sogar erforderlich. Entscheidend sei, dass die Verwendung der Brennstäbe die „innere und äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland“ gefährde. Entsprechende Liefergenehmigungen durch das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle könne und müsse das weisungsbefugte Umweltministerium widerrufen und künftig verweigern. Hendricks hätte das Gutachten begrüßen und für ihr politisches Handeln nutzen können. Stattdessen wehrte sie es ab.Im September kam durch eine kleine Anfrage der Linkspartei ein weiteres brisantes Detail ans Licht: Seit Juni dieses Jahres beliefert die Brennelementefabrik Lingen nicht nur die Uraltmeiler Doel 1 und 2, sondern erstmals auch den Risse-Reaktor Doel 3. Hendricks hatte diese Exporte im April gebilligt, also im selben Monat, in dem sie ihren Appell an die belgische Regierung richtete. 13 der insgesamt 50 genehmigten Brennstab-Exporte sind bereits abgewickelt worden, die letzten rollten im Dezember von Lingen nach Doel. Etwa zeitgleich verhandelte die Ministerin in Belgien ein Atomabkommen, dessen Nutzen sie selbst in Zweifel zieht. Susanne Neubronner von Greenpeace ist davon überzeugt, dass sie mit einem Widerruf der Ausfuhrgenehmigung politisch wesentlich mehr erreicht hätte. „Hendricks muss diesen Schritt gehen“, sagt sie, „auch wenn sich die Betreiber dann einen anderen Lieferanten suchen, wäre ein Exportstopp doch ein empfindlicher Schlag gegen die belgische Atomindustrie. Außerdem wäre es ein starkes Signal. Gerade im Wahljahr muss Hendricks reinen Tisch machen und eine klare Anti-Atom-Position in Europa vertreten.“Die Regierung kuschtDie Grünen im Bundestag hatten einen Stopp des Exports an Risikomeiler in Belgien, Frankreich und der Schweiz bereits im Herbst beantragt. Am 18. Januar wurde das Thema nun im Umweltausschuss diskutiert. Bevor die Bundesregierung den Antrag ablehnte, musste sie dazu Stellung nehmen. Der Sicherheitsaspekt für Ausfuhrgenehmigungen beziehe sich nur auf eine „missbräuchliche Verwendung“ der Kernbrennstoffe und auf den militärischen Bereich, so ihr Hauptargument. Doch nichts dergleichen steht im Atomgesetz. Nur wenn man die Paragrafen aus Sicht der 50er und 60er Jahre interpretiert, könnte man vielleicht zu diesem Schluss kommen. Nach Ansicht von Sylvia Kotting-Uhl, der atompolitischen Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion, die den Antrag vorstellte, verstrickt sich die Bundesregierung in Widersprüche. „Ihre Interpretation dessen, was ,die innere und äußere Sicherheit der Bundesrepublik‘ gefährden könne, ist von vorgestern – vor Tschernobyl und Fukushima. Wenn Doel 3 keine Gefährdung der Sicherheit Deutschlands darstellt – was denn dann?!“Hubertus Zdebel, im Ausschuss Vertreter der Linken, sieht es genauso: „Der Schutz der Bevölkerung war zu jeder Zeit auch im Atomgesetz oberstes Ziel und seit Anfang der 2000er Jahre haben wir einen auch im Atomgesetz erklärten Willen, diese gefährliche Technologie zu beenden. Statt sich hinter veralteten Rechtsauffassungen zu verstecken, muss die Bundesregierung jetzt diesen Schutz der Bevölkerung durchsetzen und die Brennstoff-Lieferungen aus Deutschland an marode Reaktoren beenden.“ Indessen verbinden sich Anti-Atom-Initiativen auch grenzübergreifend zu immer stärkeren Bündnissen. Die nächste große Protestaktion wird, von belgischen Atomkraftgegnern organisiert, in Antwerpen nahe dem AKW Doel stattfinden.
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