FREITAG: Wen werden Sie Ihr Projekt aufnehmen? Unterscheiden Sie zwischen "harten" und "weichen" Fällen?
KLAUS BEIER: Nein, das sicher nicht. Aber ich rechne damit, dass sich auch Leute melden, die in laufenden Ermittlungs- und Strafverfahren sind. Die kommen bei uns nicht rein, weil sie fremd motiviert sein könnten, das ist das Problem im so genannten Hellfeld. Die gesellschaftlichen Mittel fließen derzeit ausschließlich ins Hellfeld und das präventive Potenzial im Dunkelfeld bleibt ungenutzt. Es wäre demnach sinnvoll, diejenigen herauszufiltern, die im Vorfeld etwas ändern wollen.
Das heißt, Sie sprechen Männer an, die ein Problembewusstsein in Bezug auf ihre pädophile Neigung haben. Wie stellen Sie sicher, auch die potenziellen Täter zu erreichen, die eher als therapiefern gelten - also beispielsweise Männer aus benachteiligten Schichten?
Zunächst muss im Aufnahmeverfahren sichergestellt werden, dass die Patienten keine klinisch relevante Intelligenzminderung aufweisen, damit sie die therapeutischen Verarbeitungsschritte mit vollziehen können. Das ist unterhalb eines gewissen Intelligenzquotienten nicht mehr möglich. Davon abgesehen ist natürlich denkbar, dass die geplante Medienkampagne eher bei Menschen ankommt, die aufgeschlossen und gewohnt sind, sich auch mit sich selbst auseinander zu setzen. Das müssen wir in der Diskussion der Forschungsergebnisse berücksichtigen und diskutieren, ob es dadurch Verzerrungen in den Merkmalen gibt. Ein guter Effekt unseres Projekts wäre es aber schon, wenn wir zeigen könnten, dass es in dieser oder jener Schicht Ansprechpartner mit bestimmten Neigungen gibt, die therapeutischen Maßnahmen zugänglich sind. Selbstverständlich wünschen wir uns, dass auch Männer aus unteren sozialen Schichten unser Angebot annehmen.
Sie garantieren Menschen, die sich an Ihrem Projekt beteiligen, absolute Anonymität und Datenschutz, auch in Bezug auf vergangene oder - möglicherweise - absehbare sexuelle Übergriffe auf Kinder. Sehen Sie da nicht Konflikte in Bezug auf den Opferschutz?
Wir leben in einem Rechtssystem, das die Arzt-Patient-Beziehung unbedingt schützt. Im entsprechenden § 138 des Strafgesetzbuches sind die Tatbestände, die eine Anzeige fordern, definiert: Flugzeugentführung, Hochverrat, Bildung von terroristischen Vereinigungen - und natürlich auch Mord. Aber kein sexueller Missbrauch. Das ist, wenn Sie so wollen, eine rechtspolitische Lücke, die nicht wir verantworten. Kommt ein Mann in unsere Therapie, der ankündigt, er werde nächste Woche dieses oder jenes Kind entführen, missbrauchen und dann töten, müssen wir das natürlich melden. Wenn er aber sagt, ich würde diesem Kind, z.B. Marcel, gerne mal an den Penis fassen oder ähnliches, und wir zeigen das an, stehen wir selbst mit einem Bein im Knast. Wir können nicht einfach fragen, wie heißt dieser Marcel denn genau und dann weiter intervenieren. Damit berauben wir uns der Chance, diejenigen, die zu uns kommen, in die Lage zu versetzen, ihre Impulse zu kontrollieren. Diesen Konflikt müssen wir aushalten. Das ist übrigens auch ein Grund dafür, warum dieses Arbeitsfeld von anderen nicht gerne betreten wird. Man sollte sich hier aber von den Restrisiken nicht abhalten lassen und stattdessen gar nichts tun - wie das bisher der Fall war.
Würden Sie sich wünschen, dass diese rechtspolitische Lücke geschlossen wird?
Sicherheitspolitisch wäre wünschenswert, dass man therapiewillige potentielle Täter im Vorfeld erreicht, um Straftaten verhindern zu können. Dazu muss ein Betroffener sicher sein können, dass er im therapeutischen Rahmen offen sagen kann, was los ist, ohne eine Strafanzeige befürchten zu müssen. Ich kämpfe dafür, dass hierbei spezialisierte Therapeuten am Werk sind. Was zur Zeit läuft, ist organisierter Dilettantismus: Gefahrengut-Transport mit Mofa-Führerschein.
Sie arbeiten mit der Opferschutz-Organisation "Hänsel und Gretel" zusammen. Warum nicht mit einer täterkritischeren wie "Wildwasser"?
Wir haben bereits im vergangenen Jahr sämtliche Opferschutzvereinigungen Deutschlands über das Projekt informiert und zu einer Diskussionsveranstaltung eingeladen. Die einzige Opferschutzvereinigung, die auf unser Kooperationsangebot eingegangen ist, war Hänsel+Gretel. Um zu begreifen, dass therapeutische Präventionsmaßnahmen für potentielle Täter aktiver Opferschutz sind, muss man eben bereit sein, sich in das Thema offen einzudenken.
Das Gespräch führte Ulrike Baureithel
Prof. Dr. med. Dr. phil Klaus Beier ist Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker und Leiter des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin.
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