Freitag-Telefongespräch

Wer schützt Yassir Arafat? Julia in Ramallah

Im belagerten PLO-Hauptquartier haben sich Friedensaktivisten aus vielen Ländern zu dem isolierten und von Sharon fast schon der politischen Vernichtung oder gar Tötung ausgelieferten palästinensischen Präsidenten begeben

Die Kanonenrohre aus den Panzern sind auf das Gebäude gerichtet. Yassir Arafat ist nur noch geschützt durch die Angst seiner Gegner, dass im Falle seine Todes die Lage vollkommen unberechenbar würde. Und er wird geschützt von drei Dutzend Friedensaktivisten aus Europa und den USA, die in das halbzerstörte Hauptquartier des gewählten palästinensischen Präsidenten gegangen sind. Nach einer Phase des Schweigens, das einer Zustimmung gleichkam, hat sich nun auch die US-Politik entschlossen, Israel zur Mäßigung gegenüber Arafat zu nötigen. Sophia Deeg aus München, Autorin des Freitag, und ihre Tochter Julia aus Berlin sind die einzigen Deutschen unter den freiwillig mit Arafat eingeschlossenen Gästen. Nach stundenlangen vergeblichen Versuchen, sie telefonisch zu erreichen, kommt plötzlich eine Verbindung zustande, und unter Knacken und Sekunden von Tonverlusten führen wir ein Gespräch, von der Angst getrieben, plötzlich unterbrochen zu werden.

FREITAG: Julia Deeg, sind Sie es tatsächlich?

JULIA DEEG: Ah, der Freitag! Die Medien sind seltsamer Weise fast die einzigen, denen die Telefonverbindung gelingt. Ich möchte schnell, bevor sie vielleicht abbricht, sagen: Es wäre gut, wenn die Presse öffentlich machen könnte, dass wir von den israelischen Militärs nicht mehr rausgelassen werden. Nicht nur, weil es uns schlecht geht, sondern das ist auch politisch wichtig! Die israelische Politik will ja, dass keine Beweise für ihre Taten vorliegen. Sie lassen keine Leute in die palästinensischen Städte, lassen keine Schutztruppen zu, keine Beobachter, und uns wollen sie nicht gehen lassen.

Sind die 32 Angehörigen der Friedensgruppen immer noch in dem belagerten Hauptquartier von Arafat? Wie viele davon sind Frauen?

Ja, alle sind noch da, wir können ja nicht raus. In unserer Gruppe sind wir viele Frauen, ungefähr die Hälfte, sogar mehr, an die 20. Insgesamt sind einige Hundert Friedensaktivisten in den besetzten Gebieten, in Jerusalem, Bethlehem. Hier in der Stadt Ramallah sind wir 80. Von manchen Gruppen wissen wir jedoch nicht mehr, was mit ihnen los ist, ob sie verhaftet, vielleicht tot sind.

ollen alle Friedensaktivisten das PLO-Hauptquartier jetzt wieder verlassen?

Nein, einige wollen bleiben. Auch ich persönlich möchte im Grunde trotz allem lieber bleiben, weil ich Angst habe, dass Arafats Bewacher - es sind ja keine wirklichen Soldaten, es sind Jungs, die idealistisch und naiv sind und die hier etwas verteidigen wollen, was man nicht mehr verteidigen kann, schon gar nicht mit ein paar Kalaschnikows - also, man hat Angst, dass sie, wenn man geht, hinter einem umgebracht werden.

Ihr seid nun wirklich ein Schutzschild für Arafat, den Sharon zum "Feind Israels" erklärt hat.

Seit wir hier sind, wurde auf dieses Gebäude nicht mehr geschossen. Oder kaum, nur zur Einschüchterung. Aber wenn sie uns hier wirklich etwas tun wollten, würden sie über das Gebäude fliegen und eine Bombe fallen lassen, wie sie es mit anderen Gebäuden teilweise gemacht haben.

Gibt es noch Nahrungsmittel?

Sie gehen zu Ende. Von außen kommt nichts hinzu. Die Vorräte werden aufgeteilt in immer kleinere Portionen. Und die Jungs weigern sich, das Essen zu nehmen, wenn sie denken, wir haben nicht genug. Es haben natürlich alle immer nicht genug. Doch sie sind schon viel länger hier eingesperrt. Wasser gibt es nicht mehr. Wir hatten jetzt noch einmal Wasser, weil sie wieder ihr Leben riskiert haben und in einen halbzerstörten Nachbarkomplex gegangen sind.

