Französisches Fantasy-Drama „Animalia“: Vorstöße in die Wildnis
Film In dem französischen Fantasy-Drama „Animalia“ fürchtet sich der Mensch vor seiner Verwandlung in etwas Tierisches. Regisseur Thomas Cailley ergründet mit dem vielschichtigen Film einen gesellschaftlichen Kippzustand
Mix aus Horror, Fantasy und Jugenddrama: Émile (Paul Kircher) und Francois (Romain Duris) auf der Suche nach Mutter und Ehefrau Lana
Foto: I. Mathie/Studiokanal
Wo das Kino der Gegenwart über die Natur nachdenkt, positioniert sich Animalia mit beachtlicher Ambivalenz. Inmitten all der apokalyptischen Endzeitfantasien, der kunterbunt fluoreszierenden Kitschbilder aus den Avatar-Filmen oder auch der zahlreichen Superhelden, die sich gern tierische Eigenschaften als Waffen und Fähigkeiten aneignen, um ihre eigene Form der Politik zu betreiben, geht es in diesem französischen Genrefilm an ganz essenzielle, offene Fragestellungen und Begriffspaare. Wildnis oder Zivilisation? Kultur oder Natur? Mensch oder Tier? Dass es in deren Zwiespältigkeit oder behaupteter Polarität weder mit reiner Verklärung und Fetischisierung des Natürlichen noch mit Beherrschungs- und Angstfantasien so einfach getan ist, erkundet Animalia in
erkundet Animalia in einem gesellschaftlichen Kippzustand.In naher Zukunft greift die Furcht vor dem Anderen um sich. Feste Kategorien und Gegensätze geraten plötzlich ins Fließen. Gleich zu Beginn spuckt ein Transporter eine monströse Gestalt in den gestauten Straßenverkehr. Ein junger Mann, halb Mensch, halb Vogel, ein gefiederter Arm, die Zehen zu ekelerregenden Fängen verschmolzen, ist außer Rand und Band. Er ist einer von vielen Infizierten einer neuen Krankheit, die Menschen nach und nach in Tiere verwandelt. Forschungseinrichtungen versuchen noch, die Metamorphosen zu verlangsamen und zu analysieren, rauben den Betroffenen zugleich ihre Freiheit. Als einige der Kreaturen entkommen und in die Wälder fliehen, reagiert die ansässige Bevölkerung mit Argwohn und Feindseligkeit.Regisseur Thomas Cailley, der auch das Drehbuch mitverfasst hat, zeigt in diesem Konflikt einmal mehr den Menschen in seinem Unbehagen, die eigenen Grenzen und das Verständnis seiner selbst permanent aushandeln und festigen zu müssen. Es beginnt bei der Art und Weise zu sprechen, sich zu bewegen, zu essen und erstreckt sich dann auf den Umgang mit der gesamten Triebhaftigkeit. Ein vermeintlich kultiviertes Subjekt zu werden, heißt Anpassung und Abrichtung, eine Unterwerfung unter die sogenannte Norm. Aber was, wenn man aus ihr herausfällt?Nicht zuletzt der Horror der Pubertät spielt in dieser Prozesshaftigkeit eine zentrale Rolle, die Cailley erkundet. Sein Protagonist, der 16-jährige Émile (Paul Kircher), wird selbst von der Krankheit infiziert. Die Wirbelsäule beginnt sich zu verformen, Haare sprießen unkontrolliert, Krallen bohren sich aus den Fingerkuppen. Als Émiles Vater François (Romain Duris) von der Verwandlung Wind bekommt, erteilt er seinem Sohn nicht nur Tipps zum gesellschaftlichen Umgang, zur Tarnung, sondern auch zur Nassrasur und Körperpflege. Beinahe gewöhnliche Szenen des Heranwachsens, wäre ihr Hintergrund nicht so bedrohlich aufgeladen.„Animalia“ testet grenzüberschreitendes Sozialverhalten ausSowohl Émile als auch François leiden unter dem Verlust der Mutter, die sich bereits in ein gefährliches Raubtier verwandelt hat und nun draußen in den Wäldern ihr Unwesen treiben soll. Nachts fahren Vater und Sohn gemeinsam die Landstraße ab, um die Verschollene herbeizurufen – vergeblich. Doch so formelhaft das Drama der zerfallenen Kernfamilie dem Film zunächst seine emotionale Schwere zu verleihen versucht, so konsequent drängt Animalia es irgendwann in den Hintergrund, um seinen Protagonisten selbst auf Erkundungstour gehen zu lassen.In der Wildnis trifft Émile auf Gleichgesinnte, staunt über die Mutanten, darunter den bereits erwähnten Vogelmann Fix (Tom Mercier), der das symbolträchtige Fliegen zu lernen versucht. Gerade in der Abgeschiedenheit weiß Animalia eine große Sensation aus dem körperlichen Grauen der unterschiedlichen Gestaltwandlungen zu ziehen, aus wuchernden Schuppen, sprießenden Federn, blutenden Wunden, wenngleich Thomas Cailleys Film verhältnismäßig zurückhaltend in seiner visuellen Drastik bleibt. Vielmehr geht es ihm um die Annäherung an einen Raum, der ein neues, grenzüberschreitendes Sozialverhalten austestet. Je öfter Émile ihn betritt, je schneller seine eigene Transformation voranschreitet, desto deutlicher handelt dieser Film von einem Erweitern der Sinne, einer neuen Wahrnehmung von Mensch, Tier und Natur, einem Öffnen gegenüber dem Fremden. Schubladendenken soll überwunden werden, gekrönt von einem finalen Akt der Solidarität und Emanzipation.Nichtsdestotrotz kann dieser Mix aus Fantasy, Jugend-Drama und Horror den Eindruck nicht verwehren, seine metaphorischen Bedeutungen rund um Diskriminierung und Stigmatisierung etwas fadenscheinig zu entfalten. Einerseits präsentiert er sich möglichst offen, vieldeutig und anknüpfungsfähig für verschiedenste soziale Krisen und Dynamiken. Zugleich ist er in seiner parabelartigen Konstruktion auch sehr schnell ausbuchstabiert. Im Gedächtnis bleibt Animalia somit weniger im Erfinden einer originellen Versuchsanordnung. Dafür ist die Filmgeschichte zu voll von ähnlichen Studien über das vermeintliche Anormale und seine Ausgrenzung. Nachhallend ist hier vielmehr die stille Tragik, mit der der verborgene Sehnsuchtsort von Animalia der Vernichtung entgegenblickt und selbst sein finales Gefühl der Freiheit und Erlösung überschattet wird.Trotz allen utopischen Potenzials: Die durchbrechende Zurück-zur-Natur-Fantasie offenbart hier gleichermaßen ihre bezaubernden wie brutalen Seiten. Sie birgt sowohl die Möglichkeit eines alternativen Miteinanders als auch die hilflose Erfahrung des Zerfalls und Ausgeliefertseins. Dann, wenn der Mensch als Naturwesen – liest man den Film einmal ganz wörtlich und losgelöst von seinen anderen Bedeutungsebenen – mit dem Verlust von Identität und der Kontrolle über den Körper konfrontiert ist. Wenn er ganz unmittelbar spürt, dass selbst die größte Empathie und Fürsorge als soziales Projekt nur auf Zeit gelingt, ehe die gemeinsame Sprache als Basis versiegt, Instinkte regieren, das Wilde, Ungezügelte die Oberhand gewinnt, und das Kreatürliche, letztlich die eigene Vergänglichkeit, der Ur-Trieb, alles mit sich reißt.Placeholder infobox-1Eingebetteter Medieninhalt
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