Flora bekämpft eine Unsicherheit bei Wörtern, man kann es für einen kleinen Sprachfehler halten. Sie klaubt den Ramsch der Gegenwart auf, wenn sie sich einwandfrei ausdrücken will. Fühlt sie sich dazu nicht verpflichtet, bläht der Faulatem der Trägheit ihre Rede. Dann muss man immer schon wissen, was gemeint ist. Flora hat ihr strahlendes Wesen zur Magd gemacht. Die Magd findet keine Kasse, an der ihre Mühe entlohnt wird. Das treibt Flora um. Ihre Feststellungen verstecken stets die Frage, warum bei ihr alle Türen klemmen, wenn dahinter etwas Lukratives sein könnte. Immer ist sie in die Falschen verliebt und an den Richtigen nicht interessiert.
Natürlich hat sie viele Freunde, die sich bei ihr ausheulen und zu guten Ratschlägen s
28;gen selbst gemachte Marmelade abholen. Sie bewahrt auch ihre Erinnerungen. Sie kocht Eintöpfe für Umzüge und hält die Freiwilligen bei Laune: "Männer, gleich habt ihr es geschafft". An den tödlich erschöpften Hausfrauen vorbei, räumt sie Geschirr in neue Küchenschränke. Die Sitzengelassenen unter ihren Freunden verlassen sich auf Flora. Zwei Wochen lässt sie Krumme bei sich schlafen. Sie schläft mit ihm aus lauter Mitgefühl. Sie überwindet sich und redet mit der Frau, die Krumme abserviert hat. Sie überwacht die Auflösung des Hausstandes. Sie bringt für Krumme in Erfahrung, wie man zu einem Taxischein kommt. Dann hört sie wochenlang nichts von ihm. Flora ist unentbehrlich. Nach einem Arbeitstag im Krankenhaus hilft sie in der Weinstube. Der Wirt kann Flora allenfalls ein Taschengeld zahlen, nicht ohne die Hoffnung, dass die Freundin "Lass gut sein, ich hab mein Einkommen" sagt. In den späten Runden wird ihr Frühdienstgesicht übersehen. Die letzten Gäste scheinen an der Theke festzuwachsen. Sie haben alle Verpflichtungen des nächsten Tages so weit verschoben, dass erst mal nichts anliegt. Nichts liegt ihnen ferner, als sich zu beeilen. Jeder Aufbruch zieht Entrüstung nach sich. Immer schaut noch jemand vorbei, der allen bestens bekannt ist und heftig aufgenommen wird. Flora erkennt in allem, was zu den späten Vögeln gehört, Hochmut. Sie fühlt sich provoziert. Vom Wirt wünscht sie sich eine Entschlossenheit, die er sich nicht leisten kann. Für die Frage nach ihrer Herkunft hat sie eine Lüge parat. Ein guter Beobachter könnte sehen, wie sich Flora hinter einer auffälligen Erscheinung zurückzieht. Zugleich sucht Flora Gelegenheiten, um mit dem Wirt die Vergangenheit aufzuwühlen. Wie schade, dass er sich kaum erinnern kann an die Feste und die Eigenarten ihrer Leute. Sie war ein fettes Mädchen, das sich selbst in einen Sack steckte. In der Zwischenzeit hat sie abgenommen, aber was hilft´s? Aus der Anstrengung ist doch nur eine schlankere Hülle für das fette Mädchen entstanden. In ihrer Familie brachte einmal einer etwas Außerordentliches fertig: eine Erfindung, die den Alltag sächsischer Landwirte erleichterte. Das war vor hundert Jahren. Für das Mädchen, dem die Geschichte erzählt wurde, betraf das eine Zeit, die kaum weniger weit zurück lag als die Ära August des Starken und das Mittelalter. Damals entging der Weiler, in dem Flora zur Welt kam, einer Seuche, der die Nachbarschaft fast geschlossen zum Opfer fiel. Ihre Familie gehörte zu den sechs Familien, denen das Wunder wiederfuhr. Das Wunder machte die Männer schweigsam, und aus der Schweigsamkeit wurde eine in Verstocktheit gipfelnde Maulfaulheit. Das war ihre Religion. Nur der Schnaps bekehrte sie zur Redseligkeit. Die Abgewanderten kamen auch zu Weihnachten nicht und die Zurückgebliebenen behielten sie als Abtrünnige im Gedächtnis. Sie blieben Bauern, es sei denn, man presste sie zum Kriegsdienst. In ihrer bodenständigen Wortlosigkeit galt alles als belanglos, was nicht ihrs war. Daran ließ sich nicht rütteln. Die Kollektivierung der Landwirtschaft schuf keine neuen Maßstäbe im Wunderweiler. Man widersetzte sich nicht eigentlich, man hielt sich einfach nur für sich, mit steifem Nacken und abgewandtem Blick. Wo soll Flora anfangen, wenn sie Koller erklären will, dass einer wie er von den Wunderweiler Leuten ewig schief angesehen würde und auf fünfzig Jahre hinaus mit Aufnahme nicht rechnen könne. Für Präzedenzfälle solcher Ablehnung sorgten durchfahrende und sich ansiedelnde Künstler. Vor denen wurden die Türen verschlossen, die mussten in der Wirtschaft allein sitzen. Vor Koller hatte Flora noch nie etwas mit einem Westmann. Daraus macht sie eine große Sache. Koller liegt bei ihr und zeigt Interesse an ihren Zeugnissen. Selbst Floras Spartakiade-Siegerurkunden beweisen Gemeinschaftssinn. Jeden Sieg hätte sie verschenkt für eine reizende Erscheinung im Gruppenbild. Flora hängt Koller ihre Medaillen um, die so leicht sind wie Schokoladentaler. Sie betrachtet seine Brust. Er ertappt sich bei Fluchten in die Gedankenlosigkeit. "Ich war immer für die Männer da", sagt Flora. Sie kocht Tee, morgens um zwei, in einem Kaftan. Mit ihrem Eifer macht sie Koller gewissenlos. Sie nimmt seine auf den Steinfliesen abgekühlten Füße und zieht sie sich an die Haut. Sie kann nicht viel sagen, ohne von Sex anzufangen. Ihre Bereitschaft muss sie ständig ins Spiel bringen. Eine Nummer mit einem "Bekannten" auf der Wiese vor dem Odeon war zuerst gut und dann doch nichts Halbes und nichts Ganzes. Aus dem Bekannten wurde ein Mann, in den Flora sehr verliebt war und von dem sie sich missachtet fühlt. Eigentlich hatte sie ihm das Gesicht zerkratzen wollen. "Erzähl von Florin", sagt Flora, um Koller zusätzlich Erleichterung zu verschaffen. Sie fürchtet den Vergleich. Sie weiß, wie perfekt und reuelos die andere sich in Frankfurt aufrichtet. Die Frauen sehen sich manchmal, Florin könnte sich von Flora über Koller aufklären lassen, aber daran liegt ihr nichts.