Mein Freund Sergej und ich stehen auf der Donnersbergerbrücke, unter uns die unzähligen Gleise des Münchner Nah- und Fernverkehrs, verstaubte DB-Diensthäuschen, verrostete Strommasten und wild wucherndes Unkraut: Ein Niemandsland mitten in der Stadt. Es ist eine der wenigen Gegenden in München, die Sergej liebt. Ich mag sie eigentlich auch.
Sie erinnert uns beide nämlich an unsere vor über zehn Jahren verlassene Heimat: Die Sowjetunion, deren Landfläche - wie die Staatspropaganda in unserer Kindheit immer stolz betonte - ein Sechstel der Erde ausmachte, ähnelte einem solchen überdimensionierten Niemandsland. Nach Rathaus-Plänen sollen die Eisenbahngleise unter die Erde verlegt und das Grundstück vom Hauptbahnhof bis Pasing mit Büro- und Miethäuser bebaut werden. Es geht schon allmählich los: Links von uns wurde vor ein paar Jahren das gläserne Mercedes-Haus gebaut - ein gigantisches Schaufensterregal, in dem reale Autos wie Spielzeuge ausgestellt sind - und rechts ein mehrstöckiger Büroturm, den man seit der Fertigstellung immer noch nicht vermieten kann. Kapitalismus pur? Sergej erinnern die Baupläne eher an Hitler-Visionen von der "Hauptstadt der Bewegung".
Alle Russen in Deutschland haben Schwierigkeiten, sich mit ihrer neuen Heimat zu identifizieren. Doch Sergejs Ablehnung deutscher Realitäten grenzt schon ans Pathologische, wie er selbst halbironisch zugibt. Es nervt ihn beinahe alles hier, besonders die deutschen Städte, und vor allem München, diese "Weltstadt mit Herz".
Schon von Berufs wegen weiß Sergej einiges über die Organisation von Lebensräumen: In der Sowjetunion arbeitete er erfolgreich als Filmarchitekt. Nachdem ihm klar wurde, dass es in Deutschland mit dem Filmgeschäft nicht weiter geht, fand er eine Marktlücke für sich - nun bemalt er die Luxus-Swimmingpools der Münchener Umgebung mit romantischen Landschaften. Trompe l´oeil, Illusions-Malerei. "Das Wichtigste dabei ist, den Raum zu vergrößern, ihm Luft und Tiefe zu geben", erklärt Sergej. Denn in der vor lauter Gemütlichkeit erstickenden Enge ihrer Städte bekämen die Deutschen Sehnsucht nach Weite.
München erinnert ihn an die Bilder De Chiricos: Alle Häuser haben dieselbe Höhe, schmale saubere Straßen verlaufen geradlinig und sämtliche Stadtlandschaften haben eine Zentralperspektive wie sonst nur in den Lehrbüchern für werdende Künstler - steril, streng, langweilig. Die Perspektive führe stets ins Nirgendwo, man wisse, was einen am Straßenende erwartet, nämlich eine ähnliche Straße, die zwar in eine andere Richtung geht, aber genau so hoffnungslos endet.
Zur Plattenbauarchitektur Russlands, die Sergej, wie wir alle, früher hasste, hat er inzwischen ein nostalgisches, beinahe romantisches Verhältnis. "Die russischen Plattenbauviertel waren schrecklich gebaut und sahen monströs aus, doch in ihrem schmutziggrauen Chaos gab es Platz für Illusionen", sagt er. Das abrupte Ende der Straße oder das trostlose Fußballfeld hinter dem Hochhaus habe ständig die Erwartung auf eine erfreuliche Begegnung oder sonst eine schöne Überraschung genährt. Die Münchener Architektur dagegen gebe den Illusionen keine Chance. Sergej träumt davon, eine sowjetische Stadtrandlandschaft mit ihren typischen Betonblöcken und den Fabrikgebäuden am Horizont auf die Wände eines Swimmingpools am Ammersee zu malen. Das wäre wahre Illusions-Malerei, sagt er, doch seine Kunden bevorzugen eher die Toscana als Motiv. Wären da nicht seine Ehefrau und seine Tochter, die sich hier bestens eingelebt haben, Sergej würde Deutschland sofort verlassen und sein deutsches Jahrzehnt wie einen Alptraum vergessen. "Ich fühle mich hier wie der Hauptverdächtige in einem nicht enden wollenden Untersuchungsverfahren", sagt er.
