Fliegendes Klassenzimmer

Shuttle-Ära Bei den Space Shuttles ging es um mehr als hübsche Fotos oder den großen Wettlauf: Columbia & Co. waren auch Fähren der Wissenschaft

Das Postflight Summary zu Experiment Nr. 8, veröffentlicht 1995 im Internet als Nasa-Publikation 14-307-1792, kam während der STS-75 nach zwölf Versuchen hinter einer schallisolierten Stellwand zu dem Ergebnis, dass ein elastischer Gurt wohl das Mittel der Wahl ist. Es sei zwar politisch riskant, überhaupt eine Empfehlung zu diesem pikanten Sujet zu formulieren, aber man empfinde es als angemessen, wenn Paare auf künftigen, mutmaßlich sehr langen Reisen in der Schwerelosigkeit Sex haben wollten.

Auch wenn dieses angebliche Paarungs-Experiment natürlich nie stattfand – der Fake-Bericht erschien sieben Jahre vor der echten Mission STS-75, die Männer transportierte – ist die Frage nach den körperlichen Möglichkeiten in der Schwerelosigkeit nicht unbedingt die dümmste – und nur eine von vielen, die vielleicht nie beantwortet werden. Denn wenn die Atlantis mit Erscheinen dieser Zeitung (hoffentlich in einem Stück) wieder auf der Erde gelandet ist, nimmt die Menschheit nicht nur Abschied von einem großen Abenteuer: vom Versuch, den Raum jenseits der Erde mit dem Space Shuttle wie im Pendelverkehr zu bereisen, Stationen im Orbit des Planeten zu errichten, von dort aus weiterzuziehen, zum Mars, irgendwann, in ferner Zukunft vielleicht noch viel, viel weiter.

Kuriose Schwerelosigkeit

Das Scheitern dieses Traums, er ist ein bisschen untergegangen in der Nostalgie, ist auch das Ende einer Forschungsära, einer lange Zeit einzigartigen Möglichkeit, außerhalb des Gravitationsfeldes der Erde, im von Strahlung durchfegten Vakuum mit freiem Blick aufs All Experimente zu unternehmen. Mit Sonden, mit Teleskopen – das komplexe und wartungsanfällige Hubble-Weltraumteleskop wäre ohne die wiederverwendbaren Shuttles schwer denkbar gewesen – mit Materalien, mit Mikroorganismen, mit Pflanzen und Tieren. Und es war nicht zuletzt die Chance, das überhaupt größte Problem der Raumfahrt endlich genauer zu untersuchen: den Menschen in der physikalisch reichlich kuriosen Lage der Schwerelosigkeit.

Mehr als 2.000 wissenschaftliche Versuche wurden an Bord der Shuttles bis heute durchgeführt, die Zahl der Publikationen geht vermutlich in die Zigtausende. Auch auf der Atlantis ging es im Rahmen der letzten Reise noch einmal um ein wissenschaftliches Experiment zu der Frage, wie sich Mikroben im Weltall verändern – dass sie es tun, hatten frühere Missionen gezeigt.

Nicht, dass die Forscher das Space Shuttle jemals wirklich geliebt hätten. Die Shuttle-Flotte war von Beginn an als Transportvehikel entworfen worden, nicht als Weltraum-Laboratorium. Die Raumgleiter sollten Astronauten und Material zu einer zeitgleich geplanten Raumstation bringen, welche zuerst strategischen Zwecken zu dienen hatte, auf der wissenschaftliche Versuche aber später sicher auch noch stattfinden konnten. Mit dem Skylab, der ersten und einzigen US-amerikanischen Station (die 1973 erst nach zwei erfolgreich gestarteten Salyut-Stationen der Russen ins All kam), war in der frühen Phase Anfang der Siebziger außerdem schon ein Kandidat für den Bestimmungsort vorhanden. Man hoffte, die Columbia als erstes Shuttle im All könne das instabile Skylab wieder auf Kurs bringen und „reboosten“.

