Gebändigt Unerfüllt

BLEIBT SCHWEBEND Hans-Ulrich Treichels neuer Roman »Tristanakkord« ist solide, aber nicht aufregend

Eitelkeit und Genialität bilden ein vortreffliches Zwiegespann. Die bedeutende Gebärde verleiht Schwingen und lässt den Genius abheben, um ihn gleich wieder auf den Boden des Alltags zurückzuholen. Der Komponist Bergmann ist ein solcher eigensinniger Genius. Wenn er arbeitet, wird die Welt zur Staffage, und der schüchterne Georg Zimmer rückt aus seinem Blickfeld, obwohl ihn Bergmann eigens angestellt hat, um seine Memoiren einem Schlusslektorat zu unterziehen.

Zu diesem Zweck reist Georg, ein Berliner Germanist, dem großen Bergmann in drei Etappen in ein schottisches Schloß auf den Hebriden, ins New Yorker Plaza-Hotel und zuletzt in sein sizilianisches Domizil nach. Doch die Arbeit verzögert sich immer wieder, weil der gedrängte Terminkalender dem Maestro kaum eine freie Minute übrig zu lassen scheint. Die Wartezeit verkürzt sich Georg, indem er die ihm fremden Orte erkundet oder, mit bescheidenem Erfolg, an eigenen Gedichten herumfeilt.

Nach dem wunderbaren Roman Der Verlorene, (Freitag 11/98) mit dem Hans-Ulrich Treichel vor eineinhalb Jahren auf sich aufmerksam gemacht hat, bezeugt Tristanakkord erneut literarisches Können wie Vielseitigkeit. Nebst Prosa umfasst Treichels Werk bisher ja auch Gedichte sowie eine Reihe von brillanten literaturwissenschaftlichen Essays. Georgs Bemühen um eine Dissertation über das Motiv des Vergessens in der Literatur läßt durchblicken, dass sein Autor Treichel dazu eine gescheite Arbeit abfassen würde.

Die Hofhaltung Bergmanns, zusammen mit seinem Intimfeind Nerlinger einer der Großen auf der zeitgenössischen Musikbühne (erinnernd an das Gespann Henze - Stockhausen), bringt Georg zum Staunen. Zugleich erfüllt es ihn mit Stolz, dass er Aufnahme findet im Kreis des Gefeierten, auch wenn er sich bloß als kleiner Statist dabei vorkommt. Schnell wechselnden Stimmungen unterworfen, gibt sich der Maestro ihm gegenüber bald leutselig und interessiert, bald zerstreut und gegenwartsvergessen. Vor allem in diesem Porträt von Bergmann gelingt es Treichel, das Paar Eitelkeit und Genialität auf ironische Weise trefflich miteinander zu verknüpfen.

Blasser dagegen wirkt die Figur Georgs. Staunend treibt er auf einem Meer der Verwirrungen, ein Meer freilich, das erstaunlich ruhig bleibt und sanft. Treichels Buch gleicht einem stillen Gewässer, dessen Oberfläche nicht von überraschenden tückischen Sturmböen und untergründigen Wirbeln aufgeraut wird und dem so, gemessen am Verlorenen, eine Ahnung von abgründiger Tiefe mangelt.

Stellvertretend demonstriert es die Nacherzählung von Georgs musikalischen Vorlieben. Nach einem quälenden Beginn auf der Blockflöte entdeckte er das rebellische Potenzial der Gitarre beziehungsweise bald schon der einfacher zu spielenden »Luftgitarre«. Doch abrupt hängt er diese an den Nagel, um sich fortan mit dem Klavier abzumühen. Freilich bleibt uns Treichel die Begründung schuldig, weshalb der eingefleischte Hendrix-Fan so widerstandslos zu Tschaikowski und Beethoven zu verführen ist.

Dergestalt kontrastiert der Eindruck der glatten Oberfläche mit der tieferen Bedeutung des titelgebenden Tristanakkords. Dieser legendäre Akkord, der Wagners Tristan und Isolde einbeschrieben ist, bezieht seinen Nimbus aus der Tatsache, dass er nach der traditionellen Harmonielehre nicht eindeutig aufzulösen ist, sondern deren Gesetze nach dem Zweideutigen, Atonalen hin überschreitet. Dergestalt markiert er nach landläufiger Ansicht nicht nur den Beginn der modernen E-Musik, sondern hebt die ewige Unerfülltheit, das Thema von Tristan und Isolde, musikalisch in seiner Unaufhebbarkeit auf.

So klar wird die Tragweite dieses Akkords in Treichels Tristanakkord freilich nicht benannt, weshalb umso schwerer wiegt, dass ihn der Roman nur andeutungsweise anklingen lässt. Seine Bedeutung bleibt schwebend offen. Übertragen auf das Buch heißt dies, dass Tristanakkord gut und solide erzählt ist, doch kein aufregendes, aufwühlendes Zeugnis unerfüllter Sehnsucht darstellt.

Hans Ulrich Treichel: Tristanakkord. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000, 238 Seiten, 38,- DM.

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Geschrieben von

Beat Mazenauer

Autor, Literaturkritiker und Netzwerker.

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