Es gibt soziologische Studien in Russland, die das Aufwachsen in den Hinterhöfen eines historischen Stadtzentrums mit dem in den offenen Räumen der Plattenbauviertel vergleichen. Den Kindern aus der Plattenbausiedlung fehlt es an Geborgenheit; dafür werden sie früher erwachsen. In diesen Siedlungen stehen die Hochhäuser weit auseinander und bilden keine Straßenschluchten. Nach einer früheren Bauverordnung sollte der Abstand zwischen den Blöcken mindestens zwei Haushöhen betragen - mit der Folge, dass man nun ungestört kilometerweit sehen kann. Es ist kein städtischer Raum, aber zugleich fehlt auch jede Spur von dörflicher Idylle; es handelt sich eben um ein Niemandsland, in dem einem nichts gehört, und doch die ganze Welt zu Füßen liegt.
In solchen "Schlafsiedlungen" finden die Jungs schneller zueinander als im Stadtzentrum. Wie um sich vor den kalten Winden zwischen den Hochhäusern zu schützen, tun sie sich zusammen, um zu rauchen, Karten oder Gitarre zu spielen, die ersten Sex-Erfahrungen zu sammeln und sie miteinander zu besprechen. Sie bilden Gangs, in denen sie Geborgenheit finden und verteidigen. Hinter verrosteten Garagen, die von Autobesitzern wild überall aufgestellt wurden, in Kellern, die zur Sowjetzeit oft als Luftschutzkeller gedient haben, in den Ruinen verlassener Häuser bauen sie sich ihre kleinen Welten auf, zu denen Erwachsene keinen Zutritt haben.
Die Plattenbauarchitektur ist deshalb viel mehr als nur ein bestimmter Baustil. Seit Beginn der sechziger Jahre, als Nikita Chruschtschow mit seinem gigantischen Wohnungsbauprogramm das Land überzog, prägt sie die Mentalität und bestimmt das Denken von mehreren Generationen. So ist Sergejs Plattenbau-Nostalgie nichts anderes als die Sehnsucht nach einer Art von Freiheit, die sich von der in "old Europe" unterscheidet.
Gefängnis-Folklore
Die Idee der "russischen Freiheit" wurde nicht etwa in öffentlichen Diskussionen, unabhängigen Zeitungen, im Parlament oder den Gerichtssälen formuliert: Sie wurde hinter Gittern erträumt. Die Grenzlinie zwischen Gefängnis und dem Leben außerhalb war in Russland immer schon sehr dünn. Ein altes Sprichwort bringt es auf den Punkt: Vor Bettelsack und Gefängnis kann sich keiner schützen. Weder der höchste Staatsposten, wie zur Stalin-Zeit, noch das größte Privatvermögen, wie sich gerade für Putin-Russland am Beispiel Chodorkowskij zeigte, können einem Russen die persönliche Freiheit wirklich garantieren.
Jeder von uns hat in seinem Bekanntenkreis Menschen, die im Gefängnis waren beziehungsweise sind. Am stärksten wurde mir das während meines Militärdiensts in einem 100 Kilometer von Moskau entfernten Städtchen bewusst. Alle Zivilisten, die in unserem Truppenteil angestellt waren, hatten Gefängniserfahrung. Das kam daher, dass es damals den aus der Haft Entlassenen verboten war, sich näher als 100 Kilometer von der Hauptstadt anzusiedeln; Moskau selbst sollte "sauber" bleiben. So bildete sich ein "krimineller" Gürtel um Moskau herum, in dem es wahrscheinlich mehr ehemalige Sträflinge gab als Menschen ohne Gefängniserfahrung.