Doch die Rechnung ging nicht auf. Das Labor rutschte 1979 endgültig aus seiner Umlaufbahn, verteilte sich in Trümmern über Australien – und während die Sowjetunion fleißig weitere Salyut-Stationen im All installierte, hing die geplante neue Station der Vereinigten Staaten den ersten Starts der Columbia weit, weit hinterher. „Als das Shuttle schließlich bereit zum Abflug war“, erinnert sich Joan Vernikos, ehemalige Leiterin der Nasa-Sektion für Life Science Research, „hatte es kein Ziel“.

Man musste neue schaffen. Viele Projekte waren sogar lange vor dem ersten Start der Columbia in Vorbereitung, nur hatten sie zunächst keine Priorität. Ideen für ein wiederverwendbares Labor etwa, das – anders als Skylab – mitsamt seiner Geräte, Versuchsanordnungen und Daten wieder auf die Erde zurückkehren konnte, gingen auf Studien von Wernher von Braun in den sechziger Jahren zurück. Ein Memorandum, das den Bau eines solchen modularen Labors für die Shuttle-Flotte vereinbarte, hatte die Nasa gemeinsam mit der Europäischen Weltraumbehörde (damals European Space Research Organization, ESRO) 1973 unterzeichnet, in dem Jahr also, in dem gerade erst das Skylab in die Erdumlaufbahn geschossen wurde.

Auf den ersten acht Missionen der Raumgleiter mussten sich die Forscher für ihre Versuche allerdings noch mit freien Eckchen auf dem Mitteldeck der Fähren begnügen. Der Biologe Joseph Cowles etwa schickte auf der dritten Shuttle-Mission einen Kasten mit Mungo-, Pinien und Hafersamen ins All, um das Wachstum der Keimlinge in der Schwerelosigkeit zu testen. Es war einer der ersten Versuche an Bord, und wie sich zeigte, wuchsen die Pflänzchen recht unbeirrt – mal davon abgesehen, dass die Wurzeln sich teils orientierungslos in der Gegend ausstreckten und die Zellwände weniger Lignin bildeten, einen Stützstoff, der die Stängel verholzt.

Forschung im Schichtbetrieb

Das Nebenbuhlerdasein hatte mit dem Start des Spacelab im Rahmen der neunten Shuttle-Mission zumindest phasenweise ein Ende. In weiten Teilen von deutschen Firmen unter Aufsicht der ESA und auf europäische Kosten gebaut, folgten insgesamt 25 Flüge, die allein oder mit Teilen des Spacelab bestückt waren. Das Raumlabor bestand aus drei Segmenten, von denen zwei – ein Tunnel und ein kurzes oder langes Hauptlabormodul mit Arbeitsbänken und Überwachungselektronik – für die Astronauten zugänglich waren. Das dritte war in der Regel eine Palette, auf der zuvor zahlreiche Apparaturen und Anordnungen installiert worden waren, die bei geöffnetem Verdeck im All Messungen im freien Raum ermöglichten. Mehr als 70 Versuche wurden innerhalb der wenigen Tage eines Flugs durchgeführt, möglich war das nur durch Schichtbetrieb.

In vielen Bereichen blieben die Experimente hinter den Erwartungen zurück, meist weil sie bei der tatsächlich erreichten Frequenz von fünf Flügen pro Jahr nicht oft genug durchgeführt wurden. Doch allein die Erforschung der sogenannten Mikrogravitation, der Schwerelosigkeit unter nicht mehr spürbarem Einfluss von extrem schwachen Kräften, brachte bis zum Millennium mehr als 1. 000 wissenschaftliche Publikationen hervor. Man zeigte, abgesehen von zahllosen Materialstudien, dass Bienen auch im Weltraum Waben bauen können, Fische aber jede Orientierung verlieren. Man fand heraus, dass die menschliche Muskelsynthese augenblicklich stoppt, sobald ein Astronaut das Weltall erreicht hat, und dass die Knochensubstanz unter diesen Bedingungen rasant schwindet. Ähnlich wie die Integrität des Nervensystem gefährdet ist, das legten Versuche an weltraumgeborenen Mäusen nahe. Und so sehr das alles nahelegt, dass lebende Organismen für Reisen im All kaum optimal gebaut sind: Nicht nur Joan Vernikos hätte „gern noch ein paar mehr Flüge“ absolviert. Denn offene Fragen gibt es noch zu viele.

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