Zum letzten Mal kann im Freitag eine Rezension von Simone Barck gelesen werden. Unvorstellbar bleibt, dass man ihr nie mehr auf einer Diskussionsveranstaltung, bei einer Lesung, der Vorführung eines Films oder im Lesesaal des Archivs der Akademie der Künste oder des Bundesarchivs begegnen wird, immer mit mehreren Taschen, in denen sie Teile des Materials, das sie gerade bearbeitete, mit sich trug. Die Literaturwissenschaftlerin Simone Barck war nicht nur eine unermüdliche Arbeiterin an den Quellen, sondern vor allem eine engagierte Teilnehmerin am literarischen Leben, dessen Verhältnis zur Geschichte und Politik sie ganz persönlich anging - auch und gerade nachdem sich der Charakter der Gesellschaft, in der sie zur öffentlich eingreifenden Wissenschaftlerin geworden war, geändert hatte.
1944 in Stolp geboren, besuchte sie in Greifswald und Rostock Schule und Universität, um nach dem Staatsexamen in Germanistik und Slawistik zunächst als Kulturreferentin der Humboldt-Universität zu arbeiten, dann im Gründungsjahr des Zentralinstituts für Literaturgeschichte (ZIL) der Akademie der Wissenschaften (AdW) der DDR, 1970, Mitarbeiterin im germanistischen Bereich zu werden. In ihrer Dissertation nutzte sie ihre - unter DDR-Germanisten nicht eben verbreitete - slawistische Kompetenz, um "Johannes R. Bechers Publizistik in der Sowjetunion 1933-1945" im Kontext der sowjetischen Debatten zu untersuchen, wodurch ein neues Licht auf die - seit 1968 in Ost und West heiß diskutierte - Brecht-Lukács-Debatte fiel.
Zugleich markierte die Dissertation den Ausgangspunkt von zwei Projekten am ZIL: Zuerst bearbeitete Simone Barck das sowjetische Exil im Rahmen des interdisziplinären Projekts "Kunst und Literatur im Exil", dessen Ergebnisse in sieben Bänden vom Leipziger Reclam-Verlag publiziert wurden und somit eine für literaturgeschichtliche Arbeiten unvergleichliche Öffentlichkeit erreichten. Gerade der von Barck mitverantwortete Band über das Exil in der SU erhielt eine zweite, im Sinne größerer Offenheit in der Thematisierung von bisherigen Tabus überarbeitete Auflage.
Noch weiter ging sie in ihrer Habilitationsschrift von 1986. Seit diesem Jahr leitete sie ein anderes ZIL-Projekt, das über die "Wende" und den Untergang der AdW der DDR zu retten ihr gelang: Das Lexikon sozialistischer Literatur. Ihre Geschichte in Deutschland bis 1945 erschien 1994 im Stuttgarter Metzler-Verlag. Sozialistische Literatur wurde hier als "ein gemeinsames Vorgehen, von dem sozialer und politischer Wandel erreicht werden sollte", gefasst, ohne dass - wie in dem Vorgänger-Lexikon von 1963 - Sozialdemokraten, Anarchisten, Opfer des Stalinismus, Trotzkisten und Renegaten unterschlagen wurden. Barcks Artikel kennzeichnet ein eindringliches Interesse an der Auseinandersetzung der sozialistischen AutorInnen mit Antisemitismus, Nationalismus und Militarismus.
Dieses Interesse prägte dann auch nach der Auflösung der DDR-Akademie seit 1992 ihre Mitarbeit am Forschungsschwerpunkt Zeithistorische Studien in Potsdam und dem daraus hervorgegangenen Zentrum für Zeithistorische Forschung. In mehreren von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekten, "Geschichte als Herrschafts-Diskurs" 1996-2000, "Sozialismus als soziale Frage" 2001-2003, schrieb sie Bücher zur Kultur- und Literaturgeschichte der DDR, die nicht nur in der akademischen Öffentlichkeit, sondern auch in Feuilletons als bahnbrechend anerkannt wurden. Insbesondere die zusammen mit Martina Langermann und Siegfried Lokatis verfasste Studie Jedes Buch ein Abenteuer von 1996, die ein Jahr nach Erscheinen eine zweite Auflage erforderte, konnte zu einer Veränderung des Blicks auf den Zusammenhang von Literatursystem und Herrschaftsstrukturen, von Zensur und Öffentlichkeiten in der DDR beitragen.
Auf eine breitere Wirkung in dieser Richtung zielten auch die mit Ausstellungen in Eisenhüttenstadt und Bitterfeld verbundenen Publikationen zum Verlag Volk und Welt (Fenster zur Welt, 2003) und zum Bitterfelder Weg (Die Höhen der Kultur erstürmen..., 2005). So charakteristisch für Simone Barck diese empirisch gesättigten und theoretisch von der Diskursanalyse geleiteten Untersuchungen sind (zu denen eine Fülle von begleitenden Forschungen zu Zeitschriften, Anthologien, Lesebüchern, Konzepten der Literaturkritik und Literaturwissenschaft in der DDR gehört), das, was sie so ansteckend umtrieb, spricht besonders eindringlich aus den Antifa-Geschichte(n). Eine literarische Spurensuche in der DDR der 1950er und 1960er Jahre aus dem Jahr 2003.
Sie liefert einen eindrucksvollen Überblick, der sowohl historisch als auch systematisch die Veränderungen in dem, was öffentlich erinnert wurde, erfasst: Opfer und Täter, Widerstand von oben und von unten. Sie stellt nicht noch einmal den Kanon dar, sondern fordert auf, vor langer Zeit oder noch nie gelesene Texte zur Kenntnis zu nehmen. Zu großen Teilen ist das Buch eine engagierte Aufwertung einzelner Autoren und Werke, aber auch eine Anmeldung von Desiderata: Barck gibt unzählige Hinweise darauf, welche Forschungslücken geschlossen werden müssten. So schrieb sie, dass der "Antifa-Diskurs in der DDR auf osmotische und zugleich diffuse Weise mit demjenigen in der BRD verbunden war und blieb".
Sie starb am 17. Juli nach 14 Tagen Krankheit mitten in der Arbeit an einem Projekt zum "heimlichen Leser" westlicher Literatur in der DDR und an der Vorbereitung einer Konferenz, die untersuchen soll, wie sich im Jahr 1960 die in der DDR veröffentlichte Erinnerung an Faschismus und Krieg zu der in der BRD verhielt. Im November werden das Institut für Germanistik der Universität Potsdam und das Zentrum für Zeithistorische Forschung diese Konferenz durchführen - zum Gedenken an Simone Barck.
Helmut Peitsch ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Potsdam.
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