Das Vordringen der Gefängniswelt in den russischen Alltag hinein verlief im 20. Jahrhundert wellenweise. Als Mitte der fünfziger Jahre Millionen von GULAG-Rückkehrern aus Fernost, Sibirien oder der Komi-Republik in die Großstädte kamen, brachten sie die Sprache, die Folklore und die Sträflingslager-Philosophie mit. Die zweite große Welle konnte man zur Jelzin-Zeit beobachten, als Kriminelle die Schwäche der Staatsgewalt zu nutzen wussten und sich im wilden Kapitalismus zu Neureichen legalisierten.
Die Gefängnis-Folklore hat das Alltagsleben, die russische Mentalität und Sprache stark geprägt. Aus jeder Ecke, aus jedem Lautsprecher erklingen heute Gefängnis-Balladen, gesungen von Männern mit tiefen verrauchten Stimmen, oft mit furchtbar kitschigen Texten und primitivsten Melodien. Das Genre wird absurder Weise "russisches Chanson" genannt, obwohl es mit dem klassischen Chanson wirklich wenig zu tun hat. Es wurde zwar erst im neuen Russland legalisiert, das heißt, öffentlich auf Bühnen und im Rundfunk gespielt, die bei allen sozialen Schichten beliebten Lieder gab es jedoch schon immer. Schon meine Freunde und ich haben als Kinder diese traurig-romantischen Balladen über Freundschaft, Freiheit, Liebe und Tod auf Parkbänken und in Hinterhöfen gesungen, begleitet von einer verstimmten Gitarre, die wir damals ständig bei uns trugen.
Die hinter Gittern erträumte russische Freiheit konnte nur eine Extremistin werden. Sie muss all das nachholen, was ihr Jahrzehnte lang verboten war. Sie kennt keine Kompromisse, sie will alles oder nichts. Nur auf den Barrikaden, nur in einer Rebellion fühlt sie sich in ihrem Element. Die Freiheit führt das Volk, das Gemälde von Eugene Delacroix, das eine bis zur Hüfte entblößte Frau zeigt mit einer Flinte in der einen und Frankreichs Fahne in der anderen Hand, war in jedem russischen Geschichtslehrbuch abgebildet. Die russische Freiheit ist ebenfalls sexy, bewaffnet und kann nur im Barrikaden-Kampf glücklich sein. Sie braucht Feinde, Wächter mit Hunden, Unterdrücker, Verfolger.
Die durch Ausbruch aus einem Gefängnis erworbene Freiheit ist ein sehr populäres Thema der russischen Folklore und wird in Dutzenden Varianten ständig wiederholt. So singt Leningrad, eine der bekanntesten Rockgruppen Russlands, von einem fliehenden Häftling, der von bewaffneten Soldaten verfolgt wird: "Böse Kugel, gib mir Freiheit, soll sofort und schmerzlos sein. Nie lebendig mich ergeben - lieber sterbe ich noch jung." Die Freiheit ist also der kurze Moment zwischen Ausbruch aus dem Gefängnis und der Kugel von hinten; sie ist der Höhepunkt des Lebens kurz vor dem Ende, sie kann nie von Dauer sein und wird stets bestraft. Man ist bereit, sie mit dem eigenen Leben zu bezahlen. Gerade das macht sie zu einem so glücklichen Seelenzustand.
Die westliche Freiheit - diese unendliche Reihe von gesellschaftlichen Kompromissen und Konventionen, von gegenseitigen Verpflichtungen und gesetzlichen Begrenzungen - kommt Russen langweilig und fade vor. Mit all ihren Formalitäten und Spielregeln scheint sie sogar das absolute Gegenteil der russischen Freiheit zu sein. Die Normalität der alltäglichen westlichen Freiheit wirkt eng und unterdrückend. Während die russische Freiheit eine Illusion im Niemandsland hinter Betonblöcken ist, erinnert die Freiheit des Westens an die Münchener Straßen mit ihren Dutzenden von Parkverbotsschildern.