Über Yassir Arafat habt ihr berichtet, dass er aus seinen Räumen manchmal zu den Friedensaktivisten herunterkommt.

Heute habe ich ihn nicht gesehen. Mir ist das auch nicht so wichtig, muss ich ehrlich sagen, ich stehe ihm relativ kritisch gegenüber. Ich bin nicht hier, um ihn zu schützen, das heißt, - es geht doch um seinen Schutz, denn er ist der gewählte Präsident der Palästinenser, und bei aller Kritik an ihm ist es keine politische Lösung, ihn zu isolieren, ins Exil zu schicken oder ihn gar umzubringen. Ich denke, dass die Palästinenser einen neuen Präsidenten wählen und sich gegen Arafats verfehlte Politik wenden werden.

Würden Sie eines Ihrer Hauptargumente gegen Arafat nennen?

Meine Kritik ist, dass er zu viel an Israel weggegeben hat, zu viele Zugeständnisse gemacht hat, die den Palästinensern keine echte Grundlage für einen eigenen Staat mehr ließen. Ich denke, er ist ein Freiheitskämpfer, aber als Politiker hat er teilweise falsche Dinge in seiner Gesellschaft zugelassen, hat vielleicht persönlich motivierte Entscheidungen getroffen. Ich weiß, dass unter seiner Präsidentschaft auch Folterungen vorgekommen sind. Vielleicht überschätzt er auch die Macht der Israelis, ich weiß es nicht, ich bin nicht so politisch, bin keine Intellektuelle, ich trete für Menschenrechte ein, ich habe einen Maßstab, was richtig und was falsch ist, und es ist falsch, Menschen umzubringen.

Spürt ihr in der Isolation noch so etwas wie Optimismus?

Ich versuche mich daran festzuhalten, dass allein die Tatsache, dass wir hier sind, den Menschen sehr viel gegeben hat. Militärisch haben die Palästinenser schon immer verloren. Auch früher. Sie haben keine Panzer, keine Flugzeuge. Sie sind insgesamt in der schwächeren Position. Aber sie haben einen ungeheuren Zusammenhalt, viel Liebe und etwas, das sie immer wieder sagen lässt, sie werden nicht aufgeben.

Als wir hierher kamen mit unserer kleinen Demonstration mit erhobenen Händen und weißen Tüchern, war es so bewegend, wie die Leute, die schon Tage lang im Dunkeln hockten, aus den Türen kamen, weinten und lachten, ja, wie aufgelöst sie waren über unseren Anblick, wie sie uns immer wieder dankten. Fast wollten sie sich auf die Knie werfen. Mich trafen diese Momente noch schlimmer als alles andere, was wir sahen: dass die Menschen uns so dankbar sind, weil sich seit Jahren keiner um ihre Belange kümmert. Und dann, als wir die Panzer, die vor dem Krankenhaus aufgefahren waren, vertreiben konnten, wie aufgeregt die Leute da waren, wie sie unter Tränen gejubelt haben ...

Durch Sie beide, Mutter und Tochter, wird hierzulande die Tatsache erst bekannt, dass sich Hunderte Friedensaktivisten in die besetzten Autonomiegebiete begeben haben.

Ich weiß, wir haben damit etwas Gutes erreicht, andererseits macht es mich auch wütend, denn hier sind vorher schon viele Menschen gestorben und niemand hat es beachtet. Manchmal wird es auch aufreißerisch gehandhabt: Mutter und Tochter, die sich in die Gefahr gestürzt haben. Dann geht es nur um uns beide, und das ist das Letzte, was wir wollen.

Möchten Sie noch etwas erzählen, wonach ich jetzt nicht gefragt habe?

Von den sterbenden Menschen, die ich hier gesehen habe. Der erste Mann, den ich fotografiert habe - die Ärzte haben mich in den Saal gezogen -, ist, während ich ihn fotografierte, gestorben. Danach haben wir noch viele Tote gesehen. Und nun bedrückt mich immer wieder der Gedanke, dass ich nicht einmal weiß, wie dieser Mann hieß.

Das Gespräch führte Marina Achenbach

Drei Tage später: Die Medien melden, einige Friedensaktivisten, unter ihnen Sophia Deeg, konnten das Gebäude verlassen, als der amerikanische Unterhändler Anthony Zinni von den Israelis Zugang zu Arafat erhielt. Julia Deeg ist geblieben.

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