Dazu noch fehlt es hier an den Extremen der Unfreiheit, die das freie Leben erst so richtig attraktiv erscheinen lassen. Deutsche Gefängnisse wirken auf Russen geradezu lächerlich, sie erinnern eher an ein Sanatorium als an ein "richtiges" Gefängnis. Ein Freund von mir träumte regelrecht davon, für ein Jahr lang hier eingesperrt zu werden, um dann in Ruhe, ohne ewige Übernachtungs- und Geldsorgen, an seinem neuen Roman arbeiten zu können. Er selbst war in einem Frauen-Straflager im berüchtigten Kolyma-Gebiet zur Welt gekommen und wusste daher einiges über Freiheitsträume hinter Gittern. So hat er mir erzählt, wie die Frauen dort sich eine Verbesserung des Haftregimes ertricksten: Die männlichen Sträflinge aus der benachbarten Baracke sammelten für sie Sperma, das sie in zugebundenen Kondomen über die käuflichen Wächter zu ihnen schickten. Damit versuchten die Frauen sich dann selbst zu befruchten, um für ein Jahr in die Schwangeren-Baracke versetzt zu werden.
Einmal schien übrigens der Gefängnis-Traum meines Freundes fast in Erfüllung zu gehen, aber in der letzten Sekunde zog er es dann doch vor, so schnell wie möglich aus Deutschland zu verschwinden, statt eingesperrt zu werden. Wie alle Russen hatte er ausgiebig die westliche Reisefreiheit genossen - bis er mit einem gefälschten Eisenbahnticket erwischt wurde.
Seine Fahrkarten-Idee war genial: Mitte der neunziger konnte man für ein paar Dollar in Russland ein leeres Ticket kaufen, auf das er dann die verrücktesten Reiserouten eintrug - aus Moskau nach Lissabon über Amsterdam, Paris und Barcelona, die Rückfahrt über Venedig, Athen und Zürich. Zwar reagierten die Kontrolleure angesichts der mit kyrillischen Buchstaben ausgefüllten Fahrkarte immer ein bisschen überrascht, doch meist stempelten sie sie brav ab, so dass sie auf den nächsten Kontrolleur bereits einen legalen Eindruck machte. Ein typisches Beispiel für "Freiheit auf russisch": Die ergaunerte Reise macht doch viel mehr Spaß und ist ein Stückchen gefährlicher.
Aus München ging mein Freund übrigens nach Paris. Er hat sich dort niedergelassen und promoviert inzwischen an der Sorbonne in Literaturwissenschaft.
Feuerspiele
Ob in den Hinterhöfen des historischen Stadtzentrums oder unter den Betonblöcken der Schlafviertel von Moskau, St. Petersburg oder Nishni Nowgorod - das Erwachsenwerden verläuft in Russland etwas anders als im Westen. Mein 18-jähriger Sohn, der jahrelang zwischen Deutschland und seiner Heimat hin- und hergerissen war, hatte Gelegenheit, die Schulen hier und dort miteinander zu vergleichen. In Deutschland hat ihn als erstes der lockere Umgang mit Drogen überrascht. In seiner russischen Klasse kifften damals nur wenige und nur selten; in München dagegen kauften seine Schulkameraden Gras und Extasy-Tabletten direkt vor dem Schuleingang. Alle konnten bereits reiche Drogenerfahrungen vorweisen, einige sogar mit harten Drogen. Natürlich gibt es auch in Russland Drogen, aber doch nicht in einem solchen Ausmaß, nicht überall, nicht bei jeder Party und nicht in jeder Disco, erklärte mir mein Sohn. Aber abgesehen davon sind die Deutschen ganz brav, fügte er verächtlich hinzu, keiner von denen weiß zum Beispiel, wie man eine Granate basteln kann.
Das ist ein wichtiger Punkt. Unter russischen Jungs ist der gekonnte Umgang mit den selbstgebastelten Sprengstoffen und Schusswaffen genau so wichtig, wie vielleicht die Kenntnisse der Dinosaurier-Arten unter amerikanischen. Mit ungefähr acht lernen sie die Bestandteile des Schießpulvers kennen, und jeder kann ein paar Jahre später bei sich in der Küche aus harmlosen Ingredienzien etwas Explodierendes herstellen. Vor 25 Jahren konnten es alle meine Schulkameraden, und die meines fünf Jahre älteren Bruders auch. Mein Sohn kennt sogar noch mehr Rezepte als wir damals - angefangen von lustigen Rauchpatronen, mit denen er und seine Freunde die Schullehrer erschreckten, bis hin zu etwas richtig Tollem, das die Fensterscheiben im Kreis von ein paar hundert Metern zum Klirren bringt. Die nötigen Materialien dafür kann man rezeptfrei in der Apotheke kaufen, behauptet er.
Die Rezepte mögen sich von Generation zu Generation unterscheiden, doch der Drang, eine möglichst laute und große Explosion auszulösen, bleibt für jede unwiderstehlich. So konnte man zur Sowjetzeit im Spielzeugladen einen wunderbaren Satz für junge Chemiker finden, eine Kiste voller Chemikalien, die sich besonders für Feuerexperimente eigneten. Oder die leicht entflammbaren Zelluloidstreifen: Als ich klein war, stieg die russische Filmindustrie gerade von Nitrat-Film auf weniger brandgefährliches Material um. Jede Schule besaß damals 16-mm-Lehrfilme, die teilweise einfach in den Mülltonnen der Schulhöfe entsorgt wurden, aus denen wir sie sofort wieder herausgraben konnten. Entweder zündeten wir die ganzen 150-Meter-Rollen an und ließen sie fliegen, so dass sie sich wie Feuerschlangen in der Luft entrollten, oder wir zerstückelten den Film, steckten ihn in kleine Tabletten-Dosen aus Aluminium und zündeten das Ganze dann an. Mein Herz schlägt immer noch schneller, wenn ich an die ausreißende Flamme und ans laut pfeifende Geräusch einer solchen Minirakete denke - die Dosen schossen in die Höhe wie Raumschiffe am Weltraumbahnhof Bajkanur.
Zu den erfolgreichsten russischen Filmen in neuester Zeit zählen Der Bruder und sein Sequel Der Bruder 2. Der Held beider Filme, Danila, ist ein junger Rückkehrer aus dem Tschetschenienkrieg, der in den Straßen von Sankt Petersburg und später im fernen Chicago für Gerechtigkeit sorgt und dafür Dutzende von Bad Guys umlegt. Er ist ein Westernheld auf russisch, seine Feinde sind ehrlose Millionäre, herzlose Banditen und "Schwarzärsche"-Kaukasier, er selbst verkörpert die russische Ehre und das russische Gewissen. Wie jeder Westernheld kann er bestens mit Waffen umgehen, doch da ihm ein Colt fehlt, muss er sich seine Waffe selbst basteln. In beiden Filmen wird lang, präzise und genussvoll gezeigt, wie sich zuhause eine Bombe oder eine Schusswaffe herstellen lassen. Aus einer Einweg-Plastikflasche macht Danila einen Schalldämpfer, aus Streichhölzern stellt er Zünder her, die Patronenhülsen füllt er mit zerstückelten Nägeln. Die Filmemacher kennen ihre Zuschauer und haben richtig vorhergesehen - das Waffenbasteln stellt beim russischen Publikum ein hervorragendes Identifikationsmittel dar.
An der rechten Hand fehlen meinem Münchener Freund Sergej drei Finger. Mit zwölf hat er wie wir alle mit Sprengstoffen experimentiert - bis eine Granate in seiner Hand explodierte. Eine typische Verletzung, russische Kinderärzte kennen sich mit solchen Wunden bestens aus. Als Kleinkind war ich auch einmal Zeuge, wie einem Jungen aus unserer Nachbarschaft das gleiche passierte. Der Schriftsteller Sergej Dowlatow brachte es in den achtziger Jahren auf den Punkt: Russische Jugendliche seien so oft Lebensgefahren ausgesetzt, dass es ihn wundere, wie sie das Erwachsenwerden überhaupt noch erleben.
Menty und Pazany
"Menty" sind Cops, Bullen, es ist eine verächtliche und ironische Abkürzung für "Milizionäre". Polizisten werden in Russland ausschließlich als "Menty" bezeichnet. Das Wort "Pazany" wiederum wird in russisch-deutschen Wörterbüchern mit "volkssprachliche Bezeichnung für Jungen" erklärt, was aber veraltet ist und nur zum Teil stimmt. Auf neurussisch werden so die "harten Jungs" benannt, im Gegensatz zu den Muttersöhnchen. Als "Pazany" bezeichneten sich auch die jungen Gangster in den wilden neunziger Jahren; nicht die Bosse, die das Staatseigentum unter sich verteilen durften, sondern diejenigen, die für ihre Interessen auf den Straßen gegen "Menty" oder miteinander kämpften. Pazany sind die Plattenbaujungs, sie stehen auf Männerfreundschaft, die Freiheit hat für sie unantastbare Priorität und Danila, die Hauptfigur von Bruder und Bruder II, ist für sie ein Idol. "Menty" sind die natürlichen Feinde der "Pazany". Sie bilden die notwendige Gegenseite, damit die "Pazany" das richtige Freiheitsgefühl auf russisch erleben können.
Die Romantik des Pazany-Daseins habe ich in meiner Jugend selbst erlebt, obwohl ich im Stadtzentrum in einer gebildeten und wohlhabenden Familie aufwuchs und bis 13 ein sehr häusliches Kind war, dessen beste Freunde Bücher über ferne Piraten und Indianer darstellten. Doch dann gab es einen Bruch, ich wollte auf die Straße, das Indianerleben sollte in der Realität ausprobiert werden. So fing ich an zu rauchen, probierte alles, was an billigem Alkohol zu kriegen war, und kannte die Texte auf den Plakaten in der Milizwache bald auswendig. Und das ganze erlebte ich mit einer Gruppe von Schulkameraden, die zu meinen besten Freunden wurden. Es war eine spannende Zeit, die zwar nur ein paar Jahre dauerte - danach kehrte ich zu meinen Bücherregalen zurück -, doch eine sehr wichtige Erfahrung, auf die ich heute auf keinen Fall verzichten möchte.
Drei Mal wurde ich allein oder mit Freunden wegen verschiedener Kleindelikte von den "Menty" festgenommen - ein Mal für das Kartenspielen auf einem Kinderspielplatz, ein Mal nach einer großen Schlägerei, an der die Jungs des ganzen Viertels beteiligt waren, und zum dritten Mal wegen Kalaschnikow-Patronen. In einer Mülltonne neben einer Kaserne hatten wir eine ganze Kiste davon gefunden, und da wir kein Maschinengewehr besaßen, fiel uns nichts Besseres ein als ein Lagerfeuer auf dem Schulhof anzuzünden und die Patronen hinein zu werfen. Schnell versteckten wir uns hinter den Bäumen, harrten drei-vier Minuten in der größten Anspannung unseres bisherigen Lebens aus - und erlebten, wie eine richtig tolle Schießerei in alle Himmelsrichtungen losging. Niemand wurde verletzt, doch leider befand sich die Milizwache sehr nah am Schulhof.
Das waren Kinderspiele, nichts wirklich Schlimmes, und die einzige Tat, für die ich vielleicht hätte bestraft werden können, wurde zum Glück nie aufgedeckt. Wir haben einmal einen Kiosk aufgebrochen und eine Kiste billigen Wein geklaut, dabei habe ich persönlich das Schloss mit einem geschickt präparierten Haarkamm geknackt. Der Wein war schlecht und schmeckte keinem von uns, doch nicht die Beute, sondern das Grenzerlebnis eines kleinen Verbrechens war das, was für uns zählte.
Zum Stehlen hatte ich damals ein klares Verhältnis. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, einer privaten Person etwas wegzunehmen, ganz zu schweigen von meinen Kameraden. Doch Staatseigentum, also herrenloses Gut zu klauen, - darin sah ich überhaupt kein Problem. Es war sogar romantisch und spannend. Und überall um uns herum lag ja Niemandsland, alles gehörte einem unpersönlichen, ungreifbaren, irgendwo weit weg von uns liegenden Staat. Ich will nicht übertreiben, aus mir ist kein richtiger Dieb geworden und außer dieser blöden Weinkiste habe ich sonst nur noch einmal in meinem Leben ein paar Pralinen in einem Selbstbedienungsladen mitgehen lassen.
Anständige Kinder
"Jedes anständige Kind", schrieb Sergej Eisenstein in seinen Memoiren, "macht dreierlei: es macht Sachen kaputt, es öffnet die Bäuche von Puppen oder auch von Uhren, um herauszukriegen, was da drin ist, und es quält Tiere." So befriedigen die guten Kinder "ihre juckende Neugier, ihre urwüchsige Grausamkeit und ihren aggressiven Selbstbehauptungsdrang." Seine Kindheit hat Eisenstein unter sehr deutschen Verhältnissen in einer großbürgerlichen Familie in Riga verbracht. Er war alles andere als ein "anständiges Kind" und hat eben keine Puppen verstümmelt, kein Geschirr zerschlagen und keine Tiere gequält. Erst später, als Filmregisseur in Sowjetrussland, holte er das alles nach. Seine "juckende Neugier" und seine "urwüchsige Grausamkeit" konnte er endlich befriedigen, indem er sie in seinen Werken losließ: "In meinen Filmen wird eine Unmenge von Leuten erschossen, werden Kinder auf der Treppe von Odessa zu Tode getreten, vom Dach geworfen, von den eigenen Eltern umgebracht oder in lodernde Feuer geworfen."
Trotz der gemeinsamen Vorliebe für den Big Mac, für lange Zungenküsse und Pop-Musik, trotz des geteilten Leidens unter Pickeln und denselben Labels auf den T-Shirts - also trotz alledem, was die Jugend in Europa grenzüberschreitend eint, unterscheidet sich das Aufwachsen im Osten und im Westen durch die Spiele und die Gefahren, mit denen die Jugend konfrontiert wird. Auch das im Grunde überall gleiche Bedürfnis, sich der Welt der Erwachsenen zu widersetzen, verläuft in Russland ein bisschen anders. "Anständige Kinder" im Westen können nur ein Mal im Jahr ihren aggressiven Selbstbehauptungsdrang mit Rauch, Feuer und lauten Explosionen befriedigen, wenn sie sich Ende Dezember mit Erlaubnis der Eltern chinesische Silvester-Knaller besorgen. "Anständige Kinder" in Russland dagegen dürfen das ganze Jahr durch in Schulhöfen und unter Betonblöcken ein Stadtguerilla-Leben führen. Wie einst die Partisanen des Zweiten Weltkrieges - diese ewige Helden des sowjetischen Films - dürfen sie immer wieder etwas anzünden, zerschlagen und in die Luft sprengen. Sergej Eisenstein warnte: Die Grausamkeit und Härte, die nicht auf Fliegen, Libellen und Frösche verwandt worden sei, suche später nach einer Befriedigung. Kaum sei einer ohne solche Erfahrungen aufgewachsen, da ziehe es ihn unwiderstehlich gerade zu dieser Art von Vergnügungen. Mein Freund Sergej fragt mich immer wieder: "Merkst du, wie leise die jungen braven Deutschen in Bussen und in der U-Bahn sind? Nur die Türken oder Jugoslawen schreien, schimpfen laut und stoßen sich gegenseitig an, wie es sich für richtige Kinder gehört. Meinst du, das ist normal? Kommt es dir nicht irgendwie verdächtig vor?"
Es ist schon über 20 Jahre her, dass ich die Schule verlassen habe. Wir alle haben das Erwachsenwerden trotz aller Gefahren überlebt. Die meisten meiner Stadtguerilla-Kameraden führen jetzt ein ganz anständiges Leben - einer von ihnen ist heute ein international anerkannter Mathematiker, ein paar sind Unternehmer geworden, einige haben sich verbeamten lassen und sind nun Staatsdiener. Außer mir haben noch zwei weitere Russland den Rücken gekehrt, sie leben in Israel. Und nur einer von uns landete im Gefängnis, was für russische Verhältnisse ja eher wenig ist. Wir sehen uns sehr selten, doch wenn wir uns ab und zu treffen, freuen wir uns sehr darüber, dass wir so eine glückliche und spannende Kindheit hatten